Fauxpas – unappetitliches Benehmen
Walter Ruge, Potsdam
In ihrer Ausgabe vom 7. Juli 2010 klärt die junge Welt in drei Beiträgen detailliert über die ausufernde Überwachung der Bürger auf. Im Untertitel des Buches "Datenschatten" von Mathias Becker wird die Frage gestellt "Sind wir auf dem Weg in eine Überwachungsgesellschaft?". JW-Autor Peter Wolter beantwortet diese Frage eindeutig mit: "Nein - wir sind nämlich schon mittendrin!".
Die junge Welt "berät" uns sogar, wie wir uns vor diesen "Zugriffen" "schützen" können (denn der Einzelne ist ganzen Kaskaden von ausgeklügelten Techniken und Heerscharen von "Spezialisten" ausgeliefert). Es geht heute vorrangig darum zu verstehen, daß diese Tendenz einerseits knallhart zum persönlichen Nachteil der Menschen eskaliert; andererseits erscheint es wichtig öffentlich zu machen, daß dieses stündlich gepriesene freiheitlich-demokratische Staatsgebilde, sich - ohne Revolution, "Maifeiern" oder Generalstreik - auf diesen zweifelhaften Pfaden selbst aufhebt, nicht beseitigt.
Vor diesem Background widmet sich auch das ND (Ausgabe vom 26./27. Juni 2010) in einem, als Buchbesprechung (Inga Wolfram "Verraten"), unter der Überschrift "Feindschaft oder Versöhnung" firmierten Beitrag von Gunnar Decker dieser Thematik - nicht aktuell auf oben umrissene bedrohliche Kulisse der Bundesrepublik zugeschnitten, sondern als Bürgerschreck aus der verblichenen DDR, eine 35 Jahre gereifte Retrospektive. Der Autor fragt rhetorisch "Wer ist (man beachte Präsenz!) dieser Arnold Schölzel", und beantwortet dem geneigten Leser wer er war (!). So weit so gut. In besprochenem Buch "Verraten" entdeckt er für uns sein "Subjekt", einen Beamtensohn (!), einen "weichlich-linkischen (nicht linken) Menschen, der sehr belesen war, und die Texte, über die er sprach, genau kannte" (was nicht mehr alltäglich scheint), der "während seines Wehrdienstes (in der Bundeswehr) desertiert und in die DDR geflohen", und "ein unfaßbar linientreuer, machtfixierter Parteisoldat" wurde - da hat der Autor Recht, diese Spezies gab es tatsächlich.
Schließlich entpuppt sich das "Subjekt" als Chef des "Bruderorgans", als Mitstreiter im gemeinsamen Kampf für den "demokratischen Sozialismus", gleichzeitig ungeliebter Konkurrent auf dem deutschen linken Zeitungsmarkt.
Dem Exphilosophiestudenten und Hegelkenner Gunnar Decker fällt es sichtlich schwer, den eigenen Standpunkt herauszufiltern - um mit einem Andersdenkenden zu polemisieren, besteht weder Notwendigkeit, sein "weichlich-linkisches" Wesen zu zitieren noch ihn als Deserteur oder Spitzel zu desavouieren, so wie es (außer in den Schmuddelblättern) unüblich ist, den Opponenten als zum Beispiel schwul oder HIV-infiziert zu orten. Bei G. D. sind die Begriffe zu Ziegelsteinen erstarrt, absolut, in eine Mauer gesetzt. Einem gereiften Philosophen hapert es an dem so nötigen Quentchen Dialektik.
Nehmen wir den von G. D. domestizierten Begriff "Verrat"; dieser ist wandelbar, entwicklungsfähig, dynamisch, epochebedingt. Claus Graf Schenk von Stauffenberg galt im deutschen Establishment, besonders unter den Militärs, von 1944 bis 1990 als "Verräter am Führer". Nach 1990 bemerkte man die vielgestaltige Kultur im Gedenken an den Widerstand gegen die Hitlerdiktatur in den Beitritts-Gebieten. Halt mal, auch in den Westzonen ehrt man Widerstand - "die Männer des 20. Juli" wurden über Nacht zum "Deutschen Widerstand gegen die Nazidiktatur" umfunktioniert - vom "Verräter" zum "Widerstandkämpfer". Wer "Landesverrat" oder "Hochverrat" beging, kam seinerzeit unters Fallbeil; bestimmt sieht G. D. wenigstens das heute anders.
G. D. präsentiert uns seine "Opfer" immer wieder als (lediglich) "Reformer", die keine "Antikommunisten" waren - auch das stark wandelbar. Die ersten "Reformer", bzw. deren "Reformismus", landeten in den Schützengräben vor Verdun, bis Rosa Luxemburg in der Silvesternacht 1918 verkündete: "Wir sind wieder bei Marx". Der "Reformer" Gerhard Schröder strebte "Reformen" an, "die es wert sind, auch so genannt zu werden" (!) - sie gipfelten in den verhängnisvollen "Hartz IV- Entscheidungen". Eine Welle von "Reformen" dekoriert den Gabentisch unserer Regierenden, "Gesundheitsreform", "Bildungsreform", "Bankenreform". Michael Gorbatschow und Alexander Jakowlew kamen nicht als "Antikommunisten" daher, verkündeten gar "Die Völker der Sowjetunion haben ihre Entscheidung getroffen, und diese lautet Sozialismus" - heute findet sich weder eine Spur dieser "Entscheidung" noch von Resten des Sozialismus. Das hat dazu geführt, daß man beim Auftauchen von "Reformern" - sicherheitshalber - die Jalousien sofort herunterlassen sollte.
G. D. macht aus seinem Herzen - wie man sagt - keine Mördergrube, wenn er auch erst im allerletzten Absatz die Katze aus dem Sack läßt. Er weiß, DIE LINKE hat sich nicht für Joachim Gauck entschieden, wird sich bei der Wahl der Stimme enthalten. So viel "Enthaltsamkeit" ist nicht sein Ding. Er bleibt sich treu, schließt mit einem dezenten Werbespot für den Pastor aus Mecklenburg. Wo wären wir schließlich ohne ihn?
Der Herr Pfarrer hat immerhin diese ganzen Arnold Schölzel, Kerstin Kaiser, Thomas Nord, Hans-Jürgen Scharfenberg und viele, viele andere "trocken gelegt": "Warum soll einer, der die Widersprüche der ostdeutschen Geist- und Ideologiegeschichte - auch in ihren Beschädigungen und Beschränkungen - so wie wenige andere verkörpert" (so G. D.) jener vielgehaßte Joachim Gauck eigentlich nicht Präsident einer von Parteikalkülen und Finanzkalkulationen beherrschten Ost-West-Republik werden? Eine Zumutung? Gewiß, aber vielleicht "eine für alle Beteiligten fruchtbare". Klare Worte des Philosophen, nur zu (!).
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