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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Es ist (war) mein Mutter- und mein Vaterland« [1]

Heide Hinz, Dresden

 

Mir ist in kindlicher Erinnerung, dass uns nach dem 7. Oktober 1949, dem Gründungs­tag der DDR, ein Wochenende später die Großmutter väterlicherseits besuchte. Ich höre sie noch, eine lebenskluge, tüchtige Arbeiterfrau, erregt freudestrahlend sagen: »Wir haben einen neuen Staat mit einem Präsidenten Wilhelm Pieck, ein Arbeiter, Tisch­ler, er spricht wie ein Vater zu uns. Nun wird alles gut nach dem schrecklichen Krieg«.

Das Gründungsjahr der DDR vor 75 Jahren hielt Glücksmomente für meine Familie bereit. Der Vater kam aus der Kriegsgefangenschaft zurück; er hatte sich in der Sowjet­union für die DDR entschieden, um an ihrem Aufbau mitzuwirken. Ich wurde in die 5. Klasse versetzt, durfte »Junger Pionier« werden. Und begegnete nun gespannt der russi­schen Sprache. Die Neulehrerin sagte am Schluss ihrer ersten Stunde: »Domoi, mama f kuchne«. Das sollte verkürzt heißen: Zuhause wartet die Mutter mit dem Essen. Was für ein methodisch-didaktisch gelungener Schachzug. Der Anreiz, die Fremdsprache zu erlernen, war mir gegeben. Es soll jedoch nicht übersehen sein, bei einigen Eltern gab es Vorbehalte, die faschistische Propaganda wirkte nach, und in Westdeutschland lern­ten die Schüler Englisch.

Wir lebten zu dieser Zeit als Dresdner Bombenflüchtlinge, ohne Hab und Gut, in Dorf­hain, einer vorerzgebirgischen Gemeinde. Im 49er Jahr bald noch eine Überraschung: ich bekam auf Bezugsschein im Dorf-Konsum ein paar Lederschuhe (mit Holzsohle). Vieles, auch fürs tägliche Leben, war rationiert, Brot, Butter, Zucker … gab es auf Mar­ken. Es ist nicht schwer zu verstehen, wir Kinder, die Eltern und Großeltern spürten schmerzhaft, was der Krieg und die Nachkriegszeit an Leid und Armut hinterlassen hat­ten. Dennoch: »Lieber ein Leben lang trocken Brot essen müssen als noch einmal Krieg«, sagten viele Mütter.

In der Mitte meines 7. Schuljahres zog unsere Familie nach Dresden zurück. Hier war ich Gruppen-Pionierleiterin einer vierten Klasse. Der Freundschaftsrat delegierte mich in die Arbeitsgemeinschaft »Die Friedenspolitik der Sowjetunion« im Pionierpalast »Wal­ter Ulbricht«. Auch wenn das manche heute stutzig machen sollte, es bleibt unbestrit­ten, das russische Volk will Frieden für sein Land und Frieden für seine Landsleute in der Ukraine. Die Hintergründe für den Stellvertreterkrieg mit dem Vergehen am Völker­recht haben politisch erfahrene Historiker, Militärs und Journalisten analysiert. Ihre Option lautet: Mittels Diplomatie Waffenstillstand einzulegen und Friedensverhandlun­gen zu beginnen. Hingegen, gesteuert von den USA, wird den Ukrainern Kampf-Patrio­tismus mit ausländischen Waffen aufoktroyiert, Medien schüren Russenhass. Die Ampelregierung stimmt darin ein, propagiert Kriegs- statt Friedenstüchtigkeit für Deutschland. Es wurde vermeldet, dass am »Kursker Bogen«, wo im Zweiten Weltkrieg die größte Schlacht der Wehrmacht mit »Marder«-Panzern stattfand, diese dort mit ukrainischen Soldaten wieder operieren sollen, welch ein Verbrechen!

»Truman-Doktrin« setzte »Kalten Krieg« in Gang

Als das noch nicht vorstellbar war, führte meine Lebensachse nach Lehre, Beruf und Studium über die FDJ in die SED. Ich wurde einer ihrer ehrenamtlichen und hauptberuf­lichen Funktionäre auf der 40-jährigen Laufbahn der DDR. Ein mühevoller Weg, uneben, gar steinig, manchmal stolperten wir auch, jedoch über weite Strecken war er eine erfolgreiche Alternative mit sozialistischer Zukunftsvision.

