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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ein Wendepunkt in der Entwicklung der KPD

Prof. Dr. sc. Heinz Karl, Berlin

 

Zur "Brüsseler Konferenz" der KPD (Oktober 1935)

 

Vor 75 Jahren, vom 3. bis 15. Oktober 1935, tagte in Kunzewo, einem Vorort (heute Stadtteil) von Moskau, konspirativ abgesichert, die IV. Reichsparteikonferenz der KPD – in der anschließenden Berichterstattung zwecks Wahrung der Sicherheit ihrer Teilnehmer gegenüber den deutschen Geheimdiensten deklariert als "Brüsseler Konferenz". Es war die erste zentrale, ihren Aufgaben und ihrer Verantwortung nach einem Parteitag vergleichbare Tagung der Partei nach der Errichtung der faschistischen Diktatur. Unter den Bedingungen des barbarischen Terrorregimes in Deutschland war die Durchführung eines statutengemäßen Parteitages nicht möglich.

Neue Klassenkampfsituation

Die Errichtung und Festigung der faschistischen Diktatur bedeutete die bis dahin größte historische Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung – zugleich eine einschneidende Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses in Deutschland, des Kräfteverhältnisses auch innerhalb der herrschenden Klasse zugunsten ihrer reaktionärsten, nach außen und innen aggressivsten Gruppierungen, des Überganges zu einer offen terroristischen und antiparlamentarischen Form des bürgerlichen Staates. Diese Veränderungen waren nicht nur für die Arbeiterklasse negativ, sondern auch für die Mittelschichten und selbst für große Teile der Bourgeoisie. Sie steigerten sprunghaft den Militarismus und beschworen eine neue Kriegskatastrophe herauf. Sie raubten den Volksmassen alle legalen Möglichkeiten des Kampfes für ihre Lebensinteressen und waren voraussichtlich auf friedlichem Wege nicht zu beseitigen, ja kaum abzuschwächen. Vor einer solchen Situation hatte die deutsche Arbeiterbewegung noch nie – auch nicht annähernd – gestanden.

Die KPD stand vor der Aufgabe, sich auf diese grundlegend veränderte, radikal verschlechterte Klassenkampfsituation einzustellen, die neue Konstellation der Klassenkräfte zu erfassen, sich über die daraus resultierenden Erfordernisse und Möglichkeiten klar zu werden und entsprechende praktische politische Schlußfolgerungen zu ziehen, um Veränderungen herbeizuführen. Diese Probleme hatte die Parteikonferenz zu erörtern und Lösungswege zu erarbeiten. Für die KPD waren diese Jahre ihre opferreichste Zeit, aber auch die der bis dahin höchsten theoretischen und politischen Anforderungen und der tiefgreifendsten Veränderungen in ihrer Programmatik und Politik.

An der Parteikonferenz nahmen 34 Delegierte teil, von denen einige unmittelbar aus Deutschland kamen, andere vor relativ kurzer Zeit, die Mehrzahl längere Zeit illegal gearbeitet hatten. 10 von ihnen hatten bisher dem ZK angehört. 11 Genossen waren als Gäste anwesend. Das EKKI wurde durch die Mitglieder seines Sekretariats Palmiro Togliatti und Dimitrij Manuilski vertreten, ferner waren Delegierte der kommunistischen Parteien Großbritanniens, Frankreichs und Chinas anwesend. [Vgl. Protokoll der "Brüsseler Konferenz" der KPD 1935. Hrsg. v. E. Lewin, E. Reuter u. St. Weber, München 1997, S. 833 f.]

Es referierten Wilhelm Pieck (Erfahrungen und Lehren der deutschen Parteiarbeit im Zusammenhang mit den Beschlüssen des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale) und Wilhelm Florin (Die konkrete Anwendung der Beschlüsse des VII. Weltkongresses der KI). Ergänzende Referate hielten Walter Ulbricht (Die Arbeit in der deutschen Arbeitsfront und der Wiederaufbau der freien Gewerkschaften), Anton Ackermann (Der Kampf der Partei um die werktätige Jugend) und Franz Dahlem (Parteiaufbau und Massenarbeit). Schon die Themen der Referate zeigen, welche Impulse die Ideen des VII. Weltkongresses der Parteikonferenz vermittelten. [Vgl. H. Karl: Volksfront gegen Faschismus und Krieg! In: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE, Heft 7/2010, S. 23-29.]

