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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

6. Juni 1944: »D-Day« – Invasion und Antihitlerkoalition

Prof. Dr. Dietrich Eichholtz, Berlin

 

Im Frühjahr 1944 war die Rote Armee seit Stalingrad an die tausend Kilometer nach Westen vorgedrungen, hatte fast die gesamte Ukraine, den größten Teil Russlands und die Umklammerung Leningrads freigekämpft. Sie überschritt schon die rumänische und näherte sich der polnischen Grenze und hatte damit bis April ein Gebiet halb so groß wie Deutschland befreit und sämtliche Eroberungspläne der deutschen Faschisten in der UdSSR zerschlagen. Der deutsche Rückzug war auf der ganzen Linie begleitet von ungeheuren Gräueltaten, von Mord und Zerstörung.

Die Erfolge der westlichen Alliierten in Nordafrika und in Süditalien nahmen sich demgegenüber bescheiden aus, aber auch eine Viertelmillion deutscher und italienischer Gefangener und das Ausscheiden Italiens aus dem Krieg wogen in der Bilanz schwer.

Stalin hatte seit 1941/42 eine massive Entlastung der Roten Armee durch alliierte Landung in Europa gefordert. Er war aber immer wieder enttäuscht und betrogen worden. Präsident Roosevelt, Stalin und Churchill trafen sich schließlich Ende Dezember 1943 in Teheran. Roosevelt war gewillt, »Germany first«, nämlich eine angloamerikanische Großlandung (»Overlord«) in Nordwestfrankreich vorzubereiten, mit möglicher Unterstützung von Anlandungen in Südfrankreich.

Die britische Seite trat demgegenüber hartnäckig für einen offensiven Einsatz ihrer Truppen zur Beherrschung des Mittelmeerraumes ein, in der nur schlecht verhohlenen Absicht, den Invasionstermin hinauszuschieben und sich in Südosteuropa und auf dem Balkan eine Vormachtstellung gegenüber der UdSSR zu schaffen.

Stalin durchschaute das britische Manöver: »Wenn ich eine unvorsichtige Frage stellen darf, dann möchte ich gern von den Engländern erfahren, ob sie an die ›Operation Overlord‹ glauben oder nur davon reden, um die Russen zu beruhigen.« Roosevelt tadelte den Drang der Briten, die Invasion zu verzögern, was ihn erheblicher US-konservativer Kritik aussetzte, weil das Vorhaben die UdSSR bevorteile. Stalin war der Meinung, Roosevelt würde Wort halten. »Wenn nicht«, so sagte er nach der Konferenz zu Marschall Shukow, »so reichen auch unsere eigenen Kräfte, um Hitlerdeutschland zur Strecke zu bringen.«

Am Ende stand das wichtigste Ergebnis der Konferenz fest: Die angloamerikanische Invasion sollte im Laufe des Mai 1944 stattfinden. Stalin sicherte bindend zu, die Rote Armee werde in einer abgestimmten Aktion unmittelbar nach Beginn mehrere große Schläge auch von Osten her führen.

In der westalliierten Politik spielten zu dieser Zeit bereits erhebliche interne, bis heute nicht völlig offen gelegte Verbindungen deutscher, darunter offen faschistischer Kreise eine Rolle, denen vor allem daran lag, sich rechtzeitig auf die Seite des Westens zu schlagen, Staat und Wehrmacht funktionsfähig zu halten und den sowjetischen Gegner von den deutschen Grenzen fernzuhalten. Bei Churchill, der das schnelle Vordringen der Roten Armee seit geraumer Zeit argwöhnisch beobachtete und zunehmend als Vorreiter des Kalten Krieges gegen die »Rote Gefahr« auftrat, war hieran hohes Interesse vorauszusetzen.

Anfang Juni 1944 stand eine ungeheure Streitmacht in Südengland und im Kanal für den Einsatz in Frankreich bereit: 7.000 Schiffe, darunter große Landungsschiffe für Panzer und Mannschaften, Schwimmpanzer, zwei Flugzeugträger, etwa 30 Schlachtschiffe und Kreuzer, Raketenfahrzeuge für den Kampf an Land. Einsatzbereit waren 10.000 Flugzeuge. An Landetruppen waren 37 Divisionen unter Waffen, darunter vier Luftlande- und 33 Panzer- und motorisierte Divisionen. Der Invasionstermin fiel schließlich auf die Nacht und den Morgen des 6. Juni.

In wenigen Monaten des Sommers/Herbstes 1944 schlug die Antihitlerkoalition jene gewaltigen Schlachten, in denen Nazideutschland aus West- und Osteuropa vertrieben wurde. Damit verlor das Deutsche Reich nicht nur den Kernbestand seiner Wehrmacht, viele Dutzende Divisionen, sondern auch die von ihm zusammengeraubten Ressourcen, auf die es bisher gebaut hatte (Erdöl, Eisenerz, Bauxit, Mangan usw.).

