Georg Benjamin - ermordet am 26. August 1942
Eberhard Butter, Berlin
Meine sehr liebe Frau!
Das war nun eine böse Überraschung für Dich! Ja Liebste, Du hast ein schweres Leben mit mir und durch mich, aber versuche nun auch etwas von dem Gleichmut zu gewinnen, über den wir so oft schon gesprochen haben. Denkst Du noch an das schöne Buch von Gumpert mit den Biographien, das wir zusammen gelesen haben? – Liebe Hilde, Du musst jetzt versuchen, eine ganz selbständige Lebenserfahrung zusammen mit unserem Jungen und zusammen mit den Freunden und Verwandten, die Dir helfen werden, zu finden. Wir müssen damit rechnen, dass es sich um eine sehr langwierige Sache handelt und Du musst und sollst in Zukunft alle Entschlüsse …
[Luise Kraushaar: Deutsche Widerstandskämpfer von 1933 bis 1945, S. 115, Dietz Verlag Berlin 1970.]
Empfängerin dieses Briefes vom 16. Mai 1936 war Frau Hilde Benjamin [Hilde Benjamin (1902-1989): KPD 1927; Rechtsanwältin; Mitbegründerin des DFD der DDR; Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR; Justizministerin der DDR; Lehrtätigkeit als Professorin; Staats- und Familienrechtlerin] – Binzstraße 50, Berlin-Pankow. Er kam aus dem Konzentrationslager Columbia, Columbiastraße 1-3, Berlin SW 29.
Der Schutzhäftling 6958, Gefangenen-Kompanie 1, Georg Benjamin, war der Absender. Im Briefkopf stand die umfängliche Belehrung des Lagerkommandanten darüber, unter welch außerordentlichen Bedingungen der Schutzhaftgefangene überhaupt mit der Außenwelt postalisch in Verbindung zu treten hat, mit Ausnahme des gestatteten Empfangs "nationalsozialistischer Zeitungen".
Der im Brief erwähnte "Junge" war Michael Benjamin [Michael Benjamin (1932-2000): Politiker; Rechtswissenschaftler; Lehrtätigkeit als Professor; Mitglied der PDS; Mitglied des Parteivorstandes der PDS und des Sprecherrates der KPF der PDS.], unser "Mischa", damals vier Jahre alt. Seiner Mutter "Hilde" hatten die Faschisten im März 1933 als Rechtsanwältin wegen ihrer KPD-Mitgliedschaft Berufsverbot erteilt.
Ein letztes Schreiben aus dem KZ Mauthausen erhielt sie 1942: "Selbstmord durch Berühren der Starkstromleitung". Georg Benjamin wurde am 26. August 1942 dort ermordet. Bis dahin hatten die Faschisten den Kommunisten und Dr. med. permanent und unerbittlich verfolgt. Bereits vom April bis Dezember 1933 war er im KZ Sonnenburg [Hier waren auch Hans Litten, Erich Mühsam, Carl v. Ossietzky und Ernst Schneller inhaftiert.] inhaftiert gewesen. Man hatte ihn, wie es im herrschenden Jargon hieß, wegen seiner Tätigkeit in der KPD in "Schutzhaft" genommen. Auch ihm untersagten die Faschisten die Ausübung seines Berufes als Arzt und schlossen ihn aus der Ärztekammer aus. Am 14. Mai 1936 wurde er zusammen mit dem Instrukteur des Zentralkomitees der KPD Hanns Rothbarth [Hanns Rothbarth (1904-1944): KPD seit 1925; Leninschule der Komintern; sollte die durch Verhaftungen geschwächte Bezirksleitung Berlin-Brandenburg unterstützen; ermordet am 11. Oktober 1944 zusammen mit Ernst Schneller, Matthias Thesen und anderen] erneut festgenommen und im Oktober 1936 wegen Hochverrates zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.
Im Mai 1942, nach Verbüßung seiner Haft im Zuchthaus Brandenburg, vermerkte die Zuchthausdirektion: "Benjamin ist überzeugter Kommunist. Die verbüßte Strafe hat den Juden in keiner Weise beeinflusst." Er wurde in das KZ Mauthausen [Hier waren auch inhaftiert: Franz Dahlem, Peter Edel; Bruno Baum, Bruno Leuschner, Heinrich Rau, Hans Seigewasser, Josef Streit, Simon Wiesenthal] "überstellt".
Einige Wochen vor seiner Ermordung musste er noch Zwangsarbeit bei der Reichsbahn im "Arbeitserziehungslager Berlin-Wuhlheide" leisten. Seiner Frau gelang es, mehrfach persönlichen Kontakt mit ihm aufzunehmen. Sie berichtet darüber in ihrem Buch "Georg Benjamin":
"… Über dem Bahndamm zwischen den Wäldern hing gewittriger Mittagsdunst. Kaum sah ich noch, wie er die Mütze abnahm, über die Haare strich, die Hände dankend drückte. Der Zug verschwand im Dunst, war nicht mehr zu sehen. Ich tröstete mich: auf Mittwoch.
Doch am Mittwoch wartete ich vergebens. Es war das letzte Mal …" Auch der zehnjährige Mischa war bei diesen Treffen dabei.
