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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zur Geschichte deutscher Kolonialpolitik

Prof Dr. Anton Latzo, Langerwisch

 

Mit dem Zeitalter des Imperialismus verschärfte sich auch der Wettlauf der kapitalistischen Mächte um Kolonien. Die »Erwerbung« von Kolonien, wie man den Raub fremder Gebiete, die politische, ökonomische und militärische Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung und die Versklavung anderer Völker zu bezeichnen pflegte und pflegt, ist ein vom Imperialismus nicht wegzudenkender Wesenszug.

Deutschland wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert zu einem der mächtigsten Staaten des Imperialismus. Infolge seiner späten kapitalistischen Entwicklung hatte es aber erst im letzten Teil des 19. Jahrhunderts mit der Eroberung von Kolonien begonnen.

In England waren schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts »mindestens zwei der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale des Imperialismus … vorhanden: 1. unermessliche Kolonien und 2. Monopolprofite (infolge der Monopolstellung auf dem Weltmarkt)« [1]

Der Beginn der deutschen Kolonialpolitik fällt mit der Phase des verschärften Wettlaufs der Mächte um Kolonien zusammen. Als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts dieser Wettlauf der Großmächte beschleunigte und die koloniale Neuverteilung der Welt zu Kriegen führte, verlangte das Deutsche Reich nach gleichberechtigter Mitsprache.

Wilhelminisches Kaiserreich beansprucht »Platz an der Sonne«

Historiker nennen das Jahr 1884 als Beginn deutscher Kolonialpolitik. In diesem Jahr hat Bismarck [2] die Erwerbungen des Bremer Kaufmanns Adolf Lüderitz in Südwestafrika (heute Namibia) zur Kolonie des deutschen Reiches erklärt, indem die südwestafrikanischen »Besitzungen« des Kaufmanns unter den »Schutz« des Deutschen Reiches gestellt wurden. Daher die Bezeichnung »Schutzgebiete« statt des eindeutigen Begriffs »Kolonien«. Im Juli 1884 wurden Togo und Kamerun deutscher Herrschaft unterstellt. Im Februar 1885 folgte das Gebiet von Ostafrika, das heute Tansania, Ruanda, Burundi umfasst. Es folgte die »Besitzergreifung« von Nord-Neuguinea und der davor gelegenen Inselgruppe und andere Gebiete in Asien und Ozeanien. Das verschärfte die schon bestehende Konkurrenz zu den anderen Großmächten England, Frankreich und Russland sichtbar.

Geprägt wurde die deutsche Kolonialpolitik vor allem von den Interessen der Industrie-, Banken- und Handelsunternehmen, die im Jahre 1882 den Deutschen Kolonialverein gründeten. Zusammen mit der Gesellschaft für deutsche Kolonisation artikulierten sie ihre Interessen in den Kolonien und begründeten sie die Politik zur Erweiterung der deutschen Herrschaftsbereiche, in der sie eine weitere Voraussetzung für die angestrebte Weltmachtpolitik Deutschlands sahen.

Es folgte eine ganze Serie von Gründungen. Im Jahre 1887 entstand durch ihre Vereinigung die Deutsche Kolonialgesellschaft. Auch die Kirchen beteiligten sich aktiv an der Pflege und Verbreitung der deutschen Kolonialpropaganda. 1888 wurde der Afrika-Verein Deutscher Katholiken (ADK) gegründet mit dem Ziel, »das finstere Heidenthum mit seinen Greueln« aus den »Negern« zu verbannen. Die Protestanten gründeten 1893 den Evangelischen Afrika-Verein in Berlin.

Im Jahre 1891 wurde der Alldeutsche Verband und der Deutsche Flottenverein gegründet. Hier wurden die Konzepte für die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches erarbeitet und die entsprechende Propaganda so organisiert, dass die Politik der Unterdrückung, die zur Entrechtung und rücksichtslosen Ausbeutung der eingesessenen Bevölkerung der Kolonien führte, als eine Kulturtat dargestellt wurde.

Aus dem größtenteils mit staatlicher Hilfe in Gang gesetzten und gehaltenen Kolonialgeschäft, aus der Errichtung von Schifffahrtslinien, aus dem Bahnbau, der Lieferung von Ausrüstungen aller Art usw. profitierte das große Kapital in Deutschland.

