Es kommen härtere Tage
Gina Pietsch, Berlin
Ingeborg Bachmann zu ihrem 50. Todestag am 17. Oktober 2023
Eine Würdigung
Wie jeder, der hier gestanden ist und es nicht wert war, Büchner das Schuhband zu lösen, habe ich es schwer, den Mund aufzutun. Mit diesem schönen Anfangssatz ihrer Rede Ein Ort für Zufälle zur Verleihung des Büchner-Preises am 17. Oktober 1964 möchte am liebsten auch ich beginnen. Denn welch ein Anfang!
Um Ingeborg Bachmann, eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Prosaschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, wurden viele Mythen gewoben, in über 2.000 Dissertationen über sie gestritten, als meistfotografierte Dichterin ihrer Zeit und neuen Klassiker verehrt, als Diva der Dichtkunst, trotzdem von dem für Gemeinheiten im Literaturbetrieb berüchtigten Reich-Ranicky verrissen als »gefallene Lyrikerin« und »trübes Gewässer«.
Der großen Weltangst Kind
Am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren, im Dreiländereck zwischen Slowenen, Italienern und deutschsprachigen Österreichern, als erstes Kind des Volksschullehrers Matthias Bachmann und seiner Frau Olga. Kurz vor ihrer Geburt zogen ihre Eltern nach Klagenfurt, wo sie auch die Volksschule und, obwohl evangelisch, das katholische Ursulinengymnasium besuchte. Mit zehn Jahren fing sie an zu schreiben, Gedichte, weil ich zu einer Musik, die ich mir am Klavier zusammengesucht habe, einfach keine Worte gewusst habe und dachte: das beste ist, ich schreibe sie mir selber. Das klingt schon ein wenig nach Außenseitertum, bedingt vielleicht dadurch, dass die Familie zu einer protestantischen Minderheit in Kärnten gehörte. Für Ingeborg war denn auch klar, sie muss studieren. Ein Anreger dazu dürfte am 14. Juni 45 ein junger englischer, jüdischer Offizier, gewesen sein, der sie bestärkt, Marx' Kapital zu lesen und Philosophie zu studieren. Sie tut das bis 1950, Philosophie, Psychologie, Germanistik und Rechtswissenschaften an den Universitäten Innsbruck, Graz und Wien, promoviert über Martin Heidegger. Vor ihrem Studium allerdings entstand die historische Erzählung »Das Honditschkreuz«, die uns das Leben in der Zeit der Besatzung Österreichs durch das faschistische Deutschland beschreibt, die Aufmärsche, das Brüllen, die Verhaftungen. Ein furchtbares Grunderlebnis, das sie 1971 so beschreibt: Es hat einen bestimmten Moment gegeben, der meine Kindheit zertrümmert hat. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Entsetzliches ... das Aufkommen meiner ersten Todesangst. Sie hat diese Angst auch später im Frieden nie wieder verloren, engagiert sich deshalb im »Komitee gegen die Atomrüstung«, gegen Wiederbewaffnung der BRD, für das Recht auf Ungehorsam im Algerienkrieg, gegen den Terror in Vietnam, bittet 1965 ihren Freund, den Komponisten Hans Werner Henze, sich mit ihr einzusetzen für Willy Brandt als Kanzlerkandidat, auch zu sprechen gegen Revanchismus und wieder aufblühenden Nationalismus. Im August 65 tritt sie öffentlich gegen Verjährungsfrist von Naziverbrechen ein. Schreiben ist für sie vor allem der Widerspruch zum herrschenden Kriegsgesetz. Für den Tag, an dem die Arbeit an den Waffen still steht … Für diesen Tag will ich die Worte frisch halten. Wie schön. Denn, wie es in dem von Hans Werner Henze vertonten großen Gedicht Freies Geleit, einem ihrer schönsten Antikriegsgedichte, heißt:
Die Erde will keinen Rauchpilz tragen
kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel
mit Regen und Zornesblicken abschaffen
die unerhörten Stimmen des Verderbens
Nie hat sie sich als »Umstürzlerin« gefühlt, widerständig immer. Auszeichnung verdient in Alle Tage, einem anderen großartigen Text die Flucht von den Fahnen, die Tapferkeit vor dem Freund, der Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls.
