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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Generalplan Ost« zur Versklavung osteuropäischer Völker (Auszug)

Prof. Dr. Dietrich Eichholtz, Borkheide

 

Platz und Rang des Verbrechens

Der »Generalplan Ost« gehört zur Geschichte der Menschen- und Völkervertreibung, die so alt ist wie die Menschheit selbst. Aber er eröffnete eine neue Dimension des Schreckens. Er stellte einen sorgfältig geplanten Rassen- und Völkermord dar, und das im entwickelten Industriezeitalter der Mitte des 20. Jahrhunderts. Es ging nicht wie in alten Zeiten um einen Kampf um Weide- und Jagdgründe, Vieh und Frauen, es ging auch nicht, wie in späteren Jahrhunderten, in der Zeit der Durchsetzung des Kapitalismus und Kolonialismus, etwa um den Völkermord der Spanier an den Eingeborenen in Mittel- und Südamerika und um die Ausrottung der Indianer in Nordamerika. Im »Generalplan Ost« ging es unter dem Mantel einer menschenfeindlichen, atavistischen Rassenideologie um Profit für das große Kapital und um fruchtbares Land für Großgrundbesitzer, Großbauern, Generale und unzählige kleine Verbrecher und Mitläufer. [...]

Die spezielle Vorgeschichte des »Generalplans Ost« ist ebenso deutsch wie imperialistisch und lässt sich in die Zeit des Ersten Weltkrieges und davor zurückverfolgen. Der Alldeutsche Verband sah in seiner Kriegszieldenkschrift vom September 1914 in Russisch-Polen und in Russland die »umfangreiche Vertreibung der Bevölkerung und eine Besiedlung durch deutsche Bauern« vor. Die deutschen Unternehmerverbände forderten das gleiche »zur Sicherung unserer Volksvermehrung und damit unserer militärischen Kraft«. Furchterregend war auch die sogenannte Professorendenkschrift von 1347 Intellektuellen und Industriellen vom 8. Juli 1915, in der ungeschminkt vom »Germanentum« und von der »Barbarenflut aus dem Osten« gesprochen wurde. Die Alldeutschen forderten übrigens schon 1911 (Marokko-Krise) im Westen, wenn man »endgültig mit Frankreich abrechnen« könne, Abtretungen bis zur Kanalzone (Somme-Mündung) und zum Mittelmeer (Toulon), Gebiete, die man »frei von Menschen erhalten« müsse. [...]

Sind also manche Grundgedanken des »Generalplans Ost« schon im Ersten Weltkrieg und früher gedacht und ausgesprochen worden, so fügten sich doch in ihm die verschiedensten reaktionären Tendenzen aus der Geschichte des Kapitalismus und Imperialismus auf neue Art zusammen. Erstmals verbanden sie sich hier mit barbarischem Rassismus und Antisemitismus und mit dem erklärten Ziel des Genozids, der Vernichtung ganzer Rassen und Völker. Wollte man eine möglichst knappe Definition, so könnte man ihn die extrem rassistische, genozidale Variante der imperialistischen deutschen Ostexpansion nennen. [...]

Wie auch immer die Ostexpansion nach außen begründet wurde, ob mit der »bolschewistischen Gefahr«, mit der »Sturmflut Asiens« (Heydrich) oder mit der deutschen »Raumnot« – die mörderische Ideologie der Planer war klar und wurde in internen Kreisen auch ganz offen ausgesprochen: Was wir brauchen, können wir nur mittels Gewalt, mittels Krieg bekommen. Neuen »deutschen Volksboden« erwerben wir nur, wenn wir die, die darauf sitzen, »totschlagen«. Himmler habe schon Anfang 1941 vor seinen zwölf SS-Gruppenführern erklärt, die Ausrottung von 30 Millionen Slawen werde »der Zweck des Russland-Feldzuges« sein, sagte einer der Beteiligten im Nürnberger Prozess aus (2) [1].

Praxis des »Generalplans Ost«

Es gab frühe Versuche von Historikern, den GPO als Schimäre, »Tagtraum«, monomanes Wahnsystem abzutun, als einen bloßen Plan, der nur in der Phantasie Hitlers, Himmlers, Heydrichs und der SS eine Rolle spielte und keine praktischen Auswirkungen hatte. Sie hatten damals schon den Beigeschmack der Apologie und sind durch die Forschung vollkommen überholt. [...]

Der »Generalplan Ost« war kein einzelnes Schriftstück, sondern bestand aus einer ganzen Anzahl aufeinanderfolgender Pläne (1939-1943), die nach Osten hin Schritt für Schritt fortgeschrieben wurden, im Gleichschritt mit den deutschen Eroberungen. [...]

