Drohende Militarisierung der EU klar benennen
Carsten Schulz, Berlin
Liebe Genossinnen und Genossen, heute [1] ist davon die Rede gewesen, dass die EU ein Friedensprojekt sei. In den Tagen vor dem Bundesparteitag habe ich ähnliche Töne von Vertretern unserer Partei vernommen:
Gregor Gysi, Klaus Lederer und andere behaupten in einem auf der Bundespressekonferenz vorgestellten Papier unmittelbar vor dem Parteitag, »die Europäische Union sei ein Friedensprojekt, allein schon aus der Tatsache heraus, dass durch ihre Gründung die Konflikte zwischen miteinander konkurrierenden ökonomischen Mächten unter den Mitgliedsstaaten nicht mehr mit Waffengewalt ausgetragen wurden«. Mit der EU seien »politische Mechanismen verbunden, mit denen Konflikte begrenzt werden konnten und mit denen man daran arbeiten könne, sie aufzulösen«.
Ich teile diese Einschätzung explizit nicht! Im Spätsommer 1999 nahm ich an einer Friedensdelegation des DGB Berlin-Schöneberg in die damalige Bundesrepublik Jugoslawien teil. Wir besuchten mehrere von der NATO bombardierte Städte und führten Gespräche mit VertreterInnen der damaligen sozialistischen Regierungspartei sowie mit VertreterInnen der westlich orientierten Opposition, die einzelne Städte regierten.
Alle dortigen Gesprächspartner waren schockiert von der gezielten Zerstörung der Infrastruktur ihres Landes und der Tötung vieler Zivilisten durch die Bomben der NATO.
Auch wenn Institutionen der EU nicht direkt an der Vorbereitung und Durchführung dieses Krieges beteiligt waren, haben doch führende Länder der EU, wie Deutschland, die Niederlande oder Spanien sich aktiv am Bombardement neben den USA und Großbritannien beteiligt.
Auch wurde seitens Deutschlands im Vorfeld des Krieges selektiv mit der EU-Mitgliedschaft einzelner jugoslawischer Republiken (Kroatien) geworben, was die Nationalitätenkonflikte in Jugoslawien mit befeuerte.
Ich kann daher nicht nachvollziehen, wenn heutzutage prominente VertreterInnen der LINKEN vom »Friedensprojekt EU« sprechen.
Auch die erpresserische Politik von NATO und EU gegenüber der damaligen Janukowitsch-Regierung in der Ukraine, sich einseitig für eine EU-Bindung unter weitgehender Aufgabe der traditionellen Verbindungen zu Russland zu entscheiden, hat die Konflikte in der Ukraine befördert und mit zum Krieg geführt. Schließlich ist es keine auf Frieden und Menschenrechte orientierte Politik, wenn führende EU-Staaten den Putschisten Guaidó in Venezuela als dortigen Präsidenten anerkennen und 10.000 »Grenzschützer« von Frontex gegen Geflüchtete an den EU-Außengrenzen eingesetzt werden.
Das alles kann ich nicht als Markenzeichen eines Friedensprojektes erkennen. Statt von einem »Friedensprojekt EU« zu phantasieren, sollten wir die drohende Militarisierung der EU klar benennen, wenn hierzulande und in den Nachbarstaaten wieder Straßen für Panzer in Richtung Russland ausgebaut werden und Militärtransporte Vorrang vor dem Zivilverkehr auf der Schiene haben.
Anmerkung:
[1] Dieser Text ist eine vorbereitete Wortmeldung, die auf dem Bonner Parteitag aus Zeit- und organisatorischen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte.
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