Gedanken zu den Ursachen unserer Niederlage
Dr. Friedrich Wolff, Wandlitz
Egon Krenz verdanken wir viel, das wir als Hinterbliebene der DDR bitternötig gebrauchen können. Jetzt hat er in Peking und St. Petersburg Worte gefunden, die uns helfen zu verstehen, wie und warum wir in unsere gegenwärtige Situation geraten sind. Wir müssen weiter darüber nachdenken. Es gibt kein Politbüro mehr, das für uns diese Aufgabe übernimmt. Egon Krenz hält als Letzter und Einziger der ehemaligen Parteiführung den Gedanken an Sozialismus in der Öffentlichkeit wach. Er kann und will uns aber die Aufgabe nicht abnehmen, selbst nachzudenken, warum die DDR, die UdSSR und große kommunistische Parteien wie die Frankreichs und Italiens untergegangen sind bzw. an Bedeutung verloren haben und was das für die gegenwärtige Politik bedeutet.
Putin hat den Zerfall der UdSSR ein welthistorisches Ereignis genannt. Der Untergang des europäischen Sozialismus übertrifft es noch und ist wohl selbst die Voraussetzung für den Zerfall der kommunistischen Weltmacht gewesen. Ich bin sicher nicht derjenige, der nach Herkunft und Bildung eine definitive Antwort auf die Frage nach den Gründen dieses Geschehens geben kann. Doch mich beschäftigt und plagt das Warum seit nunmehr ca. 26 Jahren. Ich will das loswerden und sage deshalb, was ich denke.
Für unsere Niederlage gibt es sicher viele Ursachen. Wir waren in dem Kalten Krieg die Schwächeren und haben deswegen verloren. Doch das erklärt nicht alles. Mussten wir die Schwächeren bleiben? Und warum blieben nach Jahrzehnten marxistischer Schulung so wenig Genossen in der Partei? Schlimmer noch, welche Haltung hatten führende Genossen der KPdSU und unserer Partei nach 1989? Ich denke an das Mitglied des Politbüros der KPdSU Nasarbajew, an Schewardnadse, an Schabowski, und es gab noch andere. Ich habe den Eindruck, dass die Parteimitglieder, die schon vor 1945 Kommunisten waren, treuer waren. Das wirft Fragen nach den Grundsätzen der Kaderpolitik und dem Erfolg marxistischer Schulung auf. Die großen kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs sind bedeutungslos geworden oder ganz verschwunden. Aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wurde Die Linke. Die Beziehung zum Sozialismus wurde aus ihrem Namen gestrichen. Sie verdammt die SED, spricht kaum oder gar nicht mehr vom Sozialismus. Ihre leitenden Funktionäre sind von einem anderen Typ als Karl und Rosa. Reinhard Lauterbach behauptet, die Mitglieder des Politbüros der KPdSU hätten nicht mehr an den Sieg des Sozialismus geglaubt. [1]
In keinem europäischen sozialistischen Land Europas hat die Arbeiterklasse das sozialistische Eigentum verteidigt. Mein Eindruck ist auch, dass die Mehrzahl der Parteimitglieder der Linken nicht aus der Arbeiterklasse kommt. Wir haben Janka, Harich und Bahro zu hohen Strafen verurteilt und nach 1989 verteidigten sie die DDR, wurden teilweise auch wieder Mitglieder der SED. Müssen wir daraus nicht Schlussfolgerungen ziehen?
Andererseits: Der Kapitalismus erlebt eine langanhaltende Krise. In Kontinentaleuropa gewinnen rechte Parteien an Bedeutung, linke nicht. Anders nur bei Labour in England und bei Sanders in den USA. Müssen wir nicht auch darüber grübeln?
Wenn wir weiter Sozialismus wollen, müssen wir die Ursachen unseres Scheiterns erkennen. Sie müssen tiefer liegen, anders sind Umfang und Tiefe der Krise nicht zu erklären.
