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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Stalingrader Bilanz

Prof. Dr. Dietrich Eichholtz, Borkheide

 

Wenn vor einiger Zeit im Deutschen Bundestag eine Anhörung und Diskussion über NS-Geschichte stattfand, so weiß ich als Historiker und Vater mehrerer erwachsener Kinder schon recht gut, wie miserabel heute die Unterrichtung und das öffentliche Interesse an besagter Geschichte ist. Der Zweite Weltkrieg liegt jedenfalls für die Kinder - und nicht nur für die Kinder - so gut wie außerhalb ihres Gesichtskreises, ganz anders als die täglichen Erinnerungsübungen an "Mauerfall" und "doppelte Diktatur".

So ist jene welthistorische Schlacht an der Wolga bei Stalingrad 1942/43 für sie höchstens noch ein Name. Unbekannt sind regelmäßig die Ereignisse dortselbst, die uns und sie mit ihr verbinden und immer verbinden werden. In der Schlacht sollte eine deutsche Armee, eine Art Elitearmee, seit Wochen siegreich im Vormarsch des Sommers 1942 begriffen, über tausend Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, die Stadt und den Unterlauf der Wolga erobern und mit anderen Armeen den Nahen Osten und den Kaukasus aufrollen. Mitten im Angriff, nicht mehr weit vom Fluß, ja schon mitten in der Stadt, geschah der Armee etwas Unvorhergesehenes, für die sieggewohnte Hitler-Wehrmacht Unbekanntes, ihr, die bisher nur im Winter 1941 vor Moskau ein Stück zurückgeworfen worden war.

Schon seit September/Oktober 1942 kamen die Angreifer in der Stadt kaum einen Schritt mehr voran. Am 19./20. November setzte die Rote Armee im Norden und Süden über Don und Wolga und kesselte in drei Tagen die 6. Armee in Stalingrad ein: Insgesamt eine Million Mann mit 20.000 Geschützen und Mörsern und 1.560 Panzern schlossen in dichtem Nebel und Schneetreiben einen undurchdringlichen Ring um die 300.000 deutschen und rumänischen Soldaten, die danach über zehn Wochen ohne Entsatz in der Eis- und Schneewüste ausharrten, ehe sie zwischen 31. Januar und 2. Februar 1943 aufgaben, wenn nicht schon gestorben, so gezeichnet von Hunger, unversorgten Verwundungen, Erfrierungen, Krankheiten, Waffen- und Munitionsmangel und völliger Erschöpfung.

Von 300.000 Mann waren vielleicht 30.000 hauptsächlich Verwundete ausgeflogen worden, 110.000 gerieten in Gefangenschaft. Die Toten der Schlacht konnten weder vorher noch nachher alle gefunden, begraben und gezählt werden.

Stalingrad setzte dem deutschen Vormarsch in der UdSSR ein Ende. Nun begann ein Rückzug von zweieinhalb Jahren über zweitausend Kilometer bis Berlin, wie ihn die Welt noch nicht gekannt hatte. Die Schlacht bedeutete den Beginn des Untergangs der Hitler-Wehrmacht. Der deutsche Kriegsplan für 1942/43 lag zertrümmert. Sein Ziel war es gewesen, nicht nur die Wolga, Südrussland, den Kaukasus und die Herrschaft über das Schwarze Meer zu erobern, sondern vor allem selbst an das Öl von Baku und am Persischen Golf, später aber nach Indien zu kommen.

Zu einer Zeit, da die USA und Großbritannien schon als Alliierte an der Seite der UdSSR standen, aber nur erst in Nordafrika kämpften, erfocht die Rote Armee ihren großen Sieg, der das Bild des Krieges in Europa gänzlich veränderte. Das begriff man in der ganzen Welt, und erst diese Niederlage des faschistischen Deutschland machte es nicht nur Antifaschisten klar, dass der deutsche Kriegsplan als Ganzes und von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war.