Die große Zeit der Generalplaner kam mit dem Überfall auf die UdSSR. Noch im Jahr 1941 erblickten mehrere Ausarbeitungen das Licht der Welt, die damals noch in Konkurrenz zwischen dem Reichssicherheitshauptamt und dem Stabsamt Himmlers als »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« entstanden. Am 28. Mai 1942 erhielt Himmler die berüchtigte Denkschrift »Generalplan Ost. Rechtliche, wirtschaftliche und räumliche Grundlagen des Ostaufbaues« (10) von dem Berliner Universitätsprofessor und hohen SS-Führer Konrad Meyer (Meyer-Hetling). Er sah die Ermordung, Aushungerung und Vertreibung von 30 bis 40 Millionen Slawen und sonstigen »Untermenschen« vor – Polen, Juden, Russen, Weißrussen, Ukrainern, Sinti und Roma und natürlich »Bolschewisten« beliebiger Herkunft und Rasse. Darauf sollte die Deutschbesiedlung riesiger Ländereien des Ostens folgen, von Leningrad bis zur Ukraine, zur Krim, zum Donez- und Kubangebiet, zur Wolga und zum Kaukasus; phantasiert wurde auch vom Ural und vom Baikal-See.

Zuerst sollte also verwirklicht werden, was Hitler schon 1935 für notwendig gehalten hatte, nämlich gründlich »zu entvölkern ... Millionen einer minderwertigen, sich wie Ungeziefer vermehrenden Rasse zu beseitigen« (11). Die wichtigsten Schritte zu diesem Zweck waren in Befehlen Hitlers, der Wehrmacht und der SS ausführlich benannt worden:

  • Ermordung der Juden (über 500.000 allein durch die SS-»Einsatzgruppen«), der Kommissare der Roten Armee und aller Funktionäre des Staatsapparates und der KPdSU, Liquidierung jeglichen Widerstands und Mord an allen des Widerstand irgend Verdächtigen (von SS und Wehrmacht vom ersten Tag an in die Tat umgesetzt),
  • keine Belieferung der »Nichtschwarzerdezone« mit Lebensmitteln, das heißt ganz Belorusslands und großer Teile Nord- und Mittelrusslands als Lebensmittelzuschussgebiete. »Hierbei«, so Hermann Göring am 2. Mai 1941 (!), »werden zweifellos -zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.« (12) Rücksichtslose Ausplünderung der landwirtschaftlich fruchtbaren Gebiete (geschehen in erster Linie durch die Wehrmacht selbst),
  • »Aussiedlung« zugunsten deutscher Grundbesitzer und Geschäftsleute in deutsch zu besiedelnden Gebieten und sogenannten Marken und Siedlungsstützpunkten (begonnen und eingeleitet im annektierten Westpolen, später in Ostpolen (Zamosc, im sogenannten Schwarzmeergebiet (Südukraine und Krim), in anderen Gebieten der Ukraine, in Litauen),
  • Auslöschung der sowjetischen Großstädte, in erster Linie Leningrads und Stalingrads, als »Brutstätten des Bolschewismus« (im ganzen misslungen; Leningrad und Stalingrad verloren aber viele Hunderttausende Einwohner durch Bombardements und Aushungerung).

Die Opfer, die dieses mörderische Vorgehen in der kurzen Zeit der Okkupation kostete, gehen in die Millionen. Hinzu kommen etwa drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, die die Wehrmacht 1941/42 ungerührt in ihren Lagern verhungern und erfrieren ließ; ferner 500-600.000 Warschauerinnen und Warschauer, die im Spätherbst 1944 nach dem Warschauer Aufstand in die Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit getrieben wurden. Als Zwangsarbeiter in Deutschland und anderswo sind viele Zehntausende Hungers gestorben und an Entkräftung und Misshandlungen zugrundegegangen.

Eine barbarische Variante des GPO war die Jagd auf »eindeutschungsfähige« Kinder, die während des ganzen Krieges in den besetzten östlichen Gebieten, auch im »Protektorat Böhmen und Mähren«, »erfasst«, auf ihre »Gutrassigkeit« hin untersucht, in Lagern und Heimen untergebracht und nach Deutschland verschleppt wurden (nach polnischen Schätzungen allein 150.000 bis 200.000 polnische Kinder). Dort waren sie zur endgültigen »Eindeutschung« und Nazifizierung in »Lebensborn«heimen und bei Nazifamilien untergebracht. Sie arbeiteten aber auch oft in der Rüstungsindustrie und bedienten sogar Flakgeschütze. Noch 1944 suchten SS-Kommandos in Russland nach »eindeutschungsfähigen« Kindern, die nach den SS-Massakern elternlos und obdachlos waren (HEU-Aktion). [...]

Täter

Werfen wir abschließend einen Blick auf die eigentlichen Täter, die ausführenden Verbrecher. Die Mörder selber, die in den Einsatzgruppen der SS, in ungezählten Einheiten der Wehrmacht und an den Schaltstellen der Okkupationsbürokratie die besetzten Gebiete mit Mord und Brand überzogen, sind nur zu einem kleinen Bruchteil überhaupt einer Strafe zugeführt worden. Zu Zehntausenden sind sie untergetaucht und konnten kurze Zeit nach dem Krieg im Westen Deutschlands und anderswo ein »normales« Leben führen, meist ohne überhaupt verfolgt oder gar verurteilt zu sein.

