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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ein Traum - aber kein "Träumer"

Victor Grossman, Berlin

 

Häufig, dennoch ganz unterschiedlich, denken viele heute an Martin Luther Kings Rede vor einer Viertelmillion Menschen am 28. August 1963 - vor fünfzig Jahren. Dass seine Worte vor dem Lincoln-Monument eine bewegte, bewegende, mit Ernst, Würde und Entschlossenheit erfüllte Aufforderung gegen Diskriminierung, Bigotterie und die Unterdrückung der schwarzen Amerikaner waren, wird von keinem geleugnet - jedenfalls nicht laut oder öffentlich. Damals rief ihm die Sängerin Mahalia Jackson zu: "Erzähle von dem Traum, Martin!" und King begann mit jener vielleicht improvisierten Benutzung der rhetorischen Anaphora - der emotionalen Wiederholung, wie sie schwarze und weiße Prediger aus den Südstaaten der USA so oft pflegen - um mit acht Sätzen und immer wieder mit den die Herzen ergreifenden Worten "Ich habe einen Traum …" in die Geschichte einzugehen. Die Rede wird in zahllosen Schulen gelesen und gelobt; ein Gelehrtengremium nannte sie die "führende amerikanische Rede des 20. Jahrhunderts".

Tee bei Kennedy

Gerade diese Rede und Kings Betonung auf Gewaltlosigkeit trugen dazu bei, dass der Martin-Luther-King-Tag zum Feiertag wurde - zumindest in Schulen und staatlichen Institutionen (in privaten Firmen wird weniger gefeiert). Der Kampf dafür dauerte 15 Jahre und hatte viele Gegner, nicht zuletzt den Präsidenten Ronald Reagan. Erst als eine Zweidrittelmehrheit des Kongresses es ihm unmöglich machte, mit einem Veto zu blockieren, unterschrieb er, nunmehr fromm lächelnd, mit den Worten: "Lassen wir uns also jedes Jahr am Martin-Luther-King-Tag nicht nur an Dr. King erinnern, sondern uns wieder jenen Geboten widmen, an die er glaubte und die er täglich auslebte: Du sollst mit deinem ganzen Herzen Gott lieben, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich muss glauben, dass, wenn wir alle, Junge und Alte, Republikaner und Demokraten, alles Mögliche tun, um uns an jene Gebote zu halten, dann werden wir den Tag sehen, an dem der Traum von Doktor King Wirklichkeit wird …"

Das sagte Reagan am 2. November 1983. Am gleichen Tag begann eine zehntätige "europaweite" NATO-Kommandostabsübung, wobei ein Atomangriff simuliert wurde. Und noch waren die USA-Streitkräfte auf Grenada, das sie eine Woche zuvor mit Gewalt überfallen und erobert hatten.

Es war zwanzig Jahre später. Doch im Sommer 1963 war die legendäre, friedliche Mobilisierung von fast 200.000 schwarzen und 60.000 weißen Teilnehmern aus den ganzen USA nicht nur wegen der Routenplanung, der Ordner, der Versorgung, der medizinischen und sanitären Einrichtungen kompliziert genug.

Der damalige Präsident John F. Kennedy war zunächst gar nicht von einer solchen Massenkundgebung begeistert. Zwar wollte er doch ein Bürgerrechtsgesetz, fürchtete aber, dass ein so großes, meist von Schwarzen besuchtes Treffen weiße Bürger abschrecken könnte - und er wollte ja 1964 wiedergewählt werden. Erst als die Organisatoren - allerlei Verbände der Schwarzen, einige Kirchen und die große Gewerkschaft der Automobilhersteller - versicherten, dass sie auf "radikale" Forderungen verzichten, die ernsten ökonomischen Probleme der Afroamerikaner nicht zu sehr betonen und nur vereinheitlichte Slogans und Transparente zulassen würden, gab er seinen Segen. Nachdem er im Fernsehen die Kundgebung verfolgt hatte, lud er die Redner dann zum Tee im Weißen Haus ein.

Die kämpferischen Teile der wachsenden schwarzen Bewegung waren nicht alle zufrieden, zumal manche der achtzehn Redner - jeder bekam fünf Minuten Redezeit - im Voraus von den gemäßigten Führenden zensiert wurden. Vor allem John Lewis, ein besonders mutiger Kämpfer jener Jahre, wurde genötigt, seine Rede vorher umzuschreiben, weil er Kennedys Gesetzentwürfe als "zu wenig und zu spät" kritisierte. (Als einer der wenigen noch Lebenden ist er heute Abgeordneter im Kongress.) Dr. King, als Bekanntester und Beliebtester, bekam kurz vorm Schluss mehr als fünf Minuten. Ein Glück, denn gerade seine wunderbare Rede gab dem Tag einen historischen Abschluss.