Als die Westalliierten die neue Lage auswerteten, mussten sie bemerken, dass die Rote Armee diesmal eine Strategie beherrschte und anwandte, die ihr einen glänzenden Erfolg verschafft hatte, vergleichbar den berühmtesten Schlachten der Weltgeschichte. In der Regel Stalin zugeschrieben, waren der Plan der Schlacht und seine schöpferische Umsetzung in ganz anderer Weise als bisher das Werk der führenden sowjetischen Militärs und Generalstäbler, namentlich des damaligen Stellvertreters des Obersten Befehlshabers, Georgi Shukow, und des Chefs des Generalstabs, Alexander Wassilewski.

Beide waren am 12. September zur Beratung zu Stalin gerufen worden und machten ihm klar, dass in der unerhört schwierigen, tödlich gefährlichen Lage, nachdem die Deutschen in wenigen Wochen über die reiche Ukraine mitsamt dem Donezbecken hergefallen, über das Kuban-Gebiet an die Pässe des Kaukasus vorgedrungen und im Begriff waren, Stalingrad zu erobern, auch augenblickliche Verstärkungen und andere Aushilfen keinen Wandel schaffen könnten. Die Krise müsse nachhaltig gelöst werden durch eine großangelegte Gegenoffensive, mit dem Ziel, die Frontlage im Süden und damit die gesamte strategische Lage grundlegend zu ändern. Nach vorläufig grober Berechnung würden aber zwei Monate Vorbereitung erforderlich sein.

Stalin war ohne Alternative. Er ließ den Schöpfern des Plans in ungewohnter Weise freie Hand und entsprechende Befehlsgewalt. Die Vorbereitung der Aktion, die den Tarnnamen "Uranus" trug, erhielt in jeder Hinsicht Priorität. Shukow hatte sogar Vollmacht, die endgültige Zeit des Angriffs zu bestimmen. Schon die Geheimhaltung der Riesenoperation, für die drei Heeresgruppen der Roten Armee hinter Wolga und Don bereitgestellt wurden, war eine bedeutende Leistung der Kriegskunst.

Anfang vom Ende der Wehrmacht

Hitler besprach damals zur gleichen Zeit die Lage mit seinen Befehlshabern. Nach Stalingrad, so war seine Rede, müsse Astrachan am Kaspischen Meer genommen werden. Die Flanke am Don müsse man stärken; aber die Russen seien "am Ende ihrer Kraft ... Zu Gegenaktionen strategischen Ausmaßes, die uns gefährlich werden könnten, seien sie nicht mehr befähigt". Die Generale meinten, der Angriff gegen den Stadtkern von Stalingrad sei gut vorbereitet, die Stadt könne innerhalb von zehn Tagen in deutscher Hand sein. Aber gerade in diesen Tagen des September, als das Stadtzentrum und das Wolgaufer erreicht waren, ging der Kampf in einen langwierigen und blutigen Stellungskrieg von einer Härte über, "wie sie noch keine der beteiligten Truppen in diesem Kriege erlebt hat"; der Generalstabschef stellte das "allmähliche Ausbrennen" der Angriffsverbände fest (Halder, 20. 9.).

Hitler erklärte nach dem Untergang der 6. Armee großspurig, aber nicht zu Unrecht, er trage die ganze Verantwortung dafür. Tatsächlich traf auch Feldmarschall Erich v. Manstein, den zuständigen Heeresgruppenchef, die schwere Schuld, einen noch möglichen Entsatz der Armee nicht sofort und später wenigstens den Versuch ihrer Befreiung betrieben zu haben. Manstein, bis heute von gewissen Historikern hoch gelobt, verwaltete von nun an noch lange die blutigen deutschen Rückzüge im Schlepptau Hitlers.

