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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Jeanne, die Unvergleichbare

Horsta Krum, Berlin

 

Wie kommt es, dass das Bauernmädchen Jeanne Darc (1412 - 1431) über sechs Jahrhunderte hinweg eine beispiellose Faszination ausübt? Sie hat Dichter und Schriftsteller inspiriert, bildende Künstler und Musiker, fromme Christen und überzeugte Atheisten, Historiker und Filmproduzenten, Frauen und Männer gleichermaßen.

Sie hatte eine starke Überzeugung, wusste, was zu tun war. Gemäß dem mittelalterlichen Welt- und Menschenbild, gelangte sie zu ihrer Überzeugung durch das Vehikel der Religion: Zwei weibliche Heilige und Erzengel Michael, der Kämpfer und Sieger über den Drachen, beauftragten sie mit einer politischen und militärischen Mission, nämlich Frankreich von den Engländern zu befreien. England besaß damals Territorien in Frankreich, und der englische König Heinrich V. erhob Anspruch auf den französischen Thron.

Zunächst überzeugte sie französische Militärs; die gaben ihr eine kleine Truppe, mit der sie feindliches Territorium durchquerte und den Königshof erreichte. Dort überzeugte sie die Hofleute, dass sie den Dauphin, den Thronfolger, sprechen müsse. Den überzeugte sie, dass er nach dem Sieg über die Engländer in der Kathedrale von Reims zum König von Frankreich gesalbt werden würde.

Der Dauphin übergab das junge Mädchen an Geistliche und Adlige, die ihren Glauben feststellen sollten. Jeanne überzeugte sie während einer dreiwöchigen Prüfung. Nachdem Hofdamen auch noch ihre Jungfräulichkeit festgestellt hatten, waren alle von ihrer Glaubwürdigkeit überzeugt.

Im Kampf um die eingeschlossene Stadt Orléans ritt sie voran. Von einem Pfeil getroffen, stürzte sie vom Pferd und kämpfte weiter. Ihre Tapferkeit überzeugte und motivierte die französischen Soldaten; die Engländer und die mit ihnen verbündeten Burgunder flohen.

Sie geleitete den Dauphin nach Reims; während seiner Salbung zum König stand sie neben dem Altar und hielt die Siegesstandarte.

Sie war überzeugt, dass ihre Mission damit nicht beendet sei: jetzt sollte Paris für die französische Krone zurückerobert und die Engländer sollten vollständig vom Festland vertrieben werden. Aber der König, beeinflusst durch neidische Hofleute, zögerte angesichts dieses großartigen Planes und versagte ihr seine Unterstützung. Er entließ Teile der Armee und schloss Frieden mit dem Feind.

Durch Verrat geriet sie in die Hände der Burgunder, die ja mit England verbündet waren. Nach mehrmonatiger Gefangenschaft verkaufte der Herzog von Burgund sie für 10.000 Franken an den Herzog von Bedford, den Repräsentanten Englands auf französischem Territorium.

Während der einjährigen Gefangenschaft wurden ihr zwei Prozesse gemacht. Das erste Urteil sprach sie in zwölf Anklagepunkten für schuldig, u.a. des Aberglaubens, der Irrlehre und anderer Verbrechen gegen die göttliche Majestät – und wegen Mordes. Denn die Richter erkannten ihr als Frau den Status eines Feldherrn nicht zu, rechneten ihr also die gefallenen Soldaten als ermordet zur Last.

Jeanne wurde exkommuniziert, wollte sich aber dem Urteil der Kirche nicht unterwerfen, einzig dem Urteil Gottes. Als ihr der Tod durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen angekündigt wurde, bekannte sie sich schuldig und wurde zu lebenslanger Haft in einem kirchlichen Gefängnis verurteilt, denn es handelte sich ja um einen kirchlichen Prozess. Die politisch verantwortlichen Engländer wollten aber ein schnelles Todesurteil über eine unbußfertige Häretikerin, denn nur das würde die Position des französischen Königs beim geistlichen und weltlichen Adel ernsthaft schwächen. Überdies fürchteten sie einen Befreiungsversuch durch die Anhänger des Königs und einen neuen Feldzug – mit Jeanne als Anführerin.

Also folgte ein zweiter Prozess. Jeanne widerrief ihr Geständnis und wurde am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz von Rouen verbrannt.

Was die Engländer vermeiden wollten, geschah: Jeanne wurde als Märtyrerin verehrt, der König gestärkt; die Burgunder wandten sich von ihren englischen Verbündeten ab, so dass französische Truppen sie 1453 vollständig besiegten. 

Auf Betreiben von Jeannes Mutter eröffnete der französische König einen neuen Prozess in der Pariser Kathedrale Notre Dame. 1456 wurde Jeanne rehabilitiert. Die winzige Änderung ihres Familiennamens von »Darc« in »d'Arc« erhob sie nachträglich in den Adelsstand und machte sie hoffähig. 1920 sprach der Vatikan sie heilig.     