Viele Menschen, von der antifaschistisch-demokratischen Politik der geeinten Arbeiter­partei motiviert, gingen ans Werk. »Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut, um uns selber müssen wir uns selber kümmern« [2] wurde eine der Überlebenslosungen.

Die BRD mit Nazi-Eliten im größeren und industriell reicheren Teil des Landes, erhielt für ihr Staats- und Privatkapital die Unterstützung der Westmächte. Sie profitierte ab 1948 vom Marshallplan der USA sowohl hinsichtlich der Versorgung mit Nahrungs­gütern für die Bevölkerung als auch mit Rohstoffen für die Industrie. Damit wurde es den USA leicht, Westdeutschland in ihr politisches System zu integrieren und bis in jüngste Zeit vasallenhaft hörig zu machen.

Die DDR dagegen zahlte zur gleichen Zeit das Gros der Kriegs-Reparationen an die Sowjetunion.

Erschwert wurde unser Entwicklungsprozess in der Anfangszeit, wie dann in der DDR sowie in den anderen Ländern im Einflussbereich der Sowjetunion, von der bereits 1947 verkündeten »Truman-Doktrin«. Sie setzte den »Kalten Krieg« als Systemkampf in Gang. Die Konfrontation war von einem Auf und Ab mit Ideologien-Kampf, Wirtschafts­boykott, Embargolisten und Rüstungswettlauf bestimmt. Zwischen Nato und Warschau­er Vertrag verlief über Jahrzehnte ein Wettstreit um das militärische Gleichgewicht, qua­si eine fragile Garantie für Europa, nicht in einem heißen Krieg zu landen. Der uns und den anderen sozialistischen Ländern aufgezwungene Rüstungsnachholbedarf ging zu Lasten der Wirtschaftskraft und des Lebensstandards unserer Völker, was Unmut her­vorrief. Dem versuchte sich die Sowjetunion seit Mitte der 80er Jahre reformverspre­chend entgegenzustellen. Gorbatschow hatte dafür die populistischen Schlagworte »Glasnost« und »Perestroika« ausgegeben. Wer erinnert sich dabei nicht an seine ver­führerische Symbolik, ein gemeinsames »Europäisches Haus« bauen zu wollen, ohne nach der Realität mit den zu erwartenden Kontroversen zwischen den politischen Blö­cken zu fragen. Als Bild politisch gesehen: Wer wohl ins Souterrain zieht und wer in die Beletage? – Welch eine verräterische Illusion!

Diese Denkweise und vor allem das ökonomische Ungleichgewicht, weil die Arbeitspro­duktivität dem Kapital in seiner Effizienz nicht standhielt, beförderte 1989/90/91 den Zusammenbruch der Sowjetunion. Er riss die ihr aufs Engste verflochtene DDR und alle anderen sozialistischen Staaten mit in die Auflösung. Das daraufhin erklärte Ende des Kalten Krieges, ein formeller »Siegesakt«, denn seither stehen die Signale, um in einem Bild zu bleiben, ja nicht auf grün, sondern bereits auf gelb.

Das Kapital beherrscht nunmehr zwei sich gegenüberstehende Weltmächte. Die USA mit ihren Verbündeten stehen mit China und den BRICS-Staaten in Konkurrenz.

Erfolgversprechend wagt die Volksrepublik unter kommunistischer Führung im Überle­genheitskampf den Spagat von Planwirtschaft und kapitalgetragener Ökonomie. Ein neues Kapitel in der Weltgeschichte ist aufgeschlagen. Noch aber gibt das keine Garan­tie dafür, einen nicht mehr gewinnbaren atomaren Krieg auszuschließen.

Was bleibt?

Ich frage mich, was bleibt von 40 Jahren DDR-Existenz? Worauf können wir stolz sein?

- Darauf, dass nicht mehr das Geld die Ausbeutung regierte, sondern hohe Werte, an erster Stelle Friedenswille und Friedenssicherung, gepaart mit Solidarität und Gemeinschaftssinn. Als einziger Staat in der deutschen Geschichte hat die DDR nie einen Krieg geführt. Kein Soldat der Volksarmee betrat fremden Boden. Im Gegen­satz dazu hatte die BRD im Jugoslawien- und Afghanistan-Krieg ihren Part.

- Auf Jahre großer Zustimmungen bei Volksentscheidungen wie in Sachsen 1946, wo sich die Bürger für die entschädigungslose Enteignung der Betriebe von Kriegsver­brechern und Großgrundbesitzern erklärt haben, um sie in Volkseigentum zu über­führen. Meine Mutter gehörte laut ihren Tagebuch-Aufzeichnungen zu den 77,56 Pro­zent der Fürstimmen.

