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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Vor 150 Jahren wurde Alexandra Kollontai geboren

Heide Hinz, Dresden

 

Alexandra Kollontai [1], eine beeindruckende Frau – eine von 50 in der Literatur geführten berühmtesten Frauen von der Antike bis heute. [2] Sie war vieles in ihrem Leben und vieles gleichzeitig: Rebellin, Revolutionärin – Bolschewikin, Schriftstellerin, Lektorin, Propagandistin, Frauenrechtlerin, zweimal Ehefrau, Mutter, erste Ministerin und erste Botschafterin der Weltgeschichte! – Zuletzt: Eine andere Kollontai?

Herkunft und frühreife Kindheit

Der Dietz-Verlag veröffentlichte 1980 »Autobiografische Aufzeichnungen« der Alexandra Kollontai unter dem Titel »Ich habe viele Leben gelebt«. Schon als Kind wird ihr von den Schwestern nachgesagt: »Sie erreicht immer, was sie will.« Das behauptet sie später auch selbst von sich: »Ich erreichte fast immer, was ich mir vorgenommen hatte.« [3]

Alexandra wuchs sorgenfrei, wohlbehütet in einer Petersburger begüterten und gebildeten Familie, Vater General, mit einer englischen Kinderfrau auf. Als sie sieben war, sprach sie bereits fließend Englisch und Finnisch, gut Französisch und Deutsch. Hauslehrer unterrichteten sie auch in Mathematik und Literatur.

Gerne wäre sie in die Schule gegangen, die finnische Mutter erlaubte es nicht, sie könnte mit gefährlichen Ideen angesteckt werden. Armut sah die Heranwachsende in der Nachbarschaft und auf dem Gut der Großmutter, die ihre Bediensteten noch immer wie Leibeigene hielt. In der politisch unruhigen Zeit Ende des 19. Jh. hörte Alexandra aus dem Arbeitszimmer des Vaters kritische Dispute von Militärangehörigen über die Politik des Zaren, die mit Hoffnungen auf Reformen verbunden wurden.

Suche nach Wegen aus dem herrschenden gesellschaftlichen Zustand in Russland

Mit 21 Jahren heiratete Alexandra gegen den Willen der Eltern den Ingenieur Kollontai, einen in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen fernen Verwandten. 1896 begleitete sie ihn auf einer Dienstreise in eine der größten und modernsten Textilfabriken nach Narva. Hier arbeiteten unter elenden Bedingungen über 12.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, von denen 90 Prozent Analphabeten waren. Offensichtlich hat dieses Erlebnis von der prekären Situation der Beschäftigten, weil unvorstellbar für Kollontai, den Ausschlag gegeben, sich zu politisieren.

Alexandra Kollontai trennte sich vom Mann und vorübergehend auch vom Sohn, weil sie die traditionelle Ehe nicht ertrug und entschied 1898, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen, Ökonomie in Zürich zu studieren. Hier wurde sie mit Theorien von Bernstein bekannt, verurteilte bald seinen Opportunismus und Revisionismus, begeisterte sich für Kautsky, traf auf Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. Schon ein Jahr später fuhr sie nach England, wollte im kapitalistischen Industrieland der Arbeiterbewegung, verbunden mit der Frauenfrage, nachgehen. Sie fand eine gespaltene Feministen-Bewegung vor, in der trotz des Anwachsens des Industrieproletariats die bürgerlichen »Suffragetten« dominierten. Für deren Forderung, wählen zu dürfen, lachte man sie aus. Desillusioniert von der Machtlosigkeit der Frauen gegenüber sozialen Widersprüchen, kehrte Kollontai ungeduldig in das aufbegehrende Russland zurück.

Sie zählte sich zu den Orthodoxen (Linken). Es tobte der Kampf zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Lenin setzte auf die Diktatur des Proletariats, die Menschewiki hielten es mit Reformen. Noch war Alexandra Kollontai zerrissen, ihre Sympathie dem charismatischen Plechanow zugewandt. Im Zuge der Revolution von 1905 galt Kollontais Arbeit der sozialdemokratischen Bewegung (SDAPR) in Wort und Schrift, bei Streiks, auf Kundgebungen, in Publikationen. Ihr Hauptziel war, die Lage der Frauen zu verändern, sie in die Bewegungen einzubinden, die von den Arbeiter- und Bauernunruhen infolge der unerträglichen Verhältnisse im Lande ausgingen. Da war sie bereits auf Lenin getroffen, der sie während der I. Internationalen Frauenkonferenz in Stuttgart 1907 und des II. Internationalen Sozialistischen Frauenkongresses in Kopenhagen 1910 stark beeinflusste. Der Kongress stimmte für die Einführung des Frauentages 1911 und für das Frauenwahlrecht.