Ich vermute, wir sind hinter der Zeit zurückgeblieben. Seit unsere Klassiker lebten, hat es drei industrielle Revolutionen gegeben und eine vierte wird erwartet. Ich nehme nicht an, dass Marx, Engels oder Lenin dazu nichts Neues gesagt hätten. Wir haben ihre Werke studiert und haben statt in die Welt vor allem in die Bücher geguckt. Wir haben die Werke unserer Klassiker so behandelt wie die Christen die Bibel.
Die Welt hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts geändert. Nicht nur die Wissenschaft und die Technik sind andere geworden, auch die Menschen. Die Arbeiterklasse Europas ähnelt nicht mehr derjenigen, die Engels erforschte. Auch die Kapitalisten sind andere geworden. Neue Wissenschaften sind entstanden.
Die Soziologie meint wie Marcel Fratzscher, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Sie zieht Vergleiche zum Feudalismus. Die Superreichen erstreben die Macht im Staat. Sie wollen staatliche Gerichte durch ihnen genehme Schiedsgerichte ersetzen. In den USA ist ein Milliardär Präsident geworden und hat eine Regierung aus Milliardären gebildet. Wir müssen daraus kritische Schlussfolgerungen ziehen. Wenn wir das nicht tun, können wir den Menschen keine Perspektiven aufzeigen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Arbeiterklasse derzeit nicht revolutionär ist. Wir müssen die Intelligenz gewinnen, dass sie den Weg weist. Marx, Engels und Rosa Luxemburg hatten keine ihnen gleichen Nachfolger. In den zwanziger Jahren waren führende Künstler und Wissenschaftler Kommunisten oder sympathisierten mit dem Marxismus. Das ist nicht mehr der Fall, wir sind für sie nicht attraktiv, wir sind nicht schöpferisch, eher dogmatisch.
Eine der neuen Wissenschaften ist die Soziologie. Max Weber (1864-1920) war einer ihrer Klassiker. Er erklärte: »Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen. Entweder: man lebt ›für‹ die Politik oder man lebt ›von‹ der Politik.« Er sagte das zu einer Zeit, als die Einkünfte der Politiker vergleichsweise gering waren. Das ist heute und hier anders, ganz anders. Hans Herbert von v. Arnim hat das in seinen Werken überzeugend dargelegt. Hier einige Zitate:
Fetter Bauch regiert nicht gern, München 1997:
»Zu den wirklichen Tabus unserer demokratischen Gesellschaft gehörte, wie gut man von der Politik leben kann.« (Michael von Greven zitiert bei v. Arnim, S. 80)
»Soziologische Untersuchungen des Bundestages haben zutage gefördert, daß der Einzug in das Parlament für fast alle Abgeordneten einen beachtlichen finanziellen und sozialen Aufstieg bedeutet.« (S. 80)
»Blickt man auf die spezifischen systembedingten Gegebenheiten, in die der Abgeordnete eingespannt ist, dürfte die Wahrscheinlichkeit gemeinwohlorientierter Motivation eher gering sein« (S. 150)
»Solange die Bezahlung gering war, konnte man davon ausgehen, daß Postenjäger nicht angelockt würden, weil es eher ein Opfer darstellte, sich für ein Leben von der Politik zu entscheiden. Je üppiger aber die Positionen ausgestaltet werden, je höher die Bezahlung, je überzogener die Versorgung, je ausgeprägter die Privilegien und je sicherer und abgeschotteter die Pfründen gegen Konkurrenz und Abwahl sind, desto weniger kann ausgeschlossen werden, daß sie von vielen nur wegen des Geldes, des Ansehens und des sonstigen Status des Mandatsträgers angestrebt werden.« (S. 159)