Ausgehend von der Orientierung des VII. Weltkongresses und ihren neuen Fragestellungen und von der auf dem Kongreß insbesondere von Georgi Dimitroff an der Tätigkeit der KPD geübten Kritik, konstatierte Wilhelm Pieck, daß es der schwerste Fehler gewesen sei, die Bekämpfung der Koalitionspolitik und antikommunistischen Gewaltpolitik der Sozialdemokratie nicht rechtzeitig "in ein richtiges Verhältnis zu dem Kampf gegen den angreifenden Faschismus [zu] bringen". [W. Pieck: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. V, Berlin 1972, S. 183.] Und – anknüpfend an Dimitroff –: "Eine Taktik, die zu einer bestimmten Zeit richtig war, wurde auch dann fortgesetzt, als die Bedingungen des Kampfes andere wurden." [Ebenda, S. 184.] Da die faschistische Gefahr nicht in ihrer ganzen Größe erkannt wurde, wurde nicht das Schwergewicht auf die Verständigung mit der sozialdemokratischen Partei und ihrer Führung gelegt, sondern lange Zeit nur eine Einheitsfront "von unten" angestrebt. Das erleichterte es der SPD-Führung, die die Einheitsfront nicht wollte, die schließlich an sie gerichteten Angebote als "Manöver" abzulehnen.

In ihrer Resolution "Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf aller Werktätigen für den Sturz der Hitlerdiktatur" verlangte die Konferenz eine "neue Einstellung zur Sozialdemokratie" und verurteilte Methoden, statt einer Verständigung mit den sozialdemokratischen Organisationen quasi kommunistische Mitgliederwerbung zu betreiben oder auf "Entlarvung" auszugehen. "Wir müssen rücksichtslos alle sektiererischen Hemmungen bei der Erfüllung dieser Aufgabe in unseren eigenen Reihen überwinden." [Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 1 (im folgenden: Dokumente), S. 300 f]

Anknüpfend an die Bemühungen insbesondere Ernst Thälmanns um eine Verständigung mit der SPD in der Antifaschistischen Aktion 1932 und an die Initiative Walter Ulbrichts für einen konstruktiven Dialog mit prominenten Sozialdemokraten wie Siegfried Aufhäuser 1934, erklärte die Parteikonferenz den "Abschluß von Abkommen von Partei zu Partei" für "unerläßlich" [Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 1 (im folgenden: Dokumente), S. 300 f] und betonte: "Die KPD wird auch weiterhin nichts unversucht lassen, um zu einem Einheitsfrontabkommen mit dem Vorstand der SPD zu kommen." [Ebenda, S. 302.]

Volksfront gegen Hitlerdiktatur

Die "Brüsseler Konferenz" stellte auch für Deutschland als entscheidende Aufgabe "die Vereinigung aller Gegner des faschistischen Regimes" [Ebenda, S. 309.] in der antifaschistischen Volksfront – als Kampfbündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern, Kleinbürgern und Intellektuellen, den in Opposition zum Naziregime geratenden Katholiken, mit früheren Mitgliedern des katholischen Zentrums und selbst konservativen Kräften aus dem von den Nazis aufgelösten "Stahlhelm".

In den Vordergrund stellte die KPD den Kampf

  • "für die Freiheit des werktätigen Volkes,
  • für die Wiederherstellung demokratischer Rechte und Freiheiten,
  • für volle Organisations-, Versammlungs- und Pressefreiheit,
  • für Glaubens- und Gewissensfreiheit,
  • für Gleichheit aller Staatsangehörigen, ohne Unterschied ihrer Religion und Rasse,
  • für die Befreiung Thälmanns, Mierendorffs [Carlo Mierendorff, Reichstagsabgeordneter der SPD], Ossietzkys sowie aller anderen eingekerkerten Antifaschisten und aller wegen Verletzung der volksfeindlichen Nazigesetze in den Kerkern sitzenden Volksgenossen,
  • für eine allgemeine Weihnachtsamnestie!" [Siehe Dokumente, S.320.]