- Und sie beteiligte sich mit dem Elternrat an der demokratischen Schulreform; kein aktiver Nazi durfte mehr Lehrer sein, wie es auch keinem solchen mehr erlaubt war, Recht zu sprechen, Volksrichter wurden gewählt. Diese vom Volk getragenen Ent­scheidungen veränderten das Fundament der Gesellschaft grundlegend.

- Um dafür das Führungspersonal heranzubilden, gründete der junge DDR-Staat unter anderem Fakultäten, in denen vor allem Arbeiter- und Bauernkinder die Hochschul­reife erlangten; einer meiner Brüder, gelernter Maurer, gehörte dazu. Die DDR brach endgültig das bürgerliche Bildungsprivileg. Auch das hatte es in Deutschlands Geschichte nie gegeben und gibt es leider in der BRD nicht. Viele der Absolventen, inzwischen in leitenden Wirtschafts- und Staatsfunktionen der DDR tätig, darunter hoch anerkannte Wissenschaftler, Ingenieure, Mediziner, Juristen, Lehrer, wurden in der Wendezeit gegen zweitrangige westdeutsche Eliten in unverhohlener Siegermen­talität ausgetauscht. Der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen von Wissenschaft, Verwaltung, Justiz, Medien und Wirtschaft beträgt nach 35 Jahren deutscher Einheit im Durchschnitt gerade mal 1,7 Prozent [3]. Wer arges dabei denkt, es sei gewollt ...

- Arbeit hatte sich in die Biografie von 92 Prozent der Mädchen und Frauen der DDR eingeschrieben, sie standen ökonomisch auf eigenen Beinen, und sie mussten den Paragrafen 218 nicht fürchten. Nicht selten hätten konservative Kreise sie heute gern wieder am Herd.

- Im faschistischen Deutschland verfemte, in KZ ermordete Juden, Kommunisten, Sozial­demokraten, Christen, Minderheiten wie die Roma, erhielten in der DDR eine Gedenk­stättenkultur. Zu ihren Mahnmalen gingen junge Menschen, um sich auf die Jugend­weihe vorzubereiten.

- Vor der Nazi-Diktatur ins Exil emigrierte Deutsche, darunter namhafte Schriftsteller und Künstler kamen in das antifaschistische Deutschland/DDR, ihr neues Zuhause, zurück, darunter Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf, Ludwig Renn, die zu den Weltliteraten zählen, wie auch die Welt-Theaterleute Wolfgang Langhoff, Helene Weigel, Eduard von Winterstein und andere.

- Beim Volksentscheid 1968 über die DDR-Verfassung mit dem Grundsatz: Niemand darf sich mehr mit der Arbeit eines anderen bereichern, stimmten 94,5 Prozent der Wähler dafür. Im Gegensatz dazu erfahren sie nunmehr, in der BRD oft von der viel gepriesenen Demokratie nicht wahrgenommen zu werden. Noch immer, nach dreieinhalb Jahrzehn­ten Mauerfall, hält sich der Westen für die Norm.

- Um ostdeutsches Verhalten der Menschen besser beurteilen zu können, braucht es Einsicht in ihr Lebensgefühl. Das will ich am Beispiel Wohnen verdeutlichen: Etliche Jah­re wohnte meine Familie (mit einem Kind für 43 Mark Miete) in zweieinhalb Zimmern eines fünfgeschossigen Neubaublocks (Plattenbau). Das war eng, doch wir waren glück­lich, denn hier gab es Fernheizung und Warmwasser. Die Hausgemeinschaft war typisch sozial gemischt. Unsere Nachbarn, eine Lehrerfamilie mit drei Kindern, lebte in der Vier­raumwohnung uns gegenüber. Die anderen Bewohner waren Familien eines Tischlers aus den VEB Möbelwerken, Autoschlossers und Hobby-Rallyefahrers aus dem VEB Kfz.-Instandsetzung, Elektromeisters mit eigener Werkstatt, der Chefarzt für Dermatologie der Poliklinik und zwei Rentnerehepaare. Im Keller hatten wir einen Gemeinschaftsraum eingerichtet, um uns ab und zu zu treffen, wenn es galt, Hausangelegenheiten, kommunale Fragen vor Wahlen, auch freiwillige Arbeitseinsätze zu besprechen, die wir »Subbotniks« nannten. Sie sorgten für ein schöneres Umfeld um den Häuserblock. Meist endete diese Art Basisdemokratie mit einem Grillabend. Alle sieben Kinder vom Hausaufgang gingen für langes gemeinsames Lernen in die 10-klassige Polytechnische Oberschule, die zum Neubauviertel gehörte. Von meinem Sohn weiß ich, dass sie sich noch heute bei Klassentreffen zusammenfinden.