»Die politische Klasse baut nicht mehr auf der Basis auf, lebt von ihr weder ideell noch finanziell und wird von ihr auch nicht kontrolliert. Vielmehr kontrolliert die politische Klasse umgekehrt zunehmend die Basis«. (S. 202)
Der Staat als Beute, 1993:
»In der Politikfinanzierung kommt das Streben der politischen Klasse nach Macht und Geld fast in klinischer Reinheit zum Ausdruck.« (S. 15)
Wer kümmert sich um das Gemeinwohl, 2002:
»Das Fazit ist ziemlich niederschmetternd: Die Demokratie ist in Deutschland kaum mehr als ein schöner Schein.« [2]
Der Professor führt zur Begründung folgende Thesen an:
- »Der Grundsatz des freien Mandats ist dann nur noch Fassade. Genauso ist es mit dem klassischen Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung; auch er löst sich auf.«
- »Berufspolitiker haben – unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit – gemeinsame Interessen und versuchen diese natürlich auch durchzusetzen.«
- »Im übrigen ›vernetzen‹ sich die Führungsriegen von Politik, Verwaltung, Großwirtschaft, Verbänden und Kammern ohnehin immer stärker. Die Symbiose der politischen Klasse mit wirtschaftlich-gesellschaftlichen Eliten kann hier allerdings ebenso wenig behandelt werden. Sie ist eine eigene umfassende Untersuchung wert.« [3]
- »Schon vor Jahrzehnten hatten weitblickende Beobachter vorausgesagt, die strukturellen Probleme würden in dem Augenblick aufbrechen, wo das wirtschaftliche Wachstum nachlasse und der Ost-West-Gegensatz wegfalle.« [4]
- »Hinzu kommen die Langzeitfolgen schwerer wirtschafts- und sozialpolitischer Fehler bei der deutschen Wiedervereinigung, die dazu beitragen, dass die Wohlstand- und Beschäftigungsschere zwischen West und Ost sich nicht schließt, sondern immer weiter auseinander klafft.« [5]
- Schon seit längerem zeichnet sich ab, das unser politisches System die Herausforderungen nicht mehr bewältigt.« [6]
- »Schuld ist das System« [7]
- »Doch in Wahrheit kann der deutsche Wähler über die Personen, die ihn in den Parlamenten vertreten sollen, häufig erst recht nicht entscheiden. Sehr viele Abgeordnete stehen in Deutschland – auf Grund parteiinterner Nominierungen – lange vor der Wahl fest, die insofern den Namen ›Wahl‹ gar nicht mehr verdient.« [8]
- »Derartige Wahlsysteme bilden das Benennungsrecht der Parteien praktisch zur Kooption um, das heißt zur Selbstberufung. Die Wahl solcher Abgeordneten ist keine Wahl, sie ist, genau genommen, weder frei noch öffentlich, obwohl das Grundgesetz beides ausdrücklich verlangt.« [9]
- »Die politische Klasse hat das System so ausgestaltet, dass sie die strategischen Positionen besetzt und fast alles unter sich ausmacht.« [10]
- »Angesichts des geschilderten Nominierungsverfahrens in den Parteien ist es kein Zufall, dass das Ansehen von Politikern in rapidem Verfall begriffen ist. Demoskopische Umfragen bestätigen das.« [11]
Widerlegt worden sind seine Erkenntnisse m.W. nicht, nur totgeschwiegen. Sozialisten müssen das zur Kenntnis nehmen und danach handeln. Bisher tun sie es nicht. Sie greifen das bestehende politische System nicht an. Die Rechten tun das mit Erfolg und haben starken Zulauf. Wen wundert es? Die Bürger sind, wie viele sagen, unzufrieden. Sie können zwischen mehreren Parteien wählen, aber Grundlegendes ändert sich nicht. Also versucht man es mit der AfD.
