Die USA und die Ukraine
Prof. Dr. Anton Latzo, Langerwisch
Zum Charakter des Kampfes um die Ukraine
Der Kampf der imperialistischen Mächte um die Ukraine hat nicht erst 2013 begonnen. Es ging schon immer darum, die gesellschaftliche Alternative zum kapitalistischen System zu schädigen bzw. zu beseitigen und den weltpolitischen Rivalen, die Sowjetunion, zu zerschlagen. Nachdem die gesellschaftliche Alternative in Gestalt der Sowjetunion beseitigt wurde, geht es danach darum, diesen Prozess zu vollenden und das wieder zum Rivalen aufstrebende Russland zu schwächen, zu zerstückeln und zu beseitigen!
Zerschlagung der UdSSR
Das Herausbrechen der Ukraine aus der UdSSR und ihre Konstituierung als selbständiger Staat war Bestandteil dieses Kampfes, der vom Antikommunismus gespeist und getragen war. Am 8. Dezember 1991 besiegelten die damaligen Führer von Belorussland, der Ukraine und der RSFSR, Schuschkewitsch, Krawtschuk und Jelzin, während eines streng geheim vorbereiteten Treffens im Belowescher Wald bei Minsk das Dokument, in dem sie der Welt, dem eigenen Volk und der Führung der UdSSR verkündeten, dass die UdSSR als Subjekt des Völkerrechts und als geopolitische Realität ihre Existenz beendet hat. Gorbatschow hat das nachträglich widerstandslos zur Kenntnis genommen.
Der damalige Ministerpräsident der UdSSR, Nikolai Ryschkov, bezeichnete in seinem Buch »Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs« diesen Vorgang als »Staatsverbrechen« (S. 202). Vielsagend ist dabei, dass Jelzin sofort den USA-Präsidenten George Bush sen. darüber informierte und nicht den Präsidenten der UdSSR, Gorbatschow. Ryschkov beschrieb diese Situation: Nach der Unterzeichnung »unterrichtete Jelzin, der im ›Fall des Falles‹ mit Unterstützung von außen rechnete, den amerikanischen Präsidenten George Bush sr. telefonisch über das Vorgefallene. ›Heute fand ein sehr wichtiges Ereignis statt, und ich möchte Sie darüber persönlich informieren, bevor Sie es aus den Zeitungen erfahren‹, sagte Jelzin feierlich. Jelzin betonte, schrieb Bush in seinen Memoiren, dass ›Gorbatschow dieses Ereignis noch nicht kennt‹. Jelzin beendete das Gespräch liebedienerisch: ›Verehrter George, ich mache jetzt Schluss. Das ist außerordentlich, außerordentlich wichtig. Angesichts der zwischen uns bestehenden Verbundenheit wollte ich mit diesem Anruf nicht einmal zehn Minuten warten.‹« In die »Abwicklung« der Sowjetunion und in die Entstehung des selbständigen Staates Ukraine waren die USA also direkt involviert! Während des Besuches von USA-Präsident Clinton in Moskau im Januar 1994 sprach Jelzin sogar von einer »gemeinsamen russisch-amerikanischen Revolution«. Die Niederlage des Sozialismus und der Untergang der Sowjetunion waren nicht Endziel oder Abschluss, sondern Aufmarsch und Durchbruch.
Worum es tatsächlich ging, beschrieb Zbigniew Brzeziński im Jahre 1997 in seinem Buch »Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft« [1] wie folgt: »Unser erstes Ziel ist es, das Wiederauftauchen eines neuen Rivalen zu verhindern, egal ob auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion oder anderswo, der eine ähnliche Bedrohung darstellt wie die Sowjetunion. Dies erfordert, dass wir verhindern, dass eine feindliche Macht eine Region dominiert, deren unter Kontrolle gebrachten Ressourcen ausreichen würden, eine neue Weltmacht zu schaffen. Diese Regionen beinhalten Westeuropa, Ostasien, das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und Südwestasien.« Damit beschrieb ein führender amerikanischer »Geostratege« und Berater mehrerer USA-Präsidenten bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts die Strategie der USA für die nachfolgenden Jahrzehnte.
Auf dieser Grundlage erlebten Anfang dieses Jahrhunderts fast alle ehemaligen Sowjetrepubliken die sogenannten Bunten Revolutionen, die in Wirklichkeit inszenierte Umstürze waren, die diese Staaten aus dem Zusammenhalt mit Russland herauszubrechen hatten. Dabei müssten die USA die Kontrolle über die Ukraine übernehmen, so Brzezinski, weil »Die Ukraine, ein neues und wichtiges Feld auf dem eurasischen Schachbrett, … einen geopolitischen Dreh- und Angelpunkt dar(stellt), denn schon seine alleinige Existenz als unabhängiges Land trägt dazu bei, Russland zu verwandeln. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Wenn Moskau allerdings die Kontrolle über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen und wichtigen Rohstoffen sowie dem Zugang zum Schwarzen Meer zurückgewönne, würde Russland automatisch wieder in die Lage versetzt, ein mächtiger imperialer Staat zu werden, der sich über Europa und Asien erstreckt.«
Diese Strategie liegt auch dem jetzigen Handeln der USA zugrunde. Man muss davon ausgehen, dass dies auch für die überschaubare Zukunft Gültigkeit haben wird.
Seit Beginn der 1990er Jahre kooperiert Washington in diesem Sinne eng mit politischen Kräften und in den NGOs zusammengeschlossenen Bevölkerungsteilen der Ukraine, um im Lande eine öffentliche Stimmung zu schaffen, die es ermöglicht, auf antirussischer und prokapitalistischer Grundlage, die Ukraine in den Machtbereich der imperialistischen Mächte zu integrieren.
Die »Orangene Revolution« 2004 war ein weiterer Meilenstein in den Beziehungen zwischen der Ukraine und den USA. Sie war weitgehend vom US-Außenministerium, der US Agency for International Development (USAID), der National Endowment for Democracy und einer ganzen Reihe nichtstaatlicher westlicher Organisationen unterstützt worden. Washington pumpte Millionen Dollar in die rechte Opposition, um sie handlungsfähig zu machen. Der so inthronisierte Viktor Juschtschenko war der erste ukrainische Präsident, der im April 2005 vor einer gemeinsamen Sitzung des amerikanischen Kongresses eine Rede hielt. Es ging darum, in der Ukraine solche gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu schaffen, die es den USA gestatteten, wie George W. Bush, damals amerikanischer Präsident, offen verkündete, den russischen Einfluss in der Region weiter zurückzudrängen.
Gleichzeitig zielte und zielt die so ausgerichtete Politik der USA darauf ab, die Ukraine an die Strukturen der NATO und seine Wirtschaft an die EU zu binden.
Die Ukraine wird missbraucht
Diese Perspektive für die Ukraine wurde auch von jenen Kreisen der ukrainischen Oligarchie unterstützt, die fürchten mussten, dass sie im gegenteiligen Fall ihre privilegierte Stellung in der Wirtschaft und Politik verlieren würden. Deshalb haben sie auch 2013 aktiv die Politik der USA und der führenden Kreise der EU, besonders der BRD-Regierung, zum Sturz der Janukowitsch-Regierung unterstützt.
Als die »friedlichen« Proteste nicht ausreichten, um den Sturz von Janukowitsch im Interesse der geopolitischen Vorstellungen der USA und den Zielen der EU durchzusetzen, nahmen die USA, die Mächte der EU, vor allem die BRD, sowie die genannten Oligarchen-Gruppen auch die ultranationalistische Swoboda-Partei und den faschistischen Rechten Sektor mit ins Boot. Damit war unter aktiver Beteiligung der USA eine neue Phase der reaktionären gesellschaftlichen und politischen Entwicklung nicht nur in der Ukraine, sondern auch in ihrer Außenpolitik eingeleitet worden. Die Ukraine wurde zum Objekt der Politik der NATO, zu deren Instrument ausgebaut. Ihr Verhältnis zu Russland wurde radikal verschlechtert. Es nahm offen feindlichen Charakter an. Die Ukraine wurde als wichtiges Glied der »Isolationskette« der USA und ihrer NATO-Verbündeten aktiviert.
Vor diesem Hintergrund verschlechterten sich die zwischenstaatlichen Beziehungen in ganz Europa! Fast alle europäischen Staaten, besonders diejenigen Osteuropas, wurden als Objekt der imperialistischen Expansionspolitik in antirussischem Sinne missbraucht.
Russland sah und sieht sich plötzlich mit dem aufkommenden Faschismus an seinen Grenzen und in der Regierung des Nachbarstaates Ukraine konfrontiert, die die antirussische Politik der USA und der anderen kapitalistischen Großmächte ebenfalls aktiv unterstützt.
Die auch bisher schon unzufriedene und krisenmüde Gesellschaft in der Ukraine, ein Zustand, der diese Entwicklung ebenfalls gefördert hat, wird noch weiter demoralisiert und anfällig für gefährliche politische Entwicklungen gemacht. Die Politik der jetzigen Regierung ist auf dem besten Wege, die kulturelle Identität der Ukrainer zu zerstören. Die Ukraine und ihre Bürger werden zu »Bauern« in dem gefährlichen (Schach)Spiel, das von den USA und seinen NATO-Verbündeten verfolgt wird. In Russland wird das bildlich mit dem Satz beschrieben, die USA seien bereit, bis zum letzten Ukrainer gegen Russland zu kämpfen.
Poroschenko - Retter oder Vasall?
Von diesen Entwicklungen war auch die Reise des ukrainischen Staatspräsidenten in die USA geprägt. Er schätzte während seines Besuches in den USA ein, dass das Niveau der Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und den USA viel höher sei, als dies der Status eines Verbündeten außerhalb der NATO fordere.
Einerseits äußerte er sich enttäuscht, dass Obama nicht bereit war, ihm zusätzliche direkte militärische Hilfe in Gestalt von Kampftechnik zuzusagen. Gleichzeitig berichtete Poroschenko vor der Presse, er habe Obama »gebeten, die Zusammenarbeit im Sicherheits- und Verteidigungssektor zu verstärken und habe eine positive Antwort erhalten«. Nach dem Besuch erklärte Poroschenko: »Bei dem Treffen mit mir sagte er (der USA-Präsident - A.L.), dass die Ukraine den höchsten Status der Verteidigungszusammenarbeit mit den USA unter allen Ländern hat, die nicht NATO-Mitglieder sind«. (RIA Novosti 22.09.2014)
Die ukrainische Reaktion kann zugleich auf den Kurs der NATO, mit den USA als Hauptkraft, bauen, der die Aufstockung des Militärpotenzials der Ukraine vorsieht. Nach dem Gipfeltreffen vom September 2014 erklärte der Generalsekretär der NATO, Anders Fogh Rasmussen, die NATO habe beschlossen, eine »Einsatztruppe von sehr hoher Bereitschaft« zu schaffen. Zu ihrer Charakterisierung gab er ihr den Namen »Speerspitze«.
Diese neue schnelle Eingreiftruppe (Very High Readiness Task Force) soll aus 4.000 Soldaten gebildet werden, die aus allen 28 NATO-Staaten kommen und innerhalb von zwei Tagen in jedem Mitgliedstaat eingreifen können.
Es gibt neue Stützpunkte für Nachschub und Truppenführung in Polen, im Baltikum und in Rumänien.
Das NATO-Hauptquartier in Szczecin (Polen) wird verstärkt, um den Einsatz der Eingreiftruppe sofort koordinieren zu können.
Es sollen ständige Militärmanöver in den osteuropäischen NATO-Staaten durchgeführt werden.
Die Überwachung des Luftraums über dem Baltikum wird ausgeweitet (u.a. mit Beteiligung von 6 Eurofightern der Luftwaffe).
Außerdem soll die Ukraine Militärhilfen einzelner NATO-Staaten erhalten. Zwei Wochen nach dem NATO-Gipfel erklärte der Berater Poroschenkos, Juri Luzenko, dass auf dem NATO-Gipfel eine Vereinbarung über die Lieferung von modernen Waffen aus den USA, Frankreich, Polen, Norwegen und Italien erzielt worden sei. (RIA Novosti, 22.09.2014)
Zu gleicher Zeit haben Polen, Litauen und die Ukraine eine gemischte Brigade aufgestellt. Der bei der Unterzeichnung des Vertrages anwesende Staatspräsident von Polen erklärte dazu: »Wir möchten, dass unsere Hilfe zur Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beiträgt«.
Die Maßnahmen zum Ausbau der militärischen Kapazitäten der Ukraine gehen also trotz Waffenstillstand weiter. Dabei spielen die USA eine zentrale Rolle. Sie und die anderen imperialistischen Staaten können nicht ihre aggressiven, expansionistischen Ambitionen verbergen. Sie können die weitere Existenz Russlands als Großmacht in anderen Bündnissen nicht verdauen. Deshalb kann es im Verhältnis zwischen ihnen durchaus zu »ruhigeren Zeiten« kommen, in denen auch Elemente der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit zum Tragen kommen. Dies geschieht aber bei Weiterbestehen des Grundzustandes in der Welt, der schon vor hundert Jahren zu Krieg und Verderben geführt hat.
Es war die Politik der USA und der anderen imperialistischen Mächte gegenüber der Sowjetunion und später Russland, die Einmischung dieser Staaten in die inneren Angelegenheiten der Ukraine, die politische Krise in der Ukraine und der Staatsstreich vom 21./22. Februar 2014, die das Verhältnis zwischen den USA und den anderen imperialistischen Mächte und Russland schwer belastet und den Zustand höchster Spannungen und kriegerischer Auseinandersetzungen herbeigeführt haben. Die Ukraine soll zum Zentrum einer antirussischen Bastion in Osteuropa werden. Die Gefahren, die daraus für die Sicherheit und den Frieden in ganz Europa erwachsen, können nicht hoch genug eingestuft werden!
Anmerkung:
[1] (Red.) Man kann das Buch kostenlos herunterladen, bspw. hier: http://globale-evolution.net/images/media/316.pdf.
Mehr von Anton Latzo in den »Mitteilungen«:
2014-04: Zur Geschichte deutscher Kolonialpolitik
2014-03: Signal auf Krieg
2013-11: Die Teheraner Konferenz