Georg Benjamin wurde am 10. September 1895 als Sohn des Antiquitäten- und Kunsthändlers Emil Benjamin und dessen Frau Pauline in Berlin-Charlottenburg geboren. Sein älterer Bruder war der Schriftsteller, Philosoph, Kritiker und Übersetzer Walter Benjamin [Walter Benjamin, 1892-1940: siehe auch den Gedenkbeitrag anlässlich seines 120. Geburtstages in junge Welt vom 14./15. Juli und vom 16. Juli 2012.], seine Cousine die Lyrikerin Gertrud Kolmar [Gertrud Kolmar (Pseudonym für Gertrud Käthe Chodziesner): Lyrikerin, Dramatikerin, Schriftstellerin, 1894-1943]. Walter Benjamin wurde 1940 an der französisch-spanischen Grenze auf der Flucht vor den Faschisten in den Freitod getrieben und Gertrud Kolmar 1943 in Auschwitz ermordet.
Georg Benjamin begann 1914 in Genf Mathematik und Naturwissenschaften zu studieren und meldete sich bei Kriegsbeginn freiwillig an die Front. Als Kriegsgegner kehrte er zurück, studierte später in Marburg und Berlin Medizin und promovierte 1923 mit einem sozialhygienischen Thema zum Doktor der Medizin. Früh wandte er sich der Arbeiterbewegung zu und schloss sich 1920 der USPD und 1922 der KPD an. Er gehörte zur Leitung des Proletarischen Gesundheitsdienstes [Proletarischer Gesundheitsdienst (1921-1926). Ziel u.a.: Sozialisierung des Gesundheitswesens] und beteiligte sich an der Ausarbeitung eines Programmes zu Grundsätzen sozialistischer Gesundheitspolitik. Ebenso arbeitete er im Verein sozialistischer Ärzte [Verein sozialistischer Ärzte: Vorläufer "Sozialdemokratischer Ärzteverein" 1913 gegründet; Ziele u.a.: Sozialisierung des Gesundheitswesens, Polikliniken, Beratungsstellen, umfassende Sozialhygiene für urbane Zentren, gesunde Lebensführung. Repräsentanten: Alfred Grotjahn, Karl Kollwitz, Ernst Simmel. Der Verein vertrat aber nur einen Bruchteil der deutschen Ärzteschaft, ihr überwiegender Teil war national-konservativ] mit, der vorwiegend sozialdemokratische und kommunistische jüdische Ärzte umfasste und 1933 von den Faschisten verboten wurde. Die anderen ärztlichen Standesvertretungen protestierten nicht dagegen und zeigten sich in keiner Weise solidarisch.[Die allgemeine Verfolgung der jüdischen Ärzte ab 1933 beinhaltete: Zwangsruhestand, Ärztekammerausschluss, Aberkennung der Approbation (keinerlei Einkommen mehr),Vertreibung, Emigration (wenn finanziell möglich), Deportation, Vernichtung (25% aller deutschen jüdischen Ärzte wurden im staatlichen Auftrag ermordet)].
Die Ärzte dieses Vereins versuchten, ihre politischen Überzeugungen und Erfahrungen in berufspraktisches Handeln für eine umfassende, programmatisch fundierte Volkshygiene und Gesundheitsprophylaxe umzusetzen. Der Zusammenhang zwischen Krankheit und sozialer Lage war ja in solchen Großstädten, wie im Berliner Osten, augenscheinlich.
Im Berliner Bezirk Wedding arbeitete Dr. med. Georg Benjamin von 1926 bis 1931 als Schularzt und war von 1926 bis 1933 als Vertreter der KPD Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung dieses Stadtbezirkes. Er hielt öffentliche Vorträge zu medizinischen und sozialpolitischen Themen und publizierte in entsprechenden Fachzeitschriften, u.a. geißelte er Kinderarbeit und forderte sozialhygienische Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung. Bereits 1931 wurde er wegen seiner kritischen Haltung zu gesundheitspolitischen Fragen aus dem Staatsdienst entlassen. Danach betreute er Ferienlager von Arbeiterkindern, Kinder der Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft und erlernte die russische Sprache.
Nach seiner Haftentlassung Ende 1933 beteiligte er sich am antifaschistischen Kampf als Mitarbeiter der illegalen Bezirksleitung Berlin-Brandenburg der KPD. Er war beauftragt, Berichte über die Stimmung der Arbeiter in Großbetrieben und auf Stempelstellen zu beschaffen. Auch übersetzte er aus englischen, französischen und sowjetischen Zeitungen Artikel zur aktuellen weltpolitischen Lage, u.a. zur Volksfrontbewegung in Frankreich und Spanien, kurz vor seiner Verhaftung am 14. Mai 1936 noch einen Artikel von Georgi Dimitroff aus der Prawda.
Georg Benjamin wird in der Gedenkstätte der Sozialisten Berlin-Friedrichsfelde geehrt, und an das Haus seiner Wohnung in Berlin-Gesundbrunnen, Badstraße 40, wurde eine Tafel des Gedenkens angebracht. Eine Gedenktafel am Wohnhaus Berlin-Pankow, Binzstraße 50, wo Familie Benjamin in einer Einzimmerwohnung lebte, wurde entfernt. Straßen in Berlin, Schwerin und Plauen-Reusa tragen noch seinen Namen. Bis 1989 waren auch ein NVA-Kurheim im Harz und ein Krankenhaus in Staaken-West nach ihm benannt.
(Ursula Benjamin danke ich für ihre Unterstützung.)
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