Ein Schicksal namenloser Frauen

Wie die alten jüdischen Propheten – ging sie zum König und sagte ihm, was zu tun sei.

Wie berühmte Militärführer – überzeugte sie durch ihre Tapferkeit.

Wie die vielen bekannten und unbekannten Märtyrerinnen – wurde sie misshandelt und getötet.

Wie andere Frauen und Mädchen – überschritt sie die Grenze, die ihnen das Patriarchat und die Kirche setzten.

Wie andere Frauen und Männer – überschritt sie die Grenze, die ihnen die Klassengesell­schaft setzte.

Jeanne war so ähnlich wie sie, aber mit niemanden von ihnen allen vergleichbar.

Männerstolz vor Königsthronen? Wie in Schillers »Don Carlos« der stolze Marquis Posa vor dem spanischen König steht und ihn mit seiner flammenden Rede berührt? Nein, Jeanne sagt nichts, als sie in der Kathedrale von Reims beim König steht, wo der hohe Adel seinen Platz hat, wo das gemeine Volk nichts zu suchen hat; und sie steht neben dem Altar, wo geweihte Priester stehen, auf keinen Fall eine Frau. Jeanne braucht keine Worte, denn die Haltung, die sie einnimmt, der Ort, an dem sie steht, sprechen eine deutliche Sprache.     

Maria, die Mutter Jesu oder »Mutter Gottes«, wie sie im Katholizismus und in der Orthodoxie heißt, ist die bekannteste Frau des Christentums. Zwei Jahrtausende hindurch, teilweise bis heute, hat die Kirche sie als vorbildliche Frau gelehrt, die kaum handelt, sondern ohne Wenn und Aber ihre Erfüllung in der Mutterschaft findet. Maria, die Demütige und gleichzeitig die Himmelskönigin, zu der normale Menschen aufblicken. [1]

Frauen, die seit dem tiefen Mittelalter bis nach der Französischen Revolution als Hexen verurteilt wurden, erhielten geistlichen Beistand mit Maria, der Trösterin. Jeanne aber stand ihnen ganz nahe, denn auch sie starb auf dem Scheiterhaufen; und, wie die meisten von ihnen, zeigte auch sie, als das Urteil erging, menschliche Schwäche, gestand, schuldig zu sein – bis sie wenige Tage später ihr Geständnis zurücknahm und dann doch als unbelehrbare Häretikerin verbrannt wurde. Dieses Schicksal erlitten vor ihr Jan Hus, nach ihr Giordano Bruno – und die vielen, vielen namenlosen Frauen.

Jeanne, Fontane und Brecht

Nicht die Heiligsprechung begründete die Faszination, die Jeanne ausübte, sondern im Gegenteil: sie wurde heilig gesprochen, weil das Bauernmädchen aus dem unscheinbaren Ort Domremy so bekannt und beliebt geworden war.

Auch unser guter alter Theodor Fontane hatte den großen Wunsch, ihr seine Ehrerbietung zu erweisen. Als Hugenotte und Mitglied der Französischen Kirche zu Berlin war er sich seiner französischen Wurzeln durchaus bewusst und war stolz auf sie. [2] 1870 war er als Kriegsberichterstatter der preußischen Armee in Frankreich unterwegs und entfernte sich bei günstiger Gelegenheit von der Truppe, um einen Ausflug nach Domremy zu machen.

»Die letzten zehn Minuten vor Einfahrt in das Dorf waren die schönsten ...« Fontane genießt die friedliche, goldene Herbstlandschaft und befindet sich in Hochstimmung, die einer bitteren Enttäuschung weicht: »Der Eindruck, trotz hellen Sonnenscheins und des weißen Anstrichs der Häuser, war ein düsterer; alles schien auf Verfall und Armut hinzudeuten.« Seine Kutsche hält vor einem rußigen Haus mit verblichenen Buchstaben: »Café de Jeanne d'Arc«. Fontane entzieht sich dem unheimlichen Eindruck, lässt sich von einer freundlichen Nonne das Geburtshaus von Jeanne zeigen und ist von dem Inneren des bescheidenen Hauses gerührt. »Alles war Poesie.«

Die Statue vor der kleinen Kapelle zeigt Jeanne kniend im Gebet, die linke Hand presst sie aufs Herz und hebt die rechte zum Himmel, »eine wohlgemeinte, aber schwache Arbeit.« Als der Betrachter das Material prüft, naht sein Verhängnis: Fontane wird verhaftet. Seine guten Französisch-Kenntnisse erhärten den Verdacht, dass er ein preußischer Spion sei.

Fontanes Liebe zum Detail, gemischt mit Humor, macht die Schilderung der umständlichen Prozedur seiner Verhaftung lesenswert. Während der folgenden Monate verlässt ihn zuweilen sein Humor, denn, von einer Instanz zur anderen transportiert, schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, wird er tatsächlich der Spionage verdächtigt.

