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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Erinnerungen an Wounded Knee

Victor Grossman, Berlin

 

Indianer - oder Native Americans (etwa "Ur-Amerikaner") - faszinierten Europäer immer. Seit Jean-Jacques Rousseau, nein, noch früher, wurden sie als Wunder betrachtet, oft durch eine recht romantische Brille. Besonders in Deutschland seit den 1920er Jahren entstanden Indianerklubs; und gerade in der DDR, wenn auch Karl May sehr lange nur in Radebeul existierte, sammelten sich in vielen Orten meist junge Leute, die sich mit Perlenmokassins, Friedenspfeifen, schönem Federschmuck, auch Tipis und Langhäusern der verschiedenen Stämme beschäftigten und sich zu großen zentralen Pow-wows trafen. Und diese freundliche Nische wurde als unschuldig und unschädlich betrachtet und mitunter gar gefördert. Manche engagierten sich für die Kämpfe der Indianer; viele blieben eher bei Federschmuck und Tänzen.

Hunger, Krankheit, Morde

Mitten hinein in die Freiluft-Idyllen platzten im Februar 1973, vor vierzig Jahren, die Worte Wounded Knee; eine Ortschaft mit diesem seltsamen Namen - "Verletztes Knie" - sei von Indianern besetzt worden! Jene, die nicht nur Kleidungsunterschiede zwischen Cheyennen und Kiowas kannten, sondern auch etwas von der Geschichte, wussten von der Symbolik dieser Worte.

Bis 1890 war ein Stamm nach dem anderen vom Westwärts-Vordringen der Weißen in meist öde Reservationen verdrängt und dezimiert worden. Die 25 bis 30 Millionen Bisons, für viele Stämme die Hauptnahrungsmittel, waren bis auf kaum einhundert Stück verschwunden, entweder wegen ihrer Felle und ihres Leders, in Europa nach dem Krieg von 1870/71 für Soldatenstiefel sehr begehrt und von den USA für Devisen massenweise exportiert, zum Teil aus Tötungslust oder gerade, um die Indianer auszuhungern. Mehr als vierzig "Indianerkriege" spielten ebenfalls eine blutige Rolle, am schlimmsten wüteten aber Krankheiten - vor allem Masern, Windpocken und Pocken - gegen welche die Indianer keine Immunität aufgebaut hatten. Mitunter sollen absichtlich infizierte Decken an die Indianer verteilt worden sein.

Beim Tiefpunkt um 1890 nun trat ein Prophet namens Wovoka von den Paiuten auf und führte eine Geistertanzbewegung ins Leben, die die Stämme retten sollte. Man kreiste mit Tanzschritten und Zauberworten und bat um die helfende Rückkehr der früheren Generationen. Durch besondere Kleidung kämen keine Kugeln. Diese noch friedliche Bewegung verbreitete sich schnell unter den noch Gebliebenen, und die USA-Regierung bekam Angst.

Daher beschloss man, den wohl beliebtesten Indianerführer, Sitting Bull (Thathanke Iyotake), offiziell zu verhaften, wohl auch aus Rachegelüsten wegen der nicht überwundenen Niederlage von General Custer in der Schlacht am Little Big Horn 1876, in der Sitting Bull mitgekämpft hatte. Man schickte Indianer-Polizisten, die den 59-Jährigen hinterrücks erschossen und seine Leiche verstümmelten.

Verängstigt versuchte eine Restgruppe der Minneconjou-Lakota-Sioux, die Mehrheit Frauen und Kinder, mit dem Häuptling Spotted Elk (Hehaka Gleska) sich über die Grenze nach Kanada zu retten. Doch stoppte sie eine USA-Kavallerie-Einheit mit 500 Mann; sie sollten in ein Militärlager nach Nebraska gebracht werden. Während sie in der Gegend um Wounded Knee kampierten, forderte der USA-Oberst sie auf, alle Feuerwaffen abzugeben. Er war mit dem Resultat unzufrieden und befahl erst eine Untersuchung der Zelte, dann Leibesvisitationen. Bei einem Indianer, der klagte, er hätte viel Geld für sein Gewehr ausgegeben und wollte es nicht hergeben - in manchen Berichten hieß es, er wäre taub und verstand den Befehl nicht - ist beim Gerangel ein Schuss abgegangen.

Die Soldaten begannen sofort zu feuern, auch aus vier Kanonen von den umringenden Höhen. Ein wildes Massaker begann, vom brutalen Hass getrieben, wobei Frauen mit kleinen Kindern durch die eisigen Schneehügel gejagt und getötet wurden. Es starben etwa 300, darunter auch der Häuptling - und 29 Soldaten, meistens durch Kugeln der eigenen Leute. Wegen des aufkommenden Schneesturms ließ man die toten Indianer liegen; drei Tage später warf man sie in ein Massengrab. Den letzten Widerstand bewaffneter Indianer hat man medaillenreif niedergeschlagen; der Name Wounded Knee erhielt eine besondere, wenn auch sehr traurige Bedeutung. Auch noch 82 Jahre später.