    Es ist Geschichtsklitterung, wenn behauptet wird, im Herbst 89 wären die Menschen auf die Straße gegangen, um die deutsche Einheit zu erzwingen. Nein, sie wollten eine reformierte DDR mit demokratischem Sozialismus, bald ohne Mauer. Sie wollten ins westliche Ausland reisen, mit Devisen einkaufen und am überreichen Konsumangebot partizipieren, was sich erfüllte.

    Inzwischen sind aber auch manche DDR-Erfahrungen aus gesellschaftlichem Zugzwang stillschweigend übernommen worden, deklariert unter anderen Namen: Kindergärten und Kinderkrippen nennen sich Kita, Polikliniken – Ärztehäuser, Ganztagsschulen – Gesamtschulen, Schulen mit Berufsausbildung – College, die, wie auch die duale Berufsausbildung, dem Polytechnischen Unterricht abgelauscht sind.

    Ich will die DDR nicht verklären. Es gab viele Unzulänglichkeiten in ihr, demokratische Versäumnisse, Reglementierungen, subjektive Fehler auch. Sie war Neuland, ein Wag­nis, das Risiken barg; sie bleibt eine sozialistische Utopie.

    Wenn politisch darüber geklagt wird, im Osten sei die AfD besonders stark – übrigens mit dem Führungspersonal aus dem Westen!! –, dann basiert das meines Erachtens mit auf einer Abwertung der DDR bis hin zur Behauptung, sie sei ein Irrweg gewesen. Und die Lebensleistungen ihrer Einwohner werden, weil sie auf der falschen Seite gestanden hätten, nach wie vor geringgeschätzt.

    Wahr ist, man nahm unserem Volk in einem großen Betrugsmanöver der Treuhand sein Eigentum, was im Gebiet der DDR zu nicht gekannter Arbeitslosigkeit und zur Abwanderung von jungen, fähigen, in Berufen gut ausgebildeter, handwerklich talentierter Fachkräfte, wie auch von Intelligenzlern führte.

    Es wirkt auch Unverständnis darüber nach, wieso Einzelne, Konzerne, Konsortien Grund und Boden, ein Stück Erde, ihr Eigentum nennen dürfen und damit kapitalmächtig spe­kulieren können.

    Unsere Kinder sind naturgemäß unser Erbe, viele von ihnen in zwei Gesellschaftsord­nungen aufgewachsen, bzw. auch, wenn die Jüngeren inzwischen nur die BRD kennen, erfahren von ihren Großeltern und Eltern die Verwerfungen nach der Wende. Sie ken­nen deren Ängste bis hin zum Verlust von Freundschaften und Zerriss von Familien. Nicht wenigen von ihnen sagt ihr Feeling, selbst nur Bürger zweiter Klasse zu sein. Die AfD erscheint deshalb als Partei, die Ungleichheit benennt und Protest geltend macht. Das jedoch ist zu kurz gesehen, denn hinter ihr stecken Autoritarismus mit nationalisti­schen, gar faschistoiden Einstellungen.

    Der übers Knie gebrochene Beitritt der DDR zum Grundgesetz und das damit verbundene Gefühl, ungerechtfertigt benachteiligt zu sein, weniger zu haben und zu bekommen als Westdeutsche (Lohn, Rente, Vermögen, Erbe), zeigte sich kürzlich an den Wahlurnen.

    Das Wichtigste ist jetzt für alle linken und demokratischen Kräfte in Parteien, Gewerk­schaften, Organisationen, Bündnissen bis zum Einzelnen hin, über offene Wunden hin­weg, eine breite Friedensbewegung zu formieren, die einem Weltkrieg zuvorkommt. Die Großkundgebung am 3. Oktober in Berlin – ein Baustein!

    Bei meinem Nachdenken über die DDR bleibt, sie hat sich 40 Jahre lang dem Kapital entzogen und damit ihren Fußabdruck in die deutsche Geschichte gesetzt. 

     

    Anmerkungen:

    [1] Oktoberklub: Lied vom Vaterland (Musik: Reiner Böhm Worte: Reinhold Andert).

    [2] Aufbaulied der FDJ (Bertolt Brecht/Paul Dessau).

    [3] Dirk Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein, 2023.

     

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