Aus eigenem Erleben kam Wilhelm Liebknecht 1900 zu der Einschätzung: »Ich sagte, dass die Flotten- und Weltmachtpolitik für das neunzehnte Jahrhundert bezeichnend sei. In ihr äußert sich die ganze Gemeinschädlichkeit und Kulturwidrigkeit des kapitalistischen Systems. Der Kapitalismus ist wie ein Raubtier, er lebt bloß davon, dass er Arbeit und Eigentum anderer an sich rafft, … Der Kapitalismus hat sich, lawinenartig anschwellend, in allen Ländern Europas auf das äußerste entwickelt, hat sie planmäßig ausgeraubt, und als er so weit war, dass die eigenen Länder seinen Ansprüchen nicht mehr Genüge leisten konnten, da kam das Streben nach Kolonien, nach ›weltpolitischer Ausdehnung‹, da kam der Flotten- und Kolonialschwindel mit allen seinen Folgen und Anhängseln. Das beschränkt sich aber nicht allein auf Deutschland, sondern es ist eine internationale Erscheinung, mit der internationalen Natur des Kapitalismus aufs innigste verknüpft. Der Kapitalismus muss nach außen hin zu erhaschen und zu erjagen versuchen, was seine Profitgier im Inneren nicht mehr zu erlangen vermag.« [3]

Damit hat er auch das Wesen der Politik charakterisiert, die in den dann folgenden Jahren das internationale Verhalten Deutschlands ausmachte. Der spätere Reichskanzler von Bülow beschrieb bekanntlich das Streben Deutschlands nach kolonialer Weltgeltung 1897 mit der Aussage: »Wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne«. Kaiser Wilhelm II. schickte die Soldaten nach dem chinesischen Boxeraufstand mit dem Schlachtruf »Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!« auf einen grausamen Rachefeldzug.

Vom »Platz an der Sonne« zum »Volk ohne Raum«

Nach der Niederlage 1918 verlor das Deutsche Reich offiziell auch die Kolonien, was durch den Versailler Vertrag festgelegt wurde. Das deutsche Kapital gab aber sein Streben nicht auf und sicherte auch die weitere Existenz von Strukturen, die die Verwirklichung dieses Strebens ermöglichen sollten. Am 1. April 1920 wurde zwar das Reichskolonialamt (Ministerium) aufgelöst. Am selben Tag wurde aber eine Kolonial-Zentralverwaltung im Ministerium für Wiederaufbau gegründet, die einen Großteil der Mitarbeiter der aufgelösten Kolonialverwaltung übernahm. Die Propaganda sprach weiter von »unseren Kolonien« und forderte eine Revision der Versailler Beschlüsse, eine Rückgewinnung der Kolonien. Die Kolonialvereine haben sich 1922 zur Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft (KORAG) zusammengeschlossen.

Auch die Deutsche Kolonialgesellschaft machte weiter. 1926 hatte sie 30.000 Mitglieder und 250 Ortsgruppen, organisierte Kolonialausstellungen, errichtete Kolonialdenkmäler.

Kein geringerer als Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland (1949-1963), der vor 1933 nicht nur Oberbürgermeister von Köln und dann Rosenzüchter, sondern auch Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft (seit 1931) war, erklärte 1927: »Das Deutsche Reich muss unbedingt den Erwerb von Kolonien anstreben. Im Reiche selbst ist zu wenig Raum für die große Bevölkerung. … Wir müssen für unser Volk mehr Raum haben und darum mehr Kolonien.« [4]

Nach der Machtergreifung durch die Faschisten im Jahre 1933 konnte das Regime nahtlos an diesen Bedingungen anknüpfen und sein Programm verfolgen. Man hat auch die Losung »Volk ohne Raum« vertreten. Aber erst sollte Europa erobert werden und dann der »Rest der Welt«.

Schon 1934 wurde ein Kolonialpolitisches Amt (KPA) der NSDAP eingerichtet. Es sollte die Verwaltung eines »germanischen Kolonialreiches« in Afrika vorbereiten, das von der Atlantikküste im Westen bis zum Indischen Ozean im Osten reichen sollte. 1936 wurde der Reichskolonialbund (RKB) gegründet. Ebenfalls 1936 trug Hitler im Reichstag öffentlich die Forderung nach Rückgabe der deutschen Kolonien vor. Der Plan eines afrikanischen Großreiches wurde offiziell verkündet. Es gehörte zu den erklärten Kriegszielen der Faschisten, die nach der Eroberung der Länder Osteuropas verwirklicht werden sollten. Das Mittelafrikanische Kolonialreich sollte mit dem nach den faschistischen Plänen gestalteten Europa ein »Eurafrika« bilden. Weil »die deutsche Außenpolitik … weltanschaulich festgelegt und bedingt« sei (Hitler im Berliner Sportpalast am 26 September 1938), deshalb »gibt es keine Kolonialpolitik an sich«. Denn die Richtlinien für kolonialpolitische Schulung, herausgegeben vom KPA der NSDAP im Februar 1939, besagten: »Koloniale Bestrebungen haben daher auszugehen von den völkischen Nöten des deutschen Mutterlandes«. Sie dienen dem Schutze des deutschen Blutes.

Noch in den ersten Jahren des zweiten Weltkrieges glaubte der deutsche Imperialismus, mit seinen Weltherrschaftsplänen auch seine Kolonialherrschaftspläne verwirklichen zