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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Dieter Frielinghaus

Horsta Krum, Berlin

 

Im November letzten Jahres beging er seinen 95. Geburtstag in der Uckermark, wo er seit 1975 mit seiner Frau Gisela zu Hause war, wo die drei Kinder aufgewachsen sind. Das Pfarrhaus war Anlaufstelle, eine Art »Refuge«: Ob es sich nun um Menschen in materieller oder psychischer Not handelte, Menschen, die Orientierung oder einfach nur mal Ruhe suchten oder sich aussprechen wollten. Sie kamen aus der Pfarrgemein­de oder auch von weiter her aus der DDR, Westberlin und der Bundesrepublik. Später, als Dieter Frielinghaus nicht mehr im aktiven Pfarrdienst war, blieben er und seine Frau in der Uckermark. Wieder wurde ihr Haus zum »Refuge«. Die Menschen, die Dieter Frie­linghaus als Pastor der ehemals französischen Gemeinde kannten, wussten, was »Refu­ge« bedeutet: Zuflucht. Als die Hugenotten aus Frankreich geflohen waren, konnten sich viele in Brandenburg-Preußen ansiedeln. Die kollektive Erinnerung blieb erhalten.

In fünf Staaten, Staatsformen, hat Dieter Frielinghaus gelebt – rechnet man die Zeit der Besatzung nach 1945 hinzu, waren es sechs. Freiwillig hat er nur in einem Staat gelebt: in der DDR.

Das kam so: Die kirchlichen Autoritäten aus West und Ost waren sich einig, dass mög­lichst viele junge Theologen, die in den westlichen Besatzungszonen und dann in der BRD studiert hatten, den Pfarrermangel in der jungen DDR ausgleichen sollten. Dieter Frielinghaus kam aus der reformierten Tradition, die weniger Martin Luther, sondern vor allem dem Genfer und französischen Johannes Calvin verbunden ist. Bei dieser Tradi­tion wollte er auch bleiben. Sie ist, was Äußerlichkeiten angeht, beispielsweise Riten und Kirchgebäude, sehr viel schlichter, kennt auch keine Bischöfe usw.

Noch hatte Dieter Frielinghaus nicht alle theolgischen Prüfungen in Göttingen abgelegt, als die reformierte Gemeinde aus Dresden einen Hilferuf Richtung Westen sandte, denn sie brauchte dringend einen Pastor. So gelangte der junge Theologe Frielinghaus 1957 nach Dresden. Später verließ auch seine zukünftige Frau freiwillig die BRD, was natür­lich die allermeisten Verwandten und Freunde fassungslos machte.

1990 kamen nun beide Frielinghaus’ wieder in der BRD an, die sie einst verlassen hat­ten – d.h. ganz stimmt das nicht, denn das neue Deutschland ist nicht die alte BRD. Das haben zunächst die DDR-Bürger und allmählich auch die Bundesbürger zu spüren bekommen – ein Prozess, der bis heute andauert und der nur dann enden wird, wenn sich statt Kriegsvorbereitung der Wille zum Frieden durchsetzten kann.

Der zweite Weltkrieg begann, als Dieter Frielinghaus noch nicht ganz elf Jahre alt war. Mit fünfzehn wurde er schnell zum Luftwaffenhelfer ausgebildet. Wahrscheinlich war es die Aufforderung des vorgesetzten Feldwebels, die ihm und den gleichaltrigen Kamera­den das Leben rettete: »Los, Jungs haut ab!« Sie hauten ab, erhielten von Lazarett-Schwestern Zivilkleidung und kehrten nach Hause zurück – während andere, ganz junge Soldaten, noch halbe Kinder, zu Dutzenden in den Gefechten umkamen.

Die reichlich zwölf Monate, die Dieter Frielinghaus als Soldat erlebte, haben ihn für sein ganzes langes Leben geprägt. Ein Jahr vor seinem Tode schrieb er für seine Kinder und Enkelkinder:

»Wie wunderbar zu leben, wie schön die Erde! Viel davon habe ich selber erlebt dank meiner Eltern, dank meiner Frau, dank unserer Kinder. Wir hatten dabei immer zu essen, eine Wohnung und für jeden ein Bett.

Aber immer mehr hatte ich zu erfahren, für wieviele Menschen es nicht einen einzigen leichten Tag gibt. Ihr Leben ist eine verzweiflungsvolle Hungersnot. Aus den täglich ver­breiteten Bildern schaut uns zuweilen ein nicht verstehendes Kindergesicht an. Niemand ruft zu Entsetzen und Erbarmen.

Die Frage nach dem Warum beantwortet wissenschaftlich der Marxismus, den der herr­schende Kapitalismus verwirft, obwohl er es natürlich auch weiß. Der Club of Rome hat vor 50 Jahren Alarm geschlagen. Seither ist für die Natur wenig, die Hungernden fast nichts und die des Friedens Bedürftigen nichts besser, dagegen vieles schlechter geworden. Dabei sind das Wissen, das Können und die Finanzen zu den erforderlichen Taten vorhan­den. Aber den Mächtigen ist der unbedingte Wille zur Alleinherrschaft wichtiger. Jedes Kind auf der Erde, das verhungert, ist ermordet (Jean Ziegler), ein Opfer des Imperialismus.

Nachgerade droht das Ende der Bewohnbarkeit der Erde so nah wie nie. Seit ich knapp er­wachsen war, ging es mir um den Frieden. Von vielen guten Vorschlägen der Sowjetunion ha­ben viele Menschen im Westen selbst nachträglich nichts gehört; diejenigen, die sie kannten und billigten, bieben rätselhaft stumm. Nach der Niederlage des Sozialismus in Europa wurde die Abhängigkeit der armen Länder der Welt noch verschärft. Dazu wurden viele schreckliche Kriege geführt. Unsagbar die Not im Jemen. Der Krieg in der Ukraine ist eine weitere Variante dieser Machtausübung einschließlich offener Lüge und öffentlicher Hetze.

So möchte ich gerade am Ende des Lebens ganz für die Erde sein. Mit Freude über das Leben mit guten Menschen, nahen und ganz nahen, mit Schwestern und Brüdern, mit Genossen und Lehrern, mit den Völkern, für die Freundschaft der Völker. Mit der Trauer, dass ich die Erde verlassen soll. Mit der Erbitterung, dass für Milliarden Menschen dieses Leben kein Leben ist. Mit der Enttäuschung, dass ich nicht weiß, ob es gelingt, die Atom­waffen zu verbannen. Mit der Scham für die Verkommenheit der Kirche. Mit der Hoffnung auf ein schönes Leben für alle Kinder auf der Erde.«

Der Text von Dieter Frielinghaus ist hier gekürzt wiedergegeben. Der besseren Lesbarkeit wegen sind die Auslassungen nicht gekennzeichnet. Sie betreffen theologisch-kirchliche Themen.

 

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