Landung in Nordfrankreich

Mit Hilfe einer gewaltigen Luftüberlegenheit und des konzentrierten Feuers ihrer schweren Schiffsgeschütze eroberten die Angloamerikaner einen Landekopf auf der Halbinsel Cotentin und einen Küstenstreifen östlich bis zum wichtigen Hafen Caen. Der Ausbruch aus dem Cotentin gelang erst am 1. August 1944. Die Zerschlagung starker deutscher Kräfte im Kessel von Falaise öffnete Mitte August schließlich den Operationsraum nach Westen in Richtung Paris.

Vier entscheidende Faktoren erleichterten den Alliierten das Vorankommen:

  • die rasche Kräftevermehrung zu Lande,
  • die Luftüberlegenheit,
  • die Unterstützung hunderttausender französischer Widerstandskämpfer,
  • die Entlastung durch die abgesprochene sowjetische Großoffensive.

Hitler und die Wehrmachtführung begriffen die Lage in keiner Weise und verlangten, Paris als »Brückenkopf« zu halten und, im äußersten Fall, sie dem Feind nur vollkommen zerstört zu überlassen, nach dem Beispiel Warschaus. Paris aber war stets ein Zentrum des französischen Widerstands, und die Wehrmacht war von Anfang an nicht mehr Herr über die ganze Stadt. Die Eisenbahner streikten, die organisierte Widerstandsbewegung (Forces françaises de l’intérieur) ging zum Aufstand über (19. August). Am 24. August erreichte die französische 2. Panzerdivision im Verband der alliierten Truppen als erste die Stadt. Der deutsche Wehrmachtbefehlshaber, v. Choltitz, übergab die Stadt am 25. August und ging in französische Gefangenschaft.

Die Antwort der Roten Armee

Die gewaltige sowjetische Offensive, die, monatelang vorbereitet, am 21. Juni losbrach, entwickelte sich bis September/Oktober 1944 zur größten zusammenhängenden Schlacht des ganzen Krieges. Es handelte sich um fast ein Dutzend große Teiloffensiven, in denen die Rote Armee, die mit 130 Divisionen antrat, die Hauptkräfte des deutschen Heeres zerschlug und bis auf den sogenannten »Kurlandzipfel« das gesamte, zuvor in deutscher Hand befindliche sowjetische Territorium befreite. Noch im Spätherbst/Winter folgte die Zerschlagung der deutschen und ungarischen Truppen während der Kämpfe in Ungarn, die die Rote Armee schließlich Anfang 1945 bis nach Österreich führte.

Die Schlacht begann in Belorussland. Ende Juni wurde die Hauptstadt Minsk genommen - ein bedeutender Sieg, schon ganz in der Nähe der polnischen und litauischen Grenze. Die Deutschen zählten Verluste von über 100.000 Toten und Gefangenen. Die Heeresgruppe Mitte verlor bei ihrem Zusammenbruch bis Anfang Juli über 350.000 Mann, mehr als 1942/43 bei Stalingrad. Zwischen Brest und Kaunas öffnete sich der Roten Armee eine riesige Lücke von 400 Kilometern Breite für ihren Vormarsch nach Westen in Richtung Warschau und Ostpreußen.

In Polen fielen die früheren Grenzstädte Brest und Belostok/Białystok. An der Weichsel erkämpfte die Sowjetarmee erste Brückenköpfe (Magnuszew, Baranów, Sandomierz). Auf polnischem Boden wurden Ende Juli Lublin, Lemberg/Lwów, Stanislaw und Przemyśl befreit. Am 1. August riefen die polnische Exilregierung in London und ihre eingesickerten schwachen Truppen (»Heimatarmee«) in Warschau den Aufstand aus, ohne die östlich davon schwer kämpfende Sowjetarmee zu verständigen. Die Deutschen zogen in äußerster Eile Kräfte von mehreren starken Divisionen zusammen, die die Rote Armee von der Stadt abdrängten und in Warschau selbst ein furchtbares Blutbad anrichteten.

Erst Mitte September 1944 kam die Rote Armee wieder in Richtung Warschau voran und nahm Praga ein, den ostufrigen Teil der Stadt. Von hier aus leistete sie den Aufständischen militärische und logistische Hilfe. Doch ein Zusammengehen mit den schon untergangsgeweihten »Heimatarmee«-Kräften kam nicht zustande. Am 2. Oktober kapitulierten deren Anführer vor den Deutschen.

In das »rücksichtslose und grauenhafte Abenteuer« des Warschauer Aufstands (Stalin an Churchill) wollte und konnte das Moskauer Hauptquartier nicht eingreifen, ehe nicht die Kräfte für die bevorstehenden Kämpfe auf polnischem und deutschem Boden bereitgestellt waren. Es war anscheinend klar geworden, dass Front und Hinterland hierfür neu aufgebaut und organisiert werden mussten.

Das belastete polnisch-russisch/sowjetische Verhältnis, das seit hundert Jahren Osteuropa nicht hat zur Ruhe kommen lassen und 1944/45 als akute Störung innerhalb der Antihitlerkoalition auftrat, lässt sich allerdings nur nachvollziehen, wenn man auf der einen Seite den polnischen aggressiv-antirussisch/antisowjetischen Nationalismus und seine Abhängigkeit von westlich-alliierter Förderung erkennt, auf der anderen Seite den russischen Annexionismus, der sich 1939 auf kurze Zeit sogar mit dem Hitler-Faschismus verband.

