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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Was ist denn ein Unrechtsstaat? – Aus amerikanischem Blickwinkel

Victor Grossman, Berlin

 

Je nach der Richtung, aus der man kommt, kann eine Landschaft ganz unterschiedlich aussehen. Schon bald nach meiner Ankunft in der DDR 1952 bemerkte ich unangenehme Flecken. Anfang der 50er Jahre gab es davon nicht wenige, oft sehr schmerzhafte. Weil ich aber eine völlig andere Herkunft hatte, kam mir manches anders vor als den Hiesigen. Meine Augen waren im Erkennen von Unrecht auch gut geschult, denn ich war gerade aus den USA der McCarthy-Jahre geflüchtet. Als linker Student mußte ich mich schon daran gewöhnen, daß man am Telefon keine Namen nennen soll und daß alles, was ich machte, vom FBI bespitzelt und registriert sein konnte. Jahrzehnte später, als ich Teile der Akte über mich aus Washington bekam, erfuhr ich, wenn auch eine Menge durchschwärzt war, daß die damaligen Ängste berechtigt waren. Was ich bei einem Picknick sagte, wem ich Geld spendete, daß ich einen Verband schwarzer Studenten im Süden und einen für Hilfe für spanische Flüchtlinge unterstützt hatte, wo meine Cousine arbeitete, alles wußten sie. Daher haben Spitzeleien und auch Denunziationen in der DDR mich besorgt gemacht, geärgert, zuweilen ein wenig eingeschüchtert, aber kaum überrascht. Das kannte ich alles von zu Hause.

Nach 1961 fühlte ich Sympathie mit jungen Leuten, die erst mit 60 oder 65 Aussicht auf eine Reise nach Paris, Pisa oder Pasadena erhoffen konnten. Doch fiel mir immer 1947 ein, als ich ein Studentendelegierter war, aus Italien kommend, und mir mein Paß verbot, vom Schiff aus auch nur einen Fuß nach Jugoslawien zu setzen, das damals als Feind der USA galt. Später kamen Nordvietnam, Kuba und andere offizielle Feinde hinzu. Nun, welche Länder westlich der Elbe waren der DDR nicht feindlich? Gewiß, die Zahl der verbotenen Länder war eine ganz andere, größere, doch war das Prinzip nicht ähnlich? "In feindliche Länder lassen wir unsere Bürger nicht!" Ich dachte daran, wie dem großen Sänger Paul Robeson sowie vielen Linken in den USA von Washington jahrelang jegliches Reisen ins Ausland verboten wurde. Das Nachbarland Kanada – wo sonst jeder ohne Paß und Visum hindurfte – durfte Robeson weder besuchen noch konnte er dort singen.

Damals akzeptierten Durchschnittsamerikaner die Bespitzelung und Denunziationen des Unamerikanischen Tätigkeitskomitees vor den Fernsehkameras, obwohl sie viele Menschen ruinierten, Familien zerstörten, einige zum Selbstmord trieben. Das sei notwendig gewesen, um die Heimat vor der "roten Gefahr" zu schützen. Jede Regierungsmacht, meine ich, ob kapitalistisch, kommunistisch, demokratisch oder faschistisch, reagiert schon aus Selbsterhaltungstrieb auf jede Gefahr, die ihre Existenz bedroht oder, wie sie meint, bedrohen könnte. Die Härte der Gegenmaßnahmen hängt von vielem ab, vom Grad der Gefahr, von guten oder schlechten Landestraditionen, auch von der Personengeschichte der Führenden. Die Haßkampagne der McCarthy-Leute war eher gegen innere Gefahren gerichtet, wie gegen die noch nicht völlig gezähmte Gewerkschaftsbewegung und die langsam wachsende Kraft der Schwarzen. Die Angst vor einer äußeren Gefahr wurde nur vorgespielt, denn wann hat die UdSSR die USA wirklich bedroht?

Gab es aber keine echte Gefahr für die Staatsmacht der DDR? Die Regierung in Bonn hat deren Tod zu offizieller Politik gemacht; es gab dafür sogar ein Ministerium. Offizielle Karten zeigten nicht nur die DDR, sondern Teile von Polen und der UdSSR als "verwaltete" Gebiete der Bundesrepublik. Die Waffen der Bundeswehr zielten auf die DDR und wurden von Männern kommandiert, die, soweit ich weiß, ohne eine einzige Ausnahme hohe Positionen in der Wehrmacht gehalten hatten. Viele begingen allerlei Kriegsverbrechen. Einige der höchsten Kommandeure – Trautloft, Trettner – hatten schon Bomben auf Madrid und Guernica geworfen, ehe sie Warschau, Coventry und Leningrad terrorisierten. Und diese echte, offizielle Bedrohung lag nicht Ozeane entfernt von der Hauptstadt wie bei Washington, sie stand unmittelbar daneben. Wohl noch bedrohlicher waren die täglichen Angriffe im Rundfunk und Fernsehen von einer Art, die ich gut aus den USA kannte. Schließlich wurde der RIAS von der CIA gelenkt. Waren in der DDR mildere Gegenmaßnahmen zu erwarten als die in den USA gegen eine eigentlich imaginäre Drohung aus Moskau? Auch wo ich tieftraurig erkannte, daß die Gegenmaßnahmen allzu oft mehr schadeten als schützten – der Vergleich mit meiner Heimat blieb mir immer vor Augen.