Mit Panzern und Flugzeugen

Unter den dezimierten Stämmen entwickelte sich nur langsam ein neues Bewusstsein und der Wille, ihre Souveränität und ihre Kultur wieder zu verteidigen, ja, zu retten, nun gegen die Versuche der Behörden und der anderen Mächtigen, sie zu armen, zahmen Touristenattraktionen zu reduzieren, zu heruntergekommenen Anbietern von Kunstschmuck und Decken, oder befiederten Unterstützern auf Wahlkampffotos, während man ihre Fischgründe verseuchte oder leerte und ihre noch verbliebenen Weidegebiete durch Kohle-, Gold- oder Uranbergbau verödete und vergiftete. Durch Alkohol- und Drogensucht und die Bestechung mancher Führer wurde ihr Widerstand gelähmt.

Auf der Pine Ridge Reservation in Süddakota, in einer der ärmsten und ödesten Gegenden der USA, wurde 1972 einer der flagrantesten der Gekauften, Dick Wilson, ein Oglala-Sioux, Ortsvorsteher. Anfangs galt er als fortschrittlich, doch bald wechselte er die Seiten, baute eine kleine Diktatur auf, die von Korruption lebte und, um seine Position zu schützen, von einer "Garde" von brutalen Schlägern gehalten wurde. Später sagte ein Mitglied dieser Garde aus, sie hätte mit dem FBI zusammengearbeitet.

Im Februar 1972 war ein Indianer von der Pine Ridge Reservation (wo Wounded Knee liegt) an einem Samstagabend, alkoholisiert, von ebenfalls betrunkenen Weißen zusammengeschlagen und fast völlig nackt zur Gaudi der Anwesenden in einen Tanzsaal der rechten Kriegsveteranenorganisation geworfen worden. Acht Tage später wurde er in einem alten Wagen gefunden - totgeschlagen. Wegen der energischen Proteste einer jungen Indianerorganisation, American Indian Movement (AIM), kam es zu einem Prozess. Doch wurden nur zwei der fünf Täter verurteilt, und nur wegen Totschlags, nicht Mords, zu milden Urteilen. Die Empörung wuchs und mit ihr das Prestige der kämpferischen AIM, erst recht in Pine Ridge, woher der Ermordete stammte.

Da Wilson sich mit dem Vertreter des Amts für Indianerangelegenheiten (BIA) in Washington immer mehr vom Volk entfernte, gegen die AIM intrigierte und die Korruption und Gewalt noch steigerte, beschloss der Rat der Älteren, ihn abzusetzen. Wilson konnte dies mit Tricks verhindern, doch wollten die Bewohner nicht mehr von Washington und dessen Marionetten beherrscht werden. Sie forderten echte Souveränität, wie in den alten Verträgen vereinbart, und sie riefen die unter Indianern immer beliebtere und stärkere AIM um Unterstützung an. Das konnte Washington genau so wenig tolerieren wie es die Schwarzen Panther der Afro-Amerikaner akzeptierte. Schnell eskalierte die Konfrontation; nun umringte die Regierung den kleinen Ort Wounded Knee - der am 27. Februar 1973 von Aktivisten besetzt worden war - mit 16 Schützenpanzerwagen, 120 Gewehren mit Zielfernrohren, 20 Granatwerfern und 400.000 Schuss Munition, während oben ein "Phantom"-Jagdflugzeug und drei Hubschrauber kreisten. Etwa 200 Oglala zogen in fünf Häuser und eine Kirche des Ortes ein und verbarrikadierten sich; sie hatten nur 50 Gewehre, die Hälfte kaum noch nutzbar. Die elf Geiseln, die sie mitnahmen, solidarisierten sich bald mit ihnen. Sie forderten die Absetzung von Wilson und des mit ihm handelnden USA-Beamten sowie alle die Souveränitätsrechte, die ihnen im Vertrag von 1868 versprochen wurden. Nun kamen doch AIM-Aktivisten zur Hilfe, darunter Russell Means (s. Abb., links) und Dennis Banks, zwei führende junge Kämpfer. Nach einer Beratung am 11. März erklärten auch die Älteren sich entschlossen, wie im Vertrag vereinbart, künftig als Volk der Oglala die Unabhängigkeit anzustreben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Kampfbereitschaft der Indianer verstärkt. Nicht wenige hatten als Soldaten gedient und, wie damals alle entlassenen Soldaten, bekamen dadurch die Möglichkeit zu studieren. Es entstand eine neue Schicht von jungen ausgebildeten Indianern, die Englisch gut konnten, zum Teil von den Reservationen in die Städte gezogen, aber nicht so sehr integriert waren, dass sie ihre alte Kultur aufgeben wollten. Es gab im November 1969 eine Sensation, als eine Gruppe, meist Studenten - sie nannten sich "Indianer von allen Stämmen" -, die als Gefängnis aufgegebene Insel Alcatraz in der Bucht von San Francisco einnahm, um sie als Indianerzentrum einzurichten. Erst im Juni 1971 wurden die letzten vertrieben. Es folgten mehr Aktionen; im November 1972, wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen, zogen 1.500 Bewohner der Reservationen und Indianerghettos mit 20 Forderungen nach Washington und besetzten für einige Tage das Amt für Indianerangelegenheiten, das sie eher als Feind denn als Freund betrachten mussten. Sie klagten an: "Die größte Armut in den Vereinigten Staaten herrscht unter den Indianern. 85 Prozent leben in unzulänglichen, ständig weiter verfallenden Häusern. Die Arbeitslosenziffer beträgt 47 Prozent, die Lebenserwartung 42 Jahre".