Es hat das gehalten, was sie sich – noch nicht in höchster Kunstform, aber mit Selbstbehauptungswillen – schon als Sechzehnjährige sagte. »Ich« ist der Text genannt.
Sklaverei ertrag ich nicht
Ich bin immer ich
Will mich irgendetwas beugen
Lieber breche ich.
Dieses noch ungedruckt, aber ab 1948/49 finden wir die ersten vier Gedichte in der Zeitschrift »Lynkeus«, das oft genannte »Es könnte viel bedeuten« zum Beispiel – sehr Rilkesch aber aufbegehrender, von »Lastbewusstsein« und Bedrohtsein getragen – Ich bin der großen Weltangst Kind.
Letztes Zitat leitet zu Bachmanns erstem Gedichtband über, Die gestundete Zeit des Jahres 1952. Dieser Gedichtband hat einen Liebeshintergrund. Am 20. Mai 1948 schreibt sie an ihre Eltern: Heute hat sich noch etwas ereignet. Der surrealistische Lyriker Paul Celan, der sehr faszinierend ist, hat sich herrlicherweise in mich verliebt … Mein Zimmer ist momentan ein Mohnfeld, da er mich mit dieser Blumensorte zu überschütten beliebt. Die beiden sprechen mit ihren Gedichten, Celan in »Corona« wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, Bachmann in »Orpheus«. Und in die Schönheit der Erde und deiner Augen, die den Himmel verwalten, weiß ich nur Dunkles zu sagen. Die Beziehung zu dem in Czernowitz geborenen jüdischen Dichter, vom dem Bachmann sagt, Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben, hat nicht wenige dunkle Punkte, nicht unwesentlich bedingt durch Celans Überleben in einem Arbeitslager, aber der Tötung seiner Eltern während des Holocaust, wohl aber auch durch Bachmanns immer schamhaft verschwiegene NSDAP-Mitgliedschaft ihres Vaters – ausgedrückt in ihrer Art aber: Unsere Familie, von der die Welt unheilbar geworden ist. Für Celan spitzt sich das zu, als er mit Bachmann zusammen 1952 das erste Mal beim Niendorfer Treffen der Gruppe 47 sein berühmtes Gedicht Todesfuge mit der Zeile Der Tod ist ein Meister aus Deutschland vorliest und sich da vom Leiter der Gruppe Hans Werner Richter anhören muss, er lese »wie Goebbels«.
Wie sie liest, kann man sehr bald auf Schallplatte hören. Ihre anfängliche Unbeholfenheit, laienhaft, mädchenhaft hoch, zerbrechlich, wobei man sich fragt, kann sie nicht anders, oder ist es eine bewusste Ausdrucksform. Reich-Ranicki, der sie nicht leiden mag, hält ihren »Flüsterton« für Aufmerksamkeitsforderung.
Heute weiß man, dass mit Bachmann und Celan zwei begnadete Dichter sich nicht nur geliebt haben, sondern auch um-, mit- und gegeneinander gerungen haben. Ingeborg Bachmann erhielt 1953 den Literaturpreis der Gruppe 47 für den Gedichtband Die gestundete Zeit. Sie wird berühmt damit. Und wie sehr war das verdient! Vor 30 Jahren hab ich das Titelgedicht mit seiner Anfangs- und Schlusszeile Es kommen härtere Tage gelernt und nie vergessen, weil so große Schönheit der Sprache nicht vergessen werden kann. Und, was sie als Dichterin ausmacht, nämlich, erkenntnissüchtiger, deutungssüchtiger und sinnsüchtiger als andere zu sein. Aber eben auch widerständiger. Sie selbst erklärt es so: Ich existiere nur, wenn ich schreibe, ich bin nichts, wenn ich nicht schreibe, ich bin mir selbst vollkommen fremd. Und sie schrieb ungeheure Mengen, Romane, Erzählungen, Essays, Reden und die Gedichte.Beinahe alle faszinieren in ihrer Mischung aus Sinnlichkeit und Intellektualität. Das hatte viel mit Brecht zu tun, wurde von ihm gelobt, wie umgekehrt auch sie Brechts Bedeutung für ihre eigenen Werke unterstrich.