1908 beriefen die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen Russlands einen »Gesamtrussischen Frauenkongress« ein. Kollontai bekam das Mandat der Bolschewiki. 700 bürgerlichen Frauen standen 45 Arbeiterinnen der Bolschewiki gegenüber. Weil Alexandra Kollontai Aufruhr für den Sturz von Kerenski stiftete, musste sie, nachdem sie der befreundete Maxim Gorki aus dem Gefängnis freigekauft hatte, in die Illegalität flüchten. Die Emigration sollte acht Jahre währen. Der Weg führte sie durch Westeuropa und bis nach Amerika. In Deutschland wurde sie Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, arbeitete aktiv in ihr mit Kontakten zu Karl Liebknecht, August Bebel, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, sie kam erneut tiefer mit dem Marxismus in Berührung. Es waren, wie sie sagte, Lehrjahre; in ihrem Gepäck immer die Frauenfrage. Nach einer Wiederbegegnung mit Lenin in Paris arbeitete Kollontai mit seiner ausdrücklichen Befürwortung an einem Entwurf für Mütterschutz und -fürsorge für das revolutionierende Russland.

In Deutschland kam es 1914 infolge Kollontais Kritik an der Opposition und Bürokratie in der SPD zum Bruch mit ihr. Enttäuscht erlebte sie deren Zustimmung zu den Kriegskrediten und berauschte Massen für die »Rettung des Vaterlandes«. Die II. Internationale löste sich auf. Kollontai floh nach Stockholm, wurde ausgewiesen, ging nach Dänemark mit Zwischenaufenthalten in Schweden und Norwegen.

Von der Februar- zur Oktoberrevolution

Während der Februarrevolution 1917 kehrte Alexandra Kollontai nach Russland zurück. Nun als Bolschewikin setzte sie sich an der Seite von Lenin unüberhörbar bei Arbeitern, Frauen und Matrosen für den Sturz der Provisorischen Regierung ein sowie für die Beendigung des Krieges. Ihr Redetalent benannten die Medien mit »Walküre der Revolution«.

Zwei Tage nach der Machtübernahme im Oktober, so schildert sie, sagte Lenin zu ihr: »Fahren Sie gleich los und übernehmen Sie das Ministerium für staatliche Fürsorge. Das duldet keinen Aufschub«. [4] Kollontai wurde als Volkskommissarin berufen, übernahm die Armenhäuser, das Rentenwesen, die Kriegsinvaliden, Findelkinder mit Ammen, Kranken- und Waisenhäuser.

Die Sowjetmacht war die erste Macht der Welt, die offiziell in Gesetzen die Mutterschaft als soziale Funktion der Frau anerkannte. Das gewährleistete, dass Mütter der Arbeit bei gesicherter Betreuung ihrer Kinder nachgehen können.

An der Einführung von kostenloser medizinischer und freier Abtreibung, an legaler Ehescheidung, gleichem Lohn für gleiche Arbeit, am Verbot von Nachtarbeit für Frauen, hatte Kollontai führenden Anteil. Sie plädierte für kommunale Wohnmodelle mit Wäschereien und Kantinen (später modifiziert als Kommunalkas). Inzwischen war sie Mitglied des ZK und Vorsitzende des Frauensekretariats der KPR(B).

Skepsis und Ablehnung herrschte bei Lenin zu Kollontais Auffassung, Kommunen zu gründen, in denen Kinder gemeinsam aufgezogen würden und die freie Liebe mit freien Eheformen vorherrsche, wie auch Klöster in Heime für ledige Mütter mit unehelichen Kindern umzuwandeln. Der von Kollontai unterstützten Theorie, in der kommunistischen Gesellschaft sei die Befriedigung des Liebeslebens so einfach und belanglos wie das »Trinken eines Glases Wasser«, widersprach Lenin. 