Unser parlamentarisches System ist undemokratisch. Die Diskussionen im Parlament sind Scheindiskussionen. Die Parteioberen haben längst entschieden, was das Parlament entscheiden soll und entscheiden wird. Eindrucksvoll hat das Roger Willemsen in seinem Buch »Das Hohe Haus« gezeigt. Eine wirkliche sozialistische Partei müsste das entlarven. Sie müsste zeigen, dass die schönen Reden im Parlament eine Farce sind und was die Farce kostet. Unsere Berufspolitiker könnten etwa die Kosten der Verwaltung der 16 DDR-Bezirke mit den Kosten der Verwaltung der 6 neuen Länder vergleichen.
Dieser dem deutschen Volk nach 1945 aus gutem Grund aufgezwungene Föderalismus hat mehr als 70 Jahre später im Zeitalter der Globalisierung seine Berechtigung verloren. Aber keine Partei geht dagegen an. Der Föderalismus schafft Arbeit und Wohlstand für Politiker und Steuerlasten für die Bürger.
Die DDR kannte die parlamentarischen Scheingefechte nicht, aber ihre Parlamente waren ebenfalls bedeutungslos und dazu langweilig. Die DDR-Bürger hatten nicht einmal die Illusion politisch mitreden zu dürfen. Ja, sie durften über die Verfassung und über viele andere Gesetze abstimmen, aber es gab keine ausreichenden Alternativen etwa für die Modalitäten des Eherechts, über Subventionen von Lebensmitteln und Mieten. Deswegen wurden sie von den Wahlen, den Parlamentsreden und der Pressevielfalt zunächst verführt, bis sie zu solchen Rufen wie »Lügenpresse« oder der Entscheidung kamen, nicht mehr zu wählen.
Eine andere Wissenschaft, die in der DDR gering geachtet wurde, was deshalb ebenfalls Anteil am Untergang der DDR und vielleicht auch am Untergang der UdSSR hatte, war die Psychologie. Die Sozialisten konnten die Massen unter anderem deshalb nicht mehr für sich gewinnen, weil sie sie mit ihren Worten und Schriften nicht erreichten. Die Kapitalisten dagegen bedienten sich in der Wirtschaft vielfach und mit Erfolg der Psychologie. In jedem Supermarkt und an jeder Tankstelle kann man Beispiele dafür erkennen. Benzin kostet eben nicht glatte €, sondern jeweils Euro plus 99 Cent, und die Waren im Supermarkt werden je nach dem wirtschaftlichen Interesse des Verkäufers in den Regalen angeboten.
Die Politiker benutzen die Psychologie, um die Erkenntnisse aus den Umfragen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Das geschah in der DDR nicht. Die Politiker kannten keine Umfrageergebnisse, sondern agierten blind. Die NVA bewachte die Grenzen, aber ihre Waffen wurden am 3. Oktober 1990 kampflos dem Gegner übergeben. Der hatte die Hirne der DDR-Bürger psychologisch gekonnt erobert.
Wenn unseren DDR-Genossen auch Fehler unterlaufen sind, so haben sie doch mehr Gutes bewirkt. Wir müssen ihnen danken und sie ehren. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Zukunft zu gestalten. Unsere Klassiker sind unsere Vorbilder, in ihrem Geist müssen wir neue Aufgaben lösen und uns dabei der neuesten Erkenntnisse der Wissenschaften bedienen.
Anmerkungen:
[1] Reinhard Lauterbach, Das lange Sterben der Sowjetunion, Edition Berolina, 1916, S. 9 ff.
[2] Hans Herbert von Arnim: Wer kümmert sich um das Gemeinwohl, Zeitschrift für Rechtspolitik 2002, S. 223 ff., S. 229.
[3] A.a.O., S. 225, Anm. 16.
[4] A.a.O., S. 226.
[5] A.a.O., S. 226.
[6] A.a.O., S. 226.
[7] A.a.O., S. 226.
[8] A.a.O., S. 228.
[9] A.a.O., S. 228 f.
[10] A.a.O., S. 226.
[11] A.a.O., S. 230.
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2017-05: Paragraph 175 und andere Schatten der Vergangenheit
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