Die KPD rief zum Kampfe "gegen den Wirtschaftskurs der Hitlerregierung,

  • für Teuerungsausgleich und höhere Löhne und Gehälter,
  • für gesteigerte Zufuhr von Lebensmitteln,
  • für erste Winterhilfe an alle Hungernden und Frierenden,
  • für Wiederherstellung der Arbeitslosen- und Sozialversicherung und der Sozialrenten,
  • für Steuererleichterungen und Brechung der Zinsknechtschaft des Mittelstandes und der Bauern,
  • für den freien Verkauf der Arbeitsprodukte der Bauern zu lohnenden Preisen,
  • für Beseitigung der Zwangswirtschaft,
  • für Rückzahlung aller Subventionen, die an Großagrarier und Großindustrielle gezahlt wurden! [Siehe ebenda, S. 322.]

Als Konsequenz der Einheitsfront- und Volksfrontpolitik ergab sich die Frage, was im Falle eines Sturzes des Naziregimes an dessen Stelle treten könnte. Die "Brüsseler Konferenz" erklärte in ihrem Manifest offen, daß es über ihr sozialistisches Endziel "noch Meinungsverschiedenheiten im werktätigen Volke gibt, daß die Mehrheit noch nicht zum Kampf für dieses Ziel bereit ist." Sie schließe nicht aus, daß "sich auch eine Regierung der Einheits- oder Volksfront als möglich und notwendig erweisen kann. Jedenfalls soll und wird das werktätige Volk Deutschlands beim Sturz der Hitlerdiktatur selbst über die Regierung entscheiden." [Ebenda, S. 324.]

Nach der "Brüsseler Konferenz" – und im Zusammenhang mit der Konkretisierung der Volksfrontpolitik – präzisierte die KPD ihre Position in der Regierungs- und Staatsfrage. Am 16. Juni 1936 übergab sie einer Kommission des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront in Paris von Wilhelm Pieck entworfene Vorschläge für die Ausarbeitung einer politischen Plattform der deutschen Volksfront. In diesem Dokument formulierte sie als Kampfziel "die demokratische Republik" und untersetzte dieses Ziel durch ein antifaschistisch-demokratisches Aktionsprogramm. [W. Pieck, Bd. V, S. 359, 365-371, 644; vgl. auch Pieck: Der Kampf um Demokratie, ebenda, S. 380, 384, 386.]

Das Bekenntnis der KPD zur Volksfront, zu einer Volksfrontregierung und zur (antifaschistisch-)demokratischen Republik wurde von Paul Frölich und anderen Vertretern der SAPD (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands) wie auch von der KPD(O) von "links" angegriffen. Ihr wurde eine "opportunistische Unterordnung" der Interessen der Arbeiterklasse unter die Interessen der Bourgeoisie, eine Preisgabe der Idee der proletarischen Revolution unterstellt und darauf beharrt, daß der Faschismus nicht im Bündnis mit bürgerlichen Kreisen bekämpft und geschlagen werden könne, sondern nur durch die proletarische Revolution. Dem liegt offensichtlich ein dogmatisches Unverständnis einerseits der Dialektik des Kampfes um Demokratie und Sozialismus, andererseits der relativen Selbständigkeit des Kampfes um Demokratie zugrunde.

Die von der "Brüsseler Konferenz" vollzogene Wende zu einer konsequenten Einheits- und Volksfrontpolitik wurde durch die Wahl einer handlungsfähigen, kooperativen Parteiführung gesichert. Als Mitglieder des ZK wurden Anton Ackermann, Paul Bertz, Franz Dahlem, Leo Flieg, Wilhelm Florin, Walter Hähnel, Fritz Heckert, Paul Merker, Willi Münzenberg, Wilhelm Pieck, Elli Schmidt, Ernst Thälmann, Walter Ulbricht, Herbert Wehner und Heinrich Wiatrek, als Kandidaten Wilhelm Knöchel, Wilhelm Kowalski und Karl Mewis gewählt. In das Politbüro wurden als Mitglieder Dahlem, Florin, Heckert, Merker, Pieck, Thälmann und Ulbricht, als Kandidaten Ackermann und Wehner gewählt. Für die Zeit der Haft Ernst Thälmanns wurde in seiner Vertretung Wilhelm Pieck zum Vorsitzenden gewählt.