Dieser Kampfgeist beseelte auch die Besetzung von Wounded Knee und verängstigte viele in der Regierung, die anfangs auf eine Belagerung mit Aushungern setzte. Doch in dieser unwegsamen, zerklüfteten Gegend kannten die Indianer viele Schleichwege; durchkommen konnten neben Lebensmitteln und Medikamenten etwa 200 zusätzliche Kämpfer, meist Oglala. Bald wurde die Belagerung in der ganzen Welt bekannt, Sympathie mit den Indianern wuchs ständig, und andauernde Demonstrationen von Mitgliedern der Sioux, Cherokesen, Navajos und Winnebagos vor den UNO-Gebäuden vergrößerten noch weiter die Wirkung.

Die Männer vom FBI und der Nationalgarde wurden wütender und schossen schärfer. "Es war wie im Krieg in Vietnam", sagte ein früherer Soldat. Meistens schützten sich alle geschickt, doch nachdem ein zweiter Oglala Lakota starb, stimmten die führenden Oglala schließlich am 8. Mai, nach 71 Tagen, einem Frieden zu. Es sollte eine Amnestie für alle Teilnehmer geben; sie wurde nicht eingehalten, sehr viele wurden belangt.

Während des Prozesses nahm der Hollywood-Star Marlon Brando an den Gerichtsverfahren als Beobachter teil, um damit die Angeklagten - darunter die AIM-Führer Dennis Banks und Russell Means - öffentlichkeitswirksam zu unterstützen. Dann, als Brando den Oscar für seine Rolle in "Der Pate" bekommen sollte, schickte er eine junge Indianerin hin in einem Protest gegen die schlechte Behandlung der Indianer durch die Filmindustrie.

Nur wenige der Versprechen der Regierung wurden eingehalten, demokratische Verhältnisse blieben hart umkämpft und Dick Wilson konnte erst 1976 als Amtschef abgesetzt werden. Bis dahin wurden etwa sechzig Menschen getötet, sicherlich als Opfer von Dick Wilsons Rache.

Hoffnung für eine neue Kraft

Dennoch waren die Ereignisse in Wounded Knee bedeutsam; einige bessere Gesetze konnten noch erlassen werden und viele Amerikaner erfuhren erstmalig von den Sorgen und Nöten der Indianer. Die Inspiration reichte weit; als Teilnehmer der Belagerung bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten im Sommer 1973 in Berlin ankamen, war die begeisterte Begrüßung überwältigend. Sie galten als wahre Helden!

Doch in späteren Jahren erlebten die Indianer, zum Teil gerade durch die Verbesserungen, Probleme einer völlig anderen Art als die Kanonen von 1890 oder die Panzerwagen von 1973. Auf vielen Reservationen, die ja einen anderen Gesetzesstatus besitzen als das umliegende Land, denn sie besitzen eine gewisse Autonomie, wurden Casinos errichtet, die Glücksspieler in großer Zahl anlocken, zu Wohlstand von manchen führen und zu Reichtum von einigen, aber jede Menge von Korruption verursachen und damit Verbindungen zu miesen Politikern und Gangstern mit der folgenden Schwächung von früherem Kampfgeist.