Manche blieben aber misstrauisch, wie Malcolm X, der das Ganze (wohl überspitzt) als ein "Picknick" abkanzelte. Für sie war Dr. Kings "Liebt eure Feinde"-Botschaft und seine Gewaltlosigkeit, genau wie der wohl symbolhafte Tee mit Kennedy, viel zu zahm. Auch nach Kennedys Ermordung waren sie mit Kings Verbundenheit mit seinem Amtsnachfolger, Lyndon Johnson, nicht zufrieden, obwohl der zwei tiefgehende Gesetze förderte und durchsetzte: das Bürgerrechtsgesetz von 1964, welches Diskriminierung auf vielen Gebieten verbot, und das Wahlrechtsgesetz von 1965, das es Schwarzen in den Südstaaten endlich ermöglichte, zu wählen und gewählt zu werden (und das gerade vor wenigen Wochen annulliert wurde!). Diese Gesetze reichten ihnen nicht, um der Misere in den Großstadtghettos entgegenzuwirken.

Für manche allerdings war King gar nicht zu zahm. Kaum waren die schönen Teetassen im Weißen Haus abgeräumt, da notierte William C. Sullivan, die rechte Hand von J. Edgar Hoover und der FBI-Zuständige für die Bespitzelung, Unterhöhlung und Zerschlagung jeglicher Opposition im Lande: "Angesichts Kings starker, demagogischer Rede gestern steht er nun beim Beeinflussen von großen Massen von Negern weit vor allen anderen Negerführern zusammengenommen. Wir müssen jetzt klar erkennen, falls wir es bisher nicht getan haben, dass er der gefährlichste Neger ist für die Zukunft dieser Nation im Hinblick auf Kommunismus, den Neger und die nationale Sicherheit."

In den Ghettos des Nordens

Nun geschah etwas Merkwürdiges - oder wegen der Genialität von King eigentlich Folgerichtiges. Dieser von den Radikaleren gar als kompromisslerischer Pfarrer, der, wenn er nicht große öffentliche Reden hielt, eher in den Kirchen der Südstaaten zu Hause war (aber auch in deren Haftanstalten), fing an, die Ghettos des Nordens kennenzulernen. 1966 zog er mit seiner friedlichen Kampagne gegen Diskriminierung und Unterdrückung zum nördlichen Chicago, wo schwarze und weiße Viertel besonders scharf getrennt waren. Bald trafen er und seine Mitarbeiter bei Demonstrationen und Märschen auf eine Mauer von rassistischem Hass, der kaum schwächer war als im Süden; der Gewaltgegner King wurde sogar von einem geworfenen Ziegelstein verletzt.

Für die jungen schwarzen Stadtbewohner organisierte er in Chicagos Luxushotel Sheraton ein Treffen, wo er Vertreter der schnellschießenden Banden oder Gangs der Ghettoviertel aufrief, statt sich gegenseitig zu befehden, lieber gewaltlos gegen Rassismus zu protestieren: Gewalt sei nutzlos, betonte er, und ende nur hinter Gittern oder im Grab. Doch merkte er nun besser als zuvor, dass ihre Gewalt aus der Armut, der Diskriminierung und der Hoffnungslosigkeit im Ghetto herrührte. Er forderte von der Regierung einen "massiven Marshall-Plan", um die Viertel, ihre Schulen und ihre Gemeindezentren menschenwürdig aufzubauen, merkte aber schnell, dass die Stadtregierung in Chicago, obwohl ewig von Politikern der Demokratischen Partei beherrscht - und dahinter von Immobilienhaien und ähnlichen Kräften - daran gar kein Interesse hatte, sondern eher auf Polizeistöcke und Schußwaffen setzte. Auch die schmale, wohlständische Oberschicht der Afroamerikaner, in diese Korruption eingebunden, wollte King nicht folgen. Durch seine neuen Erkenntnisse näherte sich King nun den Ansichten von Malcolm X, der zuletzt zunehmend gemerkt hatte, dass der Kampf um eine bessere Zukunft nicht von Schwarzen allein geführt werden konnte - und nicht von der übrigen Welt getrennt, von einem wachwerdenden Afrika und Nahen Osten (Malcolm war ja auch ein Muslim). Die beiden großen Redner trafen sich nur einmal kurz, ehe Malcolm auf mysteriöse Art ermordet wurde - ein böses Omen auch für King!

Doch King ging weiter, viel weiter. Als die USA immer tiefer in den Vietnamkrieg sanken, wuchs, zunächst langsam, eine Gegenbewegung. Konservative Führer der Afroamerikaner rieten, sich davon fernzuhalten. Falls wir uns da hineinmischen, warnten sie, wird man uns als unpatriotisch betrachten - und wir lenken damit nur von unserem Kampf um bessere Bedingungen in den USA ab.