Repressionen bestehen auf irgendeine Art in jedem Staat. Bei relativer Zufriedenheit können sie milder bleiben. "Laßt die kleinen Störenfriede sich fast ungehört abstrampeln!" denkt man. Relative Zufriedenheit stammt ihrerseits weitgehend von ökonomischem Wohlstand, zumindest der Mehrheit. Doch woher stammt Wohlstand? In den USA in nicht geringer Masse von billigen Einfuhren, ob von Schuhen oder Erdöl, ob von Eisenerz, Bananen oder Blumensträußen. Außerdem von vielen Auslandsmärkten, ob für Autos, Marlboros, Hamburger oder Hollywood-Filme. Vermindern sich diese Möglichkeiten, schrumpft die Zufriedenheit. Organisiert sich der Unwille, kann er eine größere Gefahr werden, und die Gegenmaßnahmen verstärken sich, auf raffinierte Art in manchen Ländern, gröber oder weniger klug in anderen.

Die Bundesrepublik genoß viele der gleichen Möglichkeiten wie die USA und konnte die meisten Bürger mit schönen Autos, Eigenheimen und recht guten Sozialmaßnahmen befriedigen. Der DDR waren viele Möglichkeiten unerreichbar, aus geographischen, historischen und anderen Gründen, sowohl vermeidbaren wie unvermeidbaren. Sie konnte Sozialmaßnahmen schaffen, mit die besten auf der Welt, sie konnte Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit fast aus dem Wortschatz schaffen, konnte geldlos Bildung, ärztliche Hilfe anbieten, die Rechte der Frauen und Chancen für Kinder immer weiter verbessern, Mieten, Fahrkosten, Lebensmittel und Kultur ganz billig bieten. Aber Bananen, schöne Wagen, Telefone und Computer konnte sie nicht liefern. Als der Konsumdruck von außen sich immer mehr steigerte, fand sie keinen Weg, die nötige Zufriedenheit zu erreichen. Auch die Repressionen wurden zunehmend kontraproduktiv.

War sie ein Unrechtsstaat? Jeder an der Mauer Erschossene stellt eine Tragik dar. Doch sollte man nicht neben den Kreuzen für die dort Verstorbenen auch Kreuze für jene aufstellen, die in Südafrika beim Kampf gegen Apartheid mit Daimler-Kampfwagen getötet wurden? Für die getöteten Kurden, und die in Chile und ganz Lateinamerikas Ermordeten, durch von der Bundesrepublik materiell und politisch unterstützte Tyrannen? Finden sich für sie keine Kreuze an dieser Mauer? Gewiß, sie waren keine Deutschen! Von den Taten meiner Heimat, von Hiroshima bis Hanoi, von Lumumba in Kongo bis Che Guevara in Bolivien will ich nicht weiter reden. Nun, Mandelas ANC, Allende in Chile, den Norden in Vietnam hat eben die DDR unterstützt. Welche waren damals Unrechtsstaaten, welche nicht?

Ob nicht der Hauptgrund, die DDR als Unrechtsstaat zu verdammen, woanders liegt? Nicht wegen der Mauer; neue Mauern an der Texasgrenze oder in Palästina stören die wenigsten. Nicht wegen der Stasi. Das FBI war nicht netter. Verletzungen der Menschenrechte bei Freundesstaaten – ich nenne nur Saudi-Arabien und Kolumbien – werden schamvoll verschwiegen. Nein, das eigentliche Hauptverbrechen der DDR war es eher, Siemens, Krupp, Thyssen, Bayer, die Deutsche und die Dresdner Bank hinauszuschmeißen und ein Hindernis gegen deren nochmalige Ausbreitung Richtung Osten zu bilden, ob wirtschaftlich oder wieder militärisch. Diese Tat wurde niemals entschuldigt; die Angst davor, daß die Menschen je daran denken könnten, sie zu wiederholen, inspiriert eine tägliche Dosis von hämischen Sendungen und Deklarationen. Überhaupt scheinen mir die ethischen Grenzen zwischen Rechtsstaaten und Unrechtsstaaten gar nicht scharf und klar. Ich nenne nur zwei Namen, die für viele andere stehen: Leonard Peltier, schon 32 Jahre unschuldig in Haft, und Mumia Abu-Jamal, 27 Jahre in Haft und noch mit dem Tod bedroht. Zählt meine USA-Heimat zu den Rechtsstaaten?

 

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2009-01: Eine Reflexion zur Voigt-Grossman-Debatte

2009-01: Die Linke und ihre Sicht auf die USA

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