Zur Überwindung der Spaltung

Nach der "Brüsseler Konferenz" verstärkte die KPD ihre Einheitsfront- und Volksfrontaktivitäten; hier ist nicht der Raum, näher auf sie einzugehen. [Vgl. K. Mammach: Widerstand 1933-1939, Berlin 1984, S. 162 ff. u. 239 ff.]. Die im Vorfeld der Konferenz und in ihren Beratungen geführte Auseinandersetzung mit Dogmatismus und Sektierertum trug Früchte. Nebenbei gesagt, verhielt die KPD sich selbstkritisch wie keine andere deutsche Partei. In der SPD waren die richtigen Einsichten des Prager Manifestes von 1934 sehr bald vergessen; ganz abgesehen davon, daß – im diametralen Gegensatz zur Selbstkritik der KPD – auch in diesem Dokument sich kein Sterbenswörtchen über die durch Antikommunismus und Alleinvertretungsanspruch motivierte, durch Repression (und immer wieder vorsätzliches Blutvergießen) gekennzeichnete Gewaltpraxis der regierenden SPD gegenüber der kommunistischen Bewegung findet. Die prominenten Politiker der bürgerlichen Parteien, die im März 1933 dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zugestimmt hatten, leugneten jegliche Verantwortung und verschanzten sich in der Regel hinter der geschichtsfälschenden Behauptung, "Nationalsozialisten" und Kommunisten hätten "von rechts und links" die Weimarer Republik zerstört. Dahinter stand das Bemühen, die deutschen Machteliten – Kapital, Großgrundbesitz, Militärkaste und Staatsbürokratie – von der Verantwortung für den Faschismus zu entlasten.

Mit ihren Erkenntnissen von strategischer Dimension und den folgenden praktischen Schritten war die "Brüsseler Konferenz" – wie Anton Ackermann auf dem 15. Parteitag der KPD 1946 hervorhob – "zu einem Wendepunkt in der Entwicklung der KPD geworden". [Bericht über die Verhandlungen des 15. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands, Berlin 1946, S. 108.]

In dieser Rede arbeitete Ackermann auch den wichtigsten theoretischen Fortschritt heraus, den die KPD im Ringen mit dem Faschismus an der Macht (natürlich im internationalen Diskurs) erzielt hatte: die Erkenntnis der Wahrscheinlichkeit von Übergangsformen des Staates und der Gesellschaft auf dem Wege zum Sozialismus, der entscheidenden Bedeutung solcher Übergangsformen für das Herankommen an eine sozialistische Entwicklung. [Vgl. ebenda, S. 114-116.] Gerade die Nichtbewältigung dieses Problems hatte ja die – im einzelnen mitunter sehr erfolgreichen – großen politischen Anstrengungen der KPD vor 1933 zum Teil paralysiert.

Bemerkenswert schließlich auch die folgende Feststellung Ackermanns: "Die Überwindung unserer eigenen Fehler, die Überwindung des Dogmatismus in unseren Reihen war eine Voraussetzung zur Überwindung der Spaltung, zur Schaffung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands." [Ebenda, S. 116.] Dieser Geist schöpferischer Selbstkritik ging nach 1946 leider mehr und mehr verloren, was äußerst negative Folgen hatte.

Zusammenfassend sei festgestellt: In der Zeit der "Brüsseler Konferenz" und den folgenden Jahren erzielte die KPD – in tiefgehender selbstkritischer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen und Erfahrungen des von ihr zurückgelegten Weges – die wichtigsten theoretischen und politischen Fortschritte ihrer ganzen Geschichte. Alle positiven Ergebnisse der weiteren Politik der SED beruhen im Grunde auf der Umsetzung dieser Erkenntnisse. Daß sie im Laufe der Zeit zwar nicht über Bord geworfen wurden, aber in der Praxis immer weniger gefragt waren, wirkte sich verhängnisvoll auf Theorie und Politik der SED aus.

 

Mehr von Heinz Karl in den »Mitteilungen«: 

2010-07: Volksfront gegen Faschismus und Krieg!

2010-05: Zur Personalstruktur des MfS der DDR und des entsprechenden Behördensystems der BRD

2010-03: Arbeitereinheit rettet Republik