Erste Einschätzung des Parteitages
Ellen Brombacher, Berlin
In den nächsten Wochen werden die Mitglieder unserer Partei in einer Urabstimmung über das auf dem Erfurter Parteitag angenommene Programm entscheiden. In Erfurt stimmten 503 Delegierte (96,9%) für das Programm. Vier Delegierte votierten dagegen, und zwölf enthielten sich der Stimme. Von insgesamt 1.400 Änderungsanträgen wurden 350 tatsächlich behandelt, von denen 18 eine Mehrheit fanden. Nicht behandelt wurden all jene Anträge, die durch eine Blockabstimmung de facto unter den Tisch fielen. In einer Blockabstimmung entscheiden die Delegierten zunächst darüber, ob ein jeweiliger Antragsabschnitt so belassen wird, wie z.B. der Parteivorstand diesen eingereicht hat, oder ob Veränderungen gewünscht werden. Nur wenn diese gewünscht werden, wird über die einzelnen Änderungsanträge abgestimmt. Eine Reihe von Blockabstimmungen wurden direkt vom Parteivorstand erbeten, damit die vor dem Parteitag erzielten Kompromisse nicht noch einmal prinzipiell in Frage gestellt werden. Es ging dabei um den Arbeitsbegriff, den öffentlichen Beschäftigungssektor, die Passagen zu Israel, die Friedenspolitik und die Haltelinien, die als Kriterium einer Regierungsbeteiligung der Linkspartei dienen sollen. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Thomas Hecker für sein Wirken in der Antragskommission und an Friedrich Rabe für seine Arbeit im Tagungspräsidium.
Ohne hier schon eine präzise Wertung vornehmen zu wollen, ist bei nur achtzehn Änderungen eines sicher: An der auch von der KPF von Anbeginn befürworteten Grundlinie, die sowohl den ersten Entwurf vom März 2010 als auch den Leitantrag vom Juli dieses Jahres charakterisierte, hat sich substantiell nichts geändert. Diese Feststellung könnte zu der Annahme verführen, eine mehr als anderthalbjährige Programmdebatte sei ohne wesentliche Ergebnisse geblieben. Doch die Dialektik ist eine andere: Gerade die Intensität und nicht zu unterschätzende Breite der Programmdebatte, die Ernsthaftigkeit, mit der sie erfolgte, die Sorgfalt, mit der Änderungsanträge verfaßt wurden – viele darauf gerichtet, das linke Profil der jeweiligen Entwürfe weiter zu schärfen – waren der demokratische Beleg dafür, daß eine Mehrheit der Mitglieder unserer Partei zwar eine Verbesserung der jeweiligen Entwürfe befürwortete, aber nichts an deren antikapitalistischem, antifaschistischem und antimilitaristischem Charakter ändern wollte. Das war auch meine Erfahrung in knapp fünfzig Veranstaltungen, die sich entweder direkt mit dem Programmentwurf befaßten oder auf denen dieser zumindest eine große Rolle spielte.
Hätte vor allem der sechzehn Monate diskutierte 1. Entwurf nicht soviel Rückhalt an der Parteibasis gehabt, er hätte die Zeit bis zum Programmkonvent am 7. November 2010 kaum überlebt. In den August-Mitteilungen 2011 haben wir die Etappen der Angriffe, primär auf den 1. Entwurf, beschrieben. Da waren anfänglich die frontalen, vor allem durch das fds. Der Entwurf, so hieß es, sei nicht zustimmungsfähig, beschreibe ein Horrorszenario und sei weder tauglich für den Alltag, noch enthielte er brauchbare Zukunftsvorstellungen. Das verfing nicht an der Basis der Partei. Dann folgten ab Jahresbeginn bis in den Sommer 2011 hinein zermürbende Debatten, die keinerlei praktischen Nutzen hatten. Dafür aber vermittelten sie den Eindruck, die LINKE sei ein von den Interessen der Menschen abgewandter Streithaufen. Das blieb nicht ohne Einfluß auf die verschiedenen Landtags- und Kommunalwahlen. Es wäre allerdings verkürzt, diese im übrigen differenziert zu bewertenden Wahlergebnisse vorrangig auf innerparteiliche Auseinandersetzungen zurückzuführen. Wie auch immer: Die innerparteilichen Auseinandersetzungen wurden als Ausdruck von Führungsschwäche interpretiert und davon abgeleitet Personaldebatten entfacht. Diese wiederum boten die Möglichkeit, zeitweise die Programmdiskussion zu überlagern. Die Mainstream-Medien begleiteten diese destruktiven Prozesse mit Häme und stilisierten jede Personalspekulation aus der Partei hoch. Auch all das hat nicht die gewünschten Ergebnisse für die Gegner der Grundlinie des Programms gebracht.
Die den Gesamtverlauf der Programmdebatte charakterisierende Haupttendenz der Bewahrung der Grundlinie des Entwurfs bzw. des Leitantrags widerspiegelte sich auch im Parteitagsverlauf. Sowohl die Reden von Gesine Lötzsch und Klaus Ernst als auch die von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine waren kapitalismuskritisch bis antikapitalistisch und gingen davon aus, daß die LINKE gerade angesichts der sich vertiefenden und zugleich erweiternden Krise, der Kriege und all der anderen elementaren Verwerfungen der Profitgesellschaft mehr gebraucht wird denn je. Gearbeitet werden müsse besonders daran, daß diese objektive Notwendigkeit, mehr als gegenwärtig, Praxis im Alltag wird. Mit parlamentarischen Möglichkeiten ausgestattet müsse unsere Partei vor allem Teil der sich entwickelnden Bewegungen werden, die weltweit für die Interessen der 99% kämpfen.