Dennoch leidet immer noch ein großer Teil der Ur-Amerikaner an Armut, schlechter Bildung, schlechter ärztlicher Versorgung und dem alten Problem der Alkoholsucht, die geradezu von einer großen Reihe von Geschäften an den Rändern jener Reservationen gefördert wird, wo Alkoholverkauf noch verboten ist. Die USA-Kommission über Bürgerrechte stellte im September 2004 fest: "Es ist schon lange zu beobachten, dass Ur-Amerikaner (Native Americans) in schockierender Zahl an Diabetes, Alkoholismus, Tuberkulose, Selbstmord und anderen Gesundheitsproblemen sterben. Noch neben den besorgniserregenden Todesraten leiden Ur-Amerikaner unter einem merklich niedrigeren Gesundheitsstand und einer unverhältnismäßig höheren Krankheitsrate als alle anderen Amerikaner."

Gerade in Krisenzeiten, wie den jetzigen in den USA, sind es neben den schwarzen Amerikanern und den Latinos immer wieder die Indianer, die häufig unter der Gewohnheit vieler amerikanischer Polizisten, Staatsanwälte und Richter leiden, farbige Menschen am schnellsten, am meisten und am längsten gnadenlos einzusperren.

Das Symbol dafür ist der Fall Leonard Peltier. Gerade auf der Pine-Ridge-Reservation, wo Wounded Knee liegt, provozierten immer wieder FBI-Agenten. 1975 wollten sie jemanden verhaften, nochmals aus dubiosem Grund. Doch als sie unerlaubt in eine private Ranch eindringen wollten, setzten sich einige Indianer dagegen zur Wehr. Im Lauf der folgenden Schießerei starben der AIM-Aktivist Joe Stuntz und zwei FBI-Agenten. Von den vier AIM-Mitgliedern, die darauf verhaftet wurden, wurden zwei freigesprochen, bei einem wurde das Verfahren eingestellt. Doch der vierte, Leonard Peltier, wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Es stellte sich aber heraus, dass die Hauptzeugin nur unter stärkstem Druck durch die Polizei gegen ihn aussagte und dabei log. Auch, dass alle Indizien - lange vom FBI verheimlicht - die Unschuld von Peltier vermutlich hätten beweisen können. Und auch für ihn müsste der Freispruch aus dem anderen Prozess gelten, wegen "Notwehr in einer Bürgerkriegssituation", durch systematischen Terror von FBI-Agenten und korrupten Sicherheitskräften der Stammesregierung hervorgerufen, die auch den Wounded Knee-Aufstand von 1973 mit ausgelöst hatten. Dennoch ist jeder Versuch, einen neuen fairen Prozess zu bekommen, abgelehnt worden. Peltier wurde wegen seiner Aktivistenrolle bei mehreren früheren Kämpfen besonders gehasst. Also wurde sein Antrag auf Bewährung 2009 wieder abgelehnt; die nächste Anhörung wird erst 2024 stattfinden, wenn der jetzt 68-Jährige 80 sein wird; ansonsten bleibt er bis 2040 im Gefängnis. Nelson Mandela, Bischof Tutu, der Dalai Lama und viele andere baten um eine Amnestie für den recht kranken, erblindenden Leonard Peltier, doch er bekam keine Bewährung und keine Begnadigung, auch nicht von Präsident Clinton und bisher nicht von Obama.

Der Kampf für ihn und um ein besseres Leben für alle Indianer geht weiter. In den Wahlen von November 2012 konnten sie, wenn auch nicht zahlreich, mehrere Wahlkämpfe beeinflussen; in zwei Fällen waren die Stimmen der Indianer bei der Wahl für den US-Senat maßgeblich; ein Demokrat wurde überraschend wiedergewählt in dem ansonsten sturen Republikanischen Bundesstaat Montana, und eine neue Senatorin, eine Demokratin, gewann äußerst knapp im ebenfalls stockreaktionären Staat North Dakota; in beiden Fällen lieferten Indianer die nötigen Stimmen. Dabei entdecken sie neue Kraft, wie auch kleinere Gruppen, gut organisiert, gute Ziele erreichen können. Sie werden zunehmend Teil der sich bildenden neuen potentiellen Kraft von Schwarzen, Latinos, Indianern, auch vielen Jugendlichen, bewussten Frauen und Gewerkschaftsmitgliedern. Diesmal schlugen sie die Romney-Leute. Morgen können sie vielleicht eine unabhängige Kraft werden. Sie wird gewiss in den kommenden Jahren gebraucht - und der Mut von Wounded Knee 1973 wird dabei ein gutes Symbol sein.

Den 19. Januar 2013

 

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2012-04: Guernica und Heute

2010-03: Über einen Konsens der Linken zu Fragen des Nahen Ostens und des Antisemitismus

2009-06: Was ist denn ein Unrechtsstaat? – Aus amerikanischem Blickwinkel