Ich möchte nur einen besonders wichtigen und besonders bekannten Fall herausgreifen, den Fall des führenden SS-Wissenschaftlers und Experten Himmlers, der diesem die wichtigsten Fassungen des GPO ausarbeitete. Er ragte heraus aus der Zahl jener Dutzende, ja Hunderte von Geowissenschaftlern, Bevölkerungs- und Landesplanern, Rassekundlern und Eugenikern, Ethnologen und Anthropologen, Biologen und Medizinern, Wirtschaftwissenschaftlern und Historikern, die den Völkermördern Unterlagen für ihr blutiges Werk lieferten. Gerade der »Generalplan Ost« vom 28. Mai 1942 war ein Spitzenerzeugnis solcher Schreibtischmörder. Er war in der Tat, wie Miroslav Kárny schrieb, der verstorbene tschechische Historiker und Freund, ein Plan, »in dem Gelehrsamkeit steckte, eine entwickelte Technik der wissenschaftlichen Arbeit, die Erfinderkraft und der Ehrgeiz der führenden Wissenschaftler des faschistischen Deutschlands«, ein Plan, »der die verbrecherischen Phantasmagorien Hitlers und Himmlers zu einem vollendet ausgearbeiteten System führte, durchdacht bis in alle entscheidenden Details, durchgerechnet bis zur letzten Mark.« (18).

Der federführende Autor dieses Plans, der ordentliche Professor und Leiter des Instituts für Agrarwesen und Agrarpolitik der Berliner Universität Konrad Meyer, genannt Meyer-Hetling, war ein Musterexemplar solcher Wissenschaftler. Himmler machte ihn zum Leiter des »Stabshauptamts für Planung und Boden« in seinem »Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums« und zum SS-Standarten-, später SS-Oberführer (entsprach dem Rang eines Obersten). Zugleich als führender Landesplaner im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, beim »Reichsbauernführer« und im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete anerkannt, war Meyer 1942 zum obersten Entwicklungsplaner für das gesamte deutsche Herrschaftsgebiet avanciert. [...]

Weit größere, ehrgeizigere Ziele reizten ihn kaum anderthalb Jahre später in der UdSSR. Die deutsche »Raumnot«, frohlockte er damals, könne jetzt endlich mittels »neuer schöpferischer Gestaltung« großer Räume behoben werden. »Erst die Vernichtung der sowjetischen Herrschaft und die Einbeziehung weiterer östlicher Räume in den europäischen Lebensraum gibt dem Reich die volle Planungsfreiheit zurück und ermöglicht auch die Ausweisung neuer Siedlungsgebiete.« (20).

Meyer starb friedlich 1973, mit 72 Jahren, als wohlpensionierter westdeutscher Professor. Der Skandal um diesen Nazimörder begann nach dem Krieg mit seiner Rolle während der Nürnberger Nachkriegsprozesse. Er war mit anderen SS-Chargen im sogenannten Rasse- und Siedlungshauptamts-Prozess (»Fall 8«) angeklagt und wurde von dem US-Gericht nur wegen seiner SS-Mitgliedschaft geringfügig verurteilt und 1948 freigelassen. Im Urteil räumten die amerikanischen Richter zwar ein, dass er als hoher SS-Offizier und enger Mitarbeiter Himmlers »Kenntnis« von der verbrecherischen Tätigkeit der SS gehabt haben müsse. Sie bescheinigten ihm aber, dass ihm »nichts Belastendes« in puncto »Generalplan Ost« nachzuweisen sei, dass er »nichts über Evakuierungen und andere einschneidende Maßnahmen« gewusst habe – und dass dieser Plan sowieso »niemals Wirklichkeit geworden« sei (21). Tatsächlich konnte der Anklagevertreter damals noch keine hieb- und stichfesten Beweise vorlegen, da die Quellen, insbesondere der Generalplan von 1942, noch nicht entdeckt waren. Das Gericht urteilte im übrigen schon damals im Geiste des Kalten Krieges, das heißt, im Sinne der Entlastung »honoriger« NS-Verbrecher und möglicher späterer Verbündeter, und dachte gar nicht daran, polnische und sowjetische Experten als Zeugen heranzuziehen.

Die wissenschaftliche Untersuchung des »Generalplans Ost« ist inzwischen weit vorangetrieben worden. Ihre Erkenntnisse haben allerdings in Deutschland noch immer beschämend wenig öffentliche Aufmerksamkeit und Widerhall gefunden.

Mai – September 2004. Veröffentlicht in »UTOPIE kreativ«, H. 167 (September 2004), S. 800-808. Vortrag, gehalten auf der gemeinsamen Tagung von Rosa-Luxemburg-Stiftung und Christlicher Friedenskonferenz »Münchener Abkommen – Generalplan Ost – Benes-Dekrete. Ursachen für Flucht und Vertreibung in Osteuropa«, Berlin, 15. Mai 2004.

 

Anmerkung:

[1] Die Anmerkungen können unter gleicher Nummerierung hier nachgeschlagen werden: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/167eichh

 

Mehr von Dietrich Eichholtz in den »Mitteilungen«: 

2015-02: Von der Antihitlerkoalition zum Kalten Krieg

2014-06: 6. Juni 1944: »D-Day« – Invasion und Antihitlerkoalition

2013-02: Stalingrader Bilanz