Seine Frau Emilie alarmiert Freunde, die auf verschiedenen diplomatischen Kanälen um seine Freilassung ersuchen, bis schließlich Bismarck sich höchstpersönlich einschaltet. Über den amerikanischen Gesandten verlangt er von der französischen Regierung die Freilassung des »harmlosen Gelehrten« und droht »im Weigerungsfalle eine gewisse Anzahl von Personen in ähnlicher Lebensstellung in verschiedenen Städten Frankreichs (zu) verhaften … und ihnen dieselbe Behandlung zuteil werden (zu) lassen, die dem Dr. Fontane … beschieden ist.«

Kurz danach verhaften die Preußen drei Einwohner von Domremy als Geiseln. Ende November kann Fontane die Heimreise antreten und kommt am 5. Dezember in Berlin an. Sofort wendet er sich an die preußischen Militärbehörden, nennt ihnen den Namen eines gefangenen französischen Offiziers und bittet um dessen Freilassung, zumal »ich während meiner Gefangenschaft viel Wohlwollen von seiten unseres Feindes erfahren habe und ohne Ausnahme aufs humanste behandelt worden bin.« Der preußische Kriegsminister, der sich in Versailles aufhält, zeichnet Fontanes Brief ab mit der Bemerkung »Macht ihm alle Ehre, kann aber nicht willfahren.«

Die preußischen Offiziere, die Fontane später befragt, antworten übereinstimmend: »Bei uns wären Sie erschossen worden.« – Soweit aus Fontanes lesenswertem Bericht über seine lebensgefährliche Wallfahrt nach Domremy und seine Verehrung der Unvergleichbaren. 

Auch Bertolt Brecht ließ sich von Jeanne d'Arc inspirieren: »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« spielt Ende der zwanziger Jahre in Chicago. Beide, Jeanne und Johanna, sind von ihrer Mission überzeugt; ohne Intrigen, eher naiv, gelangen sie ins Zentrum der Macht: Jeanne an den Königshof zum Dauphin bzw. König, und Johanna an die Fleischbörse zum einflussreichen »Fleischkönig«. Jeanne, so will es die Legende, hält ihre Überzeugung durch, bis auf die Ausnahme, als sie sich schuldig bekennt, was sie dann aber korrigiert, so dass das Todesurteil vollzogen wird.

Johanna, die Wissbegierige, gewinnt ihre Überzeugung durch dreimaligen »Gang in die Tiefe«. Gepriesen wird sie als »Fürsprecherin der Armen« und »Trösterin der untersten Tiefe«. Aber als sie handeln soll, versagt sie und spricht es aus:   

          »Wieder läuft

          Die alte Welt die alte Bahn unverändert.

          Als es möglich war, sie zu verändern

          Bin ich nicht gekommen; als es nötig war

          Dass ich kleiner Mensch half, bin ich ausgeblieben.«

Als wahr erkennt sie:

          »Die aber unten sind, werden unten gehalten

          Damit die, die oben sind, oben bleiben.«

Als sie diese Wahrheit ausspricht, wird sie von vielen Stimmen übertönt, bis sie schweigt und entkräftet stirbt.

Der Handlanger des Fleischkönigs, klarsichtig skrupellos und konsequenter als der Fleischkönig selber, bezeugt Johanna seinen Respekt: »Wir wollen sie als eine Heilige aufziehen und ihr keine Achtung versagen. Im Gegenteil soll gerade, dass sie bei uns gezeigt wird, dafür zum Beweis dienen, dass die Menschlichkeit bei uns einen hohen Platz einnimmt.«

Beide, Jeanne und Johanna, waren überzeugt, dass die Welt sich ändern müsse. Sie hatten Erfolg – bis sie Spielball wurden, Instrumente der Mächtigen, und sterben mussten. Die Heiligsprechung dankt ihnen, dass »die alte Welt die alte Bahn unverändert« weiterläuft. Und zusätzlich tröstet ihre Heiligsprechung diejenigen, die nach wie vor leiden unter der unveränderten, alten Welt.

                  

Anmerkungen:

[1]  Im Gegensatz dazu legt ihr der Evangelien-Verfasser Lukas den alten Text des »Magnificat« in den Mund (wunderbar vertont von Bach), in dem Maria die Umkehrung der Verhältnisse besingt: »... Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen; die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ...« Die Amtskirchen haben sich davon kaum inspirieren lassen, wohl aber die lateinamerikanische Theologie der Befreiung.

[2]  Er und seine Frau Emilie sind auf dem Friedhof der Französischen Kirche in der Berliner Liesenstraße bestattet; die Grabstätte von Peter Hacks befindet sich gleich nebenan. – Die folgenden Zitate stammen aus den »Wanderungen durch Frankreich«, Berlin (DDR) 1970.

 

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