Für Inés Armand und Alexandra Kollontai jedoch galt die Ansicht, dass die kommunistische Revolution mit der freien Liebe einhergehen müsse. Für Lenin war die Zeit dafür nicht reif, ihm ging es um die Sicherung der Macht angesichts des tobenden Bürgerkrieges im Land.

Inessa, wie Armand liebevoll (auch von Lenin) genannt wurde, hatte sich im Gegensatz zu Alexandra seinem Standpunkt gefügt. Es kam 1918 zu weiteren schmerzhaften Diskrepanzen und Meinungsverschiedenheiten zwischen Kollontai und Lenin. Hauptgrund war, sie konnte sich nicht damit behaupten, einen, wie sie es nannte, »revolutionären Volkskrieg« gegen die deutsche kaiserliche Armee zu führen. (Protest gegen den Brest-Litowsker Friedensvertrag).

Den endgültigen Bruch gab es 1921, als sie Lenin auf dem X. Parteitag vorwarf, Partei und Staat zu bürokratisieren. Damit begab sie sich in die »Arbeiteropposition«. Kollontai legte alle Ämter nieder.

Der Ausweg für beide Seiten war offensichtlich von Taktik bestimmt. Die attraktive, hochgebildete, selbstbewusste und selbstbestimmte Alexandra Kollontai wurde von 1923 bis 1945 Gesandte bzw. Botschafterin der Sowjetunion in Norwegen, Mexiko und Schweden. Dort kannte man sie ja bereits aus der Zeit vor der Revolution.

Sie beeinflusste 1925 die diplomatische Anerkennung der Sowjetunion durch Norwegen und das Zustandekommen eines Wirtschaftsvertrages mit diesem Land. Sie bewirkte entscheidend die Aufnahme der Sowjetunion 1935 in den Völkerbund mit, und sie war 1944 an den Verhandlungen zum Waffenstillstandsabkommen zwischen Moskau und Helsinki beteiligt, was Finnland aus dem Zweiten Weltkrieg aussteigen ließ.

Alexandra Kollontai als Literatin

Ihr eigentlicher Berufswunsch war es, Schriftstellerin zu werden. Als solche, die sie auch war, verwirklichte sie sich auf vielfältige Weise und ist dabei nicht von der Politikerin zu trennen. Hinsichtlich des belletristischen Werkes beurteilt sie selbstkritisch, dass ihre Protagonisten zu blass seien, nicht genug Tiefe haben.

Es soll hier nur von ausgewählten Schriften, Aufsätzen, Essays, Erzählungen die Rede sein, wozu ihre Autobiografie zählt sowie die 100 Jahre später, 2021, erneute Veröffentlichung ihrer »Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Swerdlow-Universität«. [5] Sie analysiert darin die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung vom Urkommunismus bis hin in die Zeit nach der Oktoberrevolution, immer unter dem Gesichtswinkel der Stellung der Frau in der Gesellschaft. Sie berief sich auf Engels »Ursprung der Familie …« und Bebel »Die Frau und der Sozialismus«. Ihr Appell, angeregt und redigiert von Lenin, »Wer braucht den Krieg?« erschien auch in deutscher Sprache; in »Die neue Moral und die Arbeiterklasse« skizziert sie »… die grundlegende Umformung der sozialökonomischen Beziehungen, kurz, den Übergang zum Kommunismus …«. In »Mein Leben in der Diplomatie« erörtert sie die oben genannten Aussagen.

Ihre wohl bekanntesten belletristischen Erzählungen heißen »Wege der Liebe« [6]. Drei Geschichten handeln von Frauen, die nach der Oktoberrevolution ihr Glück in der Liebe suchen, jedoch an konservativen Familienverhältnissen und an Männern scheitern, die unfähig sind, Frauen als ihnen ebenbürtig anzuerkennen. Gewiss auch aus ihren eigenen Erfahrungen beschreibt sie, wie sich diese Frauen mit gesellschaftlich nützlicher Arbeit emanzipieren.

Eine andere Kollontai?

1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, kehrt Alexandra Kollontai aus dem diplomatischen Dienst nach Moskau zurück.