Dazu sagte Dr. King laut und klar: "Es kommt eine Zeit, wo Schweigen Verrat bedeutet … Bezüglich Vietnam ist diese Zeit für uns gekommen."

In einer berühmten Rede am 4. April 1967 in der großen Riverside Church in New York machte er als Christ und als Bürger dieser Welt klar, warum ein Abseits-Stehen unmöglich war.

"Vor einigen Jahren gab es durch das Armutsprogramm … ein echtes Versprechen der Hoffnung für die Armen - für die schwarzen wie für die weißen … Dann kam Vietnam …, und ich wusste, Amerika könnte niemals die nötigen Gelder oder Energien für Verbesserungen für ihre Armen investieren, solange Abenteuer wie Vietnam weiterhin Menschen und Fähigkeiten wegziehen, wie durch ein dämonisches, destruktives Ansaugrohr. Ich wurde also gezwungen, den Krieg als einen Feind der Armen zu sehen und ihn als solchen anzugreifen …

Ich bin so oft mit der bitteren Ironie konfrontiert, am Bildschirm zuzusehen, wie schwarze und weiße Jungen zusammen töten und sterben für eine Nation, die nicht in der Lage war, sie in die gleichen Schulen zu schicken. Wir sehen also, wie sie in brutaler Solidarität die Hütten der armen Dörfer verbrennen, müssen aber dabei daran denken, dass sie nie auf der gleichen Straße in Detroit leben würden. Angesichts solches grausamen Manipulierens der Armen konnte ich nicht schweigen …

… wenn wir auf der richtigen Seite der Weltrevolution stehen wollen, dann müssen wir als Nation eine radikale Revolution unserer Werte vornehmen. Wir müssen schnell mit der Umstellung von einer 'ding-orientierten' Gesellschaft auf eine 'personen-orientierte' Gesellschaft beginnen. Wenn Maschinen und Computer, Profitmotivation und Eigentumsrechte wichtiger als Menschen gesehen werden, dann werden die riesigen Drillinge Rassismus, Materialismus und Militarismus unmöglich überwunden werden …"

Am Tisch der Brüderlichkeit

Scharf und deutlich sagte er: "Ich könnte niemals wieder meine Stimme erheben gegen die Gewalt der Unterdrückten in den Ghettos, wenn ich nicht zuerst und eindeutig zum größten Gewalttäter in der heutigen Welt gesprochen hätte - meine eigene Regierung …

Eine echte Revolution an Werten wird bald den grellen Kontrast zwischen Armut und Reichtum negativ sehen. Mit gerechter Empörung wird sie über die Meere schauen und sehen, wie individuelle Kapitalisten des Westens riesige Summen in Asien, Afrika und Südamerika investieren, nur um Profite herauszuholen, ohne Rücksicht auf die soziale Besserung in den Ländern, ohne zu sagen: 'Das ist nicht gerecht'. Sie wird auf unser Bündnis mit den Großgrundbesitzern von Lateinamerika schauen und sagen: 'Das ist nicht gerecht'. … Eine echte Revolution der Werte wird die Weltordnung einschätzen und vom Krieg sagen: 'Diese Art, Differenzen zu überwinden, ist nicht gerecht. … Ein Unternehmen, das Menschen mit Napalm verbrennt, die Heime unserer Nation mit Waisen und Witwen füllt, giftige Drogen des Hasses in die Venen von jenen einspritzt, die normalerweise menschlich wären, und Männer, körperlich versehrt und geistig gestört, von dunklen, blutigen Schlachtfeldern zurückholt, kann nicht mit Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe vereinbart werden. Eine Nation, die Jahr für Jahr mehr Geld für militärische Zwecke als für Programme der sozialen Besserung ausgibt, nähert sich dem spirituellen Tod."

Elf Tage später, an der Stanford Universität in Kalifornien, griff er wegen sozialer Besserung wieder an:

"Es gibt buchstäblich zwei Amerikas. Das eine Amerika, wunderschön, überflossen mit der Milch des Wohlstands und dem Honig des Aufwärtssteigens ... Tragischerweise gibt es leider ein anderes Amerika. ... In diesem Amerika finden sich Millionen von Amerikanern auf der täglichen Suche nach Arbeitsstellen, die nicht existieren. In diesem Amerika finden sich Millionen von Menschen in rattenverseuchten, vom Ungeziefer geplagten Slums. In diesem Amerika gibt es millionenweise Arme. Sie befinden sich sterbend auf einer einsamen Insel mitten in einem großen Meer von materiellem Wohlstand."