Das beschlossene Parteiprogramm orientiert letztlich auf einen Systemwechsel – die Überwindung der Diktatur des Profits. Ebenso, wie die Reden der Protagonisten der LINKEN befaßte sich ein großer Teil der Debattenbeiträge und der mündlichen Antragsbegründungen mit den Schwerpunkten Friedenspolitik, Antifaschismus und mit dem Widerstand gegen Sozialkahlschlag und Umweltzerstörung. Der Gedanke des Internationalismus spielte eine größere Rolle als auf vorangegangenen Parteitagen. "Hoch die internationale Solidarität", diese Rufe begleiteten die beeindruckende Rede des Vorsitzenden der griechischen Synaspismos-Partei Alexis Tsipras. Vor allem das Auftreten von Sahra Wagenknecht, aber auch die Darlegungen solcher Genossinnen und Genossen wie Eva Bulling-Schröter, Sevim Dagdelen, Heike Hänsel, Claudia Haydt, Nele Hirsch, Ulla Jelpke, Heidi Kloor, Sabine Lösing, Ida Schillen, Marianna Schauzu, Arne Brix, Martin Handtke, Gerald Kemski-Lilleike, Wulf Kleus, Fabio de Masi oder Tobias Pflüger prägten das kämpferische linke Profil des Erfurter Parteitages. Per Akklamation wurde die Resolution des Parteivorstandes "Occupy – Profiteure der Krise zur Kasse!" angenommen. Einstimmig wurde die Kundgebung und Demonstration am 22. Oktober 2011 in Erfurt zur Schließung der Flüchtlingslager und zur Abschaffung der sogenannten Residenzpflicht unterstützt, ebensolche Zustimmung fand der Antrag von Cuba Sí "Solidarität mit der Jugend und dem Volk von Chile und mit der Linken in ganz Lateinamerika", und beinahe einstimmig wurde der Antrag angenommen "10 Jahre Krieg in Afghanistan: Dem Frieden eine Chance, Truppen sofort raus aus Afghanistan!" Es war kein Zufall, daß der Parteitag mit einer berührenden Episode abschloß: Die erste Strophe der Internationale wurde mit Musikbegleitung gesungen. Dann endete das Band. Ein nicht kleiner Teil von Delegierten blieb im Saal und sang, von der Regie so nicht angedacht, die weiteren zwei Strophen der Internationale.
Noch einmal zurück zum Parteitagsverlauf: Es wurden auch Satzungsfragen behandelt, aus Zeitgründen nicht bis zu Ende. So blieben auch zwei Anträge aus dem Kreisverband Vogtland-Plauen unbehandelt, in welchen gefordert wird, den Zusammenschlüssen der Partei ihre Delegiertenmandate überhaupt zu nehmen, bzw. ihnen nur noch Delegierte mit beratender Stimme zuzubilligen. Die Zeit bis zum Parteitag in Göttingen am 2./3. Juni müssen wir gemeinsam mit anderen Zusammenschlüssen nutzen, um das zu verhindern. In Göttingen wird der Vorstand neu gewählt. Wir werden uns an den sich schon jetzt breitmachenden Spekulationen nicht beteiligen, uns aber sehr wohl darauf einstellen, daß dies im nächsten halben Jahr eine nicht geringe Rolle spielen wird. Und es hat schon begonnen. Wozu mußte Bodo Ramelow in der "Mitteldeutschen Zeitung" Matthias Höhn als möglichen Bundesgeschäftsführer ins Spiel bringen? Warum fordern Wulf Gallert und Klaus Lederer in derselben Zeitung, die Wahl der Parteiführung vorzuziehen und den Wahlparteitag vor die Landtagswahl in Schleswig-Holstein Anfang Mai zu verlegen? Zwar schreibt Klaus Lederer im ND vom 26. Oktober, er überließe die Personaldebatten anderen, aber wozu dann dieser Vorschlag? Jedem, der dies so lesen will, ermöglichen Gallert und Lederer die Interpretation, die Partei mit Gesine und Klaus sei nicht einmal mehr knappe acht Monate handlungsfähig. Oder soll jemand glauben, irgendwer wolle die Vorstandswahlen vorziehen, um die jetzige Führung zu bestätigen? Auf der Berliner KPF-Aktivberatung forderten die Genossinnen und Genossen, diese erneute, in der Sache zerstörerische Personaldebatte sofort wieder zu beenden.
Es ist verantwortungslos, den Erfolg des Parteitages durch das Wiederauflebenlassen dieser Personalspekulationen bereits einen Tag danach in Frage zu stellen. Es ist anderes zu tun. Eine erfolgreiche Urabstimmung über das Programm ist zu organisieren. Zur Teilnahme an den Occupy-Bewegungen ist zu mobilisieren. Unsere Mitwirkung an antifaschistischen Aktivitäten ist zu gewährleisten, nicht zuletzt am 18. Februar zur Verhinderung des Naziaufmarsches in Dresden. Die Luxemburg-Liebknecht-Ehrung ist vorzubereiten. Und selbstverständlich sollten wir unsere Genossinnen und Genossen in Schleswig-Holstein im Wahlkampf unterstützen – gerade weil ihre momentane Ausgangslage nicht günstig ist. Arbeiten muß diese Partei und nicht sich erneut in Debatten zerreiben, in denen es um alles Mögliche geht, nur nicht um diejenigen, denen wir eine Hoffnung sein wollen und müssen.
26. Oktober 2011
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