Während ihrer langjährigen Tätigkeit im Ausland und auch danach bis zu ihrem Tod 1952 blendet sie die Ereignisse im Heimatland während der Stalin-Periode aus.

Über die Ursachen ihres Schweigens kann es nur Vermutungen geben.

Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die Mehrheit der damaligen Sowjetbürger Stalin bewunderte, denn er hatte das Volk gegen den faschistischen Krieg vereint und über diesen gesiegt. Churchill bezeichnete Stalin als großen Kriegsherrn, was den skandinavischen Ländern, in denen Kollontai agierte, nicht verborgen blieb.

Sicher, ihre politische Zurückhaltung verwundert, denn Kollontai musste bereits nach Lenins Tod erleben, dass viele Errungenschaften der Oktoberrevolution, auch die von ihr bewirkten wie das Scheidungsrecht, erschwert und das Abtreibungsrecht abgeschafft sowie Reformkonzepte in der Bildungs- und Erziehungsarbeit ungültig gemacht wurden. Kollontai, die gewöhnlich gegen Autoritäten rebellierte, tat es gegenüber Stalin nicht. 

Stützte sich ihre Ergebenheit auf Dankbarkeit, auf ihre an ihn 1921 gerichtete Bitte um eine neue Aufgabe, worüber er sich erfreut zeigte und sie in den Auslandsdienst schickte? [7]

Wollte sie ihr Land vor der Zwiespältigkeit Stalins schützen?

Hatte sie selbst Angst vor den Repressalien, die so viele ihrer führenden Landsleute traf? Darunter auch ihren Mann, Pawel Dybenko, Admiral der Marine, von dem sie zwar getrennt war, der 1938 den Trotzkisten zugerechnet, erschossen wurde.

Wollte sie nicht auf ihre Privilegien, die sie als Diplomatin besaß, verzichten?

War es die Sorge um das Schicksal ihres Sohnes, der sie auf vielen Reisen begleitet hatte und inzwischen eine eigene Familie besaß?

Vielleicht ist es die Summe all dessen? Es bleibt wohl ihr Geheimnis bis ggf. Archive etwas aussagen können, auch darüber, warum ihr kein Nachruf zuteil wurde.

Dass es Kollontais »gesamtes Lebenswerk zur Disposition stellt«, wie es von Steve Hollasky (ein Dresdner Linker) in »Geschichte des Widerstands« heißt [8], teile ich nicht. Festzuhalten ist, sie war tief mit ihrem Land und Volk verbunden und wollte leben.

Wieder in der Heimat ereilte Alexandra Kollontai ein Schlaganfall, der sie linksseitig lähmte und auf fremde Hilfe angewiesen machte.

Seit 1946 fungierte die weltoffene Frau offiziell als gefragte Beraterin des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten. Wenn Freunde oder Diplomaten sie besuchten, so erzählte sie in ihrer Autobiografie, »kaschierte ich meine Invalidität mit eleganter Garderobe und Schminke im aufrechten Sitz«.

Ihr Credo bleibt: Ohne Sozialismus keine Gleichstellung der Frau und ohne Gleichstellung der Frau kein Sozialismus.

Im März 2022 erscheint im Berliner Dietz Verlag:

 »Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben«, herausgegeben von Katharina Volk, in der Reihe »Biografische Miniaturen«: ca. 144 Seiten, mit Abb., Broschur, 12,00 €, ISBN 978-3-320-02393-5.

 

Anmerkungen:

[1]  31. März 1872 (greg.) – 9. März 1952.

[2]  50 Klassikerfrauen – Verlag Anaconda 2016.

[3]  Aus Kollontais Notizbüchern der letzten Jahre 1945 – 1951.

[4]  Autobiografische Aufzeichnungen – Dietz Verlag 1980.

[5]  »Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung« – Manifest Verlag 2021.

[6]  Malik-Verlag 1925 / Nachdruck Verlag »Der Morgen« 1982.

[7]  Helmut Steiner, Leibniz-Sozietät – Vortrag.

[8]  »Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung« – Manifest Verlag 2021.

 

Mehr von Heide Hinz in den »Mitteilungen«: 

2021-02: 19. Februar 2011: Dresden nazifrei

2020-02: Die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 und das unmittelbare Danach

2019-09: Aus meinem Reisebericht