Lügen und Propaganda

Hitler ließ Göring, seinen designierten Nachfolger, am 30. Januar 1943 die Trauerrede halten auf die "größten Heroen der deutschen Geschichte". Diesen Grabgesang konnten über Rundfunk noch viele dieser noch lebendigen "Heroen" als ihr eigenes Todesurteil abhören. Die deutsche Bevölkerung, erst mit wochenlangen Manövern getäuscht über die tatsächlichen Ereignisse in Stalingrad, war höchst besorgt über die spärlichen Nachrichten, die sie schließlich erreichten. Nach wie vor blieb sie unaufgeklärt über den Umfang des Unglücks. Der Sicherheitsdienst der SS berichtete zwar über "sehr starke Sorge und Ungewissheit" im Volk, eines der hauptsächlichen Besorgnisse bestände allerdings darin, dass man womöglich die Front am Kaukasus aufgebe, womit alle Anstrengungen des Jahres 1942 vergebens gewesen wären. (SD, 8. 2.)

Die nichtfaschistische Welt war tief bewegt von den Nachrichten aus Stalingrad. Der deutsche Widerstand griff die Niederlage als ermutigendes Signal sofort auf. Schon am 18. Februar 1943 erschien das berühmte Stalingrad-Flugblatt der Gruppe um die Geschwister Scholl.

Geschichtsschreibung heute

Die kriegsgeschichtliche Bedeutung der Stalingrader Schlacht war einzigartig. Die Einkesselung und Vernichtung einer ganzen Elitearmee, der "stärksten von allen" (Manstein), die den Zusammenbruch der gesamten deutschen Großoffensive im Süden der Ostfront und letzten Endes das Fiasko des gesamten Krieges gegen die Sowjetunion nach sich zog, wird zu den bedeutendsten militärischen Ereignissen der Weltgeschichte gezählt.

Allerdings sind heute, wie in vielen anderen Ereignissen an der deutsch-sowjetischen Front, gerade bei der Bewertung der Stalingrader Schlacht rückschrittliche Tendenzen nicht zu leugnen. Der imperialistische Charakter des Hitlerschen Krieges und besonders die deutschen Verbrechen in der UdSSR, die in den Hamburger Ausstellungen über die "Verbrechen der Wehrmacht" und in den vorangegangenen Arbeiten der sowjetischen und der DDR-Geschichtsschreibung den ihnen zustehenden Platz innehatten, stehen nicht mehr im Vordergrund neuer repräsentativer Veröffentlichungen. Die deutschen Opfer in Stalingrad sind gewiß erwähnenswert - wenn nur der Faschismus, die Generalität einschließlich des v. Manstein und die anderen Vertreter des Mordens und des Mordprofits als die Verantwortlichen benannt werden.

Eine solche Sicht wird zusehends seltener, je stärker der Drang nach Großmachtstellung und "Weltgeltung" deutsche Politik und Wissenschaft bestimmt.

Dokumentation:

Aus den täglichen Funksprüchen des Armeeoberkommandos aus Stalingrad

17. Januar 1943: Im Kessel an Straßen zahlreiche an Hunger gestorbene deutsche Soldaten.

22. Januar: Verpflegung zu Ende. Über 12 000 unversorgte Verwundete im Kessel. Welche Befehle soll ich den Truppen geben, die keine Munition mehr haben und weiter mit starker Artillerie, Panzern und Infanteriemassen angegriffen werden? Schnellste Entscheidung notwendig, da Auflösung an einzelnen Stellen schon beginnt.

26. Januar: Verteidigung engeren Stadtgebietes durch 30.000 bis 40.000 unversorgte Verwundete und Versprengte äußerst erschwert.

28. Januar: Verpflegungslage zwingt dazu, an Verwundete und Kranke keine Verpflegung mehr auszugeben, damit Kämpfer erhalten bleiben.

31. Januar: Nach Meldung zahlreicher Truppenführer ist die Widerstandskraft ihrer zusammengewürfelten Männer so am Ende, dass sie sich nach Verschuß ihrer Munition trotz schärfster Gegenmaßnahmen willenlos gefangengeben.