King rief nun zu einer "Kampagne der armen Menschen" auf, zu einer Zeltstadt mit Tausenden von armen Menschen aller Hautfarben, die den Kongress belagern soll, bis er die erforderlichen Maßnahmen gegen die Armut getroffen hätte. Man kann gut verstehen, weshalb J. Edgar Hoover, der ihn immer (fälschlich) als Kommunisten herabsetzte, ihn nun als "einen der miesesten Charaktere" und "größten Lügner des Landes" denunzierte und ihm einen (anonymen) Brief zukommen ließ, in dem er drohte, auf Grund von abgehörten Aufnahmen Kings Sexualmoral zu brandmarken und ihn daher unzweideutig aufforderte, sich das Leben zu nehmen.

King ließ sich nicht abschrecken. Als er während der Vorbereitungen für die Kampagne der Armen die Bitte erhielt, sich für streikende Müllabfuhrmänner in Memphis einzusetzen, die miserabel behandelt und diskriminiert wurden, zögerte er nicht und flog dreimal nach Memphis, um sie zu unterstützen. Beim dritten Male - am 4. April 1968 - wurde er erschossen.

Bewiesen wurde natürlich nichts, doch Millionen vermuteten schon, wer dahinter steckte. Es kam zu wütenden Aufständen in etwa 125 Städten; beim Militäreinsatz starben mehr als vierzig Menschen. Auch manchen, die Kings Wandlung und seine Ansichten nicht begriffen, wurde nunmehr - spät - seine Bedeutung klar. Wie die feurige junge Angela Davis damals dachte, schrieb sie später:

"Wir hatten Martin Luther King wegen seiner rigiden Position über Gewaltlosigkeit hart kritisiert. Leider nahmen manche von uns an, dass seine Religion, seine philosophische Gewaltablehnung und seine Konzentration auf 'Bürgerrechte' als Gegenstück zum größeren Befreiungskampf ihn zu einem wesentlich harmlosen Führer machten … Niemals hätte einer von uns vorausgesehen, dass er unseren Schutz brauchte. Wir hatten nicht begriffen, glaube ich, dass seine neue Ansicht vom Kampf - die arme Menschen aller Farben umfasste, alle unterdrückten Menschen auf der ganzen Welt - potenziell eine große Bedrohung für unsere Gegner darstellte. Es war, dachte ich, kein Zufall, dass er an seinem Todestag auf der Straße mit den streikenden Müllabfuhrleuten marschiert war."

Dr. Kings große Rede in Washington ereignete sich, nicht zufällig, einhundert Jahre nach Abraham Lincolns Befreiungsproklamation. Nun sind wieder fünfzig Jahre vergangen. Vieles hat sich verändert, nie hätte er geträumt, dass ein Mann mit dunkler Hautfarbe im Weißen Hause wohnen würde, zweimal von Mehrheiten gewählt. Barack Obama soll sogar eine Büste von Dr. King in seinem Oval Office zu stehen haben und an der Wand ein gerahmtes Programm des Marsches auf Washington.

Und beide Männer bekamen den Nobel-Friedenspreis. Doch sehr bald merkt man die Unterschiede. Im Krieg gegen die Armut, für King so wichtig, lässt Obama trotz vieler Versprechen auf "Change" - Veränderung - noch immer auf sich warten. Die Ghettos sind so tragisch wie immer, Millionen suchen auch heute nach Arbeitsstellen, die es nicht gibt, und Millionen, die aus ihren Heimen verdrängt wurden, warten immer noch auf Hilfe und Gerechtigkeit. Die Gefängnisse, die King mit seinen verschiedenen Haftzeiten ehrte, sind heute überfüllt mit mehr Häftlingen als in jedem anderen Land der Welt, besonders viele haben dunkle Hautfarbe.

Und die Gewalt im Weltmaßstab? King sprach von Materialismus und Militarismus, von der "ding-orientierten Gesellschaft" - "wenn Maschinen und Computer, Profitmotivation und Eigentumsrechte wichtiger als Menschen gesehen werden". Heute sagen die Namen Assange, Snowden und Manning und das Schreckenswort "Drohnen" mehr als genug. Was Rassismus betrifft: Gewiss gab es große Fortschritte seit 1963, doch leider bieten nicht nur Begriffe wie "Tea Party" und "Wahlbetrug" Grund genug zu erkennen, dass ein sehr langer Weg vor uns liegt, ehe Kings Traum Wirklichkeit wird, dass "auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne von früheren Sklaven und die Söhne von früheren Sklavenbesitzern am Tisch der Brüderlichkeit gemeinsam sitzen werden."

 

Mehr von Victor Grossman in den »Mitteilungen«: 

2013-02: Erinnerungen an Wounded Knee

2012-04: Guernica und Heute

2010-03: Über einen Konsens der Linken zu Fragen des Nahen Ostens und des Antisemitismus