Risse in der Antihitlerkoalition

Die Invasion eröffnete den Menschen die Gewissheit, das Kriegsende binnen Jahresfrist zu erleben, zuerst in Europa, wenig später auch auf dem asiatischen Kriegsschauplatz. Die damaligen Pläne der Antihitlerkoalition für eine Weltorganisation der Vereinten Nationen, die spätere UNO, verhießen ihnen einen Frieden für Jahrzehnte, anders als der glücklose Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg.

Aber alle Pläne und Verheißungen dieser Art erwiesen sich vor der Geschichte als trüge-risch. Solange die Waffen sprachen, hielten die drei großen Mächte zwar an ihrem Hauptziel fest: der Beseitigung der Hitlerherrschaft und des faschistischen deutschen Regimes. Sie beendeten 1945 auch den Krieg gegen Japan siegreich. Aber die brüchige Grundlage ihres Zusammenhalts wurde gerade in der Zeit ihrer größten militärischen Triumphe immer sichtbarer. Je näher die Alliierten dem deutschen Kernland und dem Kriegsende kamen, desto stärker divergierten die Auffassungen von den militärischen und politischen Kriegszielen zwischen den Beteiligten in West und Ost.

Bis zu Roosevelts Tod im April 1945 zeigte sich Winston Churchill immer offener als starrer Vertreter der europäischen Führungsmacht und als das, was er schon zu Zeiten des Ersten Weltkriegs war: ein konsequenter Feind und Verächter des Kommunismus. Das britische Weltreich mit seinen als militärischen und logistischen Hilfsquellen unverzichtbaren Dominien in aller Welt sollte - nach Londoner Vorstellungen - nach dem Sieg in neuer Stärke erstehen, sein Einfluss in Europa stärker denn je sein. Der sowjetische Vormarsch in Europa alarmierte Churchill nicht erst nach der Katastrophe des Warschauer Aufstands. Er rechnete nicht nur mit dem Mittelmeerraum und der Golfregion als künftig sicherer britischer Herrschaftssphäre, sondern steckte das Ziel seiner »Balkanstrategie« von Österreich bis ans Schwarze Meer. Den maßgeblichen Einfluss der UdSSR auf Polen, die Tschechoslowakei, Nordeuropa und Finnland lehnte er kategorisch ab und rechnete mit der westalliierten Einnahme von Berlin.

Als wichtigstes politisches Ziel taugten Churchills Nachkriegsvorstellungen damals noch nicht. Als offener Vorreiter einer antisowjetischen Strategie und des »Kalten Krieges« trat er erst im März 1946 in den USA unter dem Beifall des neuen USA-Präsidenten Harry D. Truman mit seiner berüchtigten Fulton-Rede hervor. Freilich ist sein Kampf gegen die sowjetische Befreiungspolitik in Ost- und Südosteuropa besser zu verstehen, wenn man weiß, dass sich die Faustpfänder dieser Vorstellungen seit Jahren auf britischem Boden bzw. in britischer Abhängigkeit befanden: Die polnische Exilregierung und eine polnische Armee von vielleicht 200.000 Mann, der König von Jugoslawien (Peter II.), der König von Griechenland (Georg II. nebst Kronprinz Paul), der frühere tschechoslowakische Präsident Beneš, samt Beamten und anderer Entourage. Churchill rechnete es noch auf der Potsdamer Konferenz 1945 vor, dass Großbritannien allein die Polen fünfeinhalb Jahre lang mit etwa 120 Millionen Pfund Sterling alimentiert habe (18. Juli 1945). Sie würden meist nach Polen zurückkehren, und dort müsse man ihnen »volle Freiheit und wirtschaftliche Sicherheit« garantieren.

Im Herbst 1944 bemühte sich Churchill selber in Moskau zwei Wochen lang, mit Stalin über einige der brennendsten Fragen dieser Art zu verhandeln. Stalin war derzeit nicht interessiert an Auseinandersetzungen mit den Westalliierten und schien ihm Zugeständnisse zu machen, besonders in Griechenland, in Jugoslawien und Ungarn.

Die Ostfront im Spätherbst 1944

Die Strategie der sowjetischen Oberkommandos für die letzte Kriegsperiode war, so wenig Genaues aus den Quellen darüber zu erfahren ist, nicht allzu schwer zu entschlüsseln. Die Rote Armee bereitete nach den verlustreichen, kräftezehrenden Vormärschen des bisherigen Jahres 1944 die ungeheuren Vorhaben bis zum nahen Kriegsende vor. Vordringlich blieb es, die entscheidende Offensive nach Deutschland hinein und den Kampf um Berlin vorzubereiten.

Die Gefahr deutschen Eingreifens von Norden war durch die Zernierung der deutschen Heeresgruppe Nord bis Kriegsende im Kessel der lettischen Kurland-Provinz abgewandt. Mit Finnland schloss die UdSSR Frieden. Von Rumänien aus eroberte die Rote Armee ganz Ungarn bis an die österreichische Grenze und schließlich Wien und das Wiener Becken.

 

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