Wahr machen, was sein soll
1956 erscheint ihr nächster Lyrikband Anrufung des Großen Bären mit dem berühmten, Erklär mir, Liebe, das Beziehungen zwischen Sinnlichkeit, Denken und Kunst hinreißend thematisiert. Erotik und Sinnenglück fallen hier auf, stark musikbezogen, auch durch die Freundschaft zum Komponisten Hans Werner Henze.
Ab dem Spätsommer dieses Jahres lebt sie in Italien, schreibt nur Prosa, Hörspiele und Essays. Ich habe aufgehört, Gedichte zu schreiben, als mir der Verdacht kam, ich ›könne‹ jetzt Gedichte schreiben.
1958 begegnet sie dem 15 Jahre älteren Max Frisch. Für ihn zieht sie nach Zürich und Rom, bleibt fünf Jahre lang mit ihm liiert. Bachmann und Frisch beanspruchen für sich, ein Paar zu sein, wie noch keins vor ihnen war. Frisch ist leidenschaftlich verliebt in diese rätselhafte schillernde Frau. Er trägt Ihr die Ehe an. Sie aber lehnt ab, hält die Ehe für eine unmögliche Institution für Frauen, die einer Arbeit nachgehen.
Sie gehen der gleichen Arbeit nach, also bleiben Zusammenstöße nicht aus. Siegfried Unseld nennt Frisch den kältesten Autor, den ich je getroffen habe. Über Liebe, die Bachmann immer wichtig war, hören wir von ihr: Liebe ist ein Kunstwerk, und ich glaube nicht, dass es sehr viele Menschen können. Was und wie sie Liebe »konnten« oder nicht »konnten« erfahren wir – bisher immer zurückgehalten – nun in dem 297 Briefe umfassenden Briefwechsel, den Suhrkamp herausbrachte unter dem Titel »Wir haben es nicht gut gemacht«. Die Leser schauen hier in mehr Intimes und in mehr Wunden als bisher und fragen sich, ob für unser Verständnis dieses sehr bekannten Dichterpaares der deutschsprachigen Literatur nötig und hilfreich. Ingeborg Bachmanns Gefühl, oft unter oder hinter Frisch zu stehen, scheint unnötig nach dem schönen Satz Ich liebe mit so zärtlichem Neid die Dichterin in Dir, Ingeborg Bachmann. Aber 1962 gilt er wohl nicht mehr, denn Frisch beendet die Beziehung und wendet sich einer jungen Studentin zu. Bachmann verkraftet die Trennung nicht, wird tabletten- und alkoholabhängig. In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1973 erleidet sie in ihrer römischen Wohnung schwere Verletzungen durch einen Brand, der beim Einschlafen mit einer brennenden Zigarette ausgelöst worden war.
Sie erlebt so nicht, was sie den Menschen wünscht, nämlich, dass alle, alle ohne Unterschied und für immer, leben sollen und arbeiten sollen, dürfen, und essen und schlafen ohne Furcht.
Bachmanns Schreibziel nennt Christa Wolf: Wahrhaben, was ist – wahr machen, was sein soll. Dafür tut sie, was sie immer tat – sie lehnt sich auf, gegen Meinungsmanipulation, Blätter-Verschleiß, Spruchbänder, die Maschine des Glaubens. Sie ist verwundet, aber nicht besiegt, voll Trauer, doch ohne Selbstmitleid, leidend aber nicht ins Leid verliebt, verzweifelt noch vor Verzweiflung über das viele Elend und endend im letzten Gedicht: Mein Teil, es soll verloren gehen.
Nein, sagen wir zu diesem Satz und wählen den besseren:
Seht zu, dass ihr wach bleibt!
Am 17. Oktober 1973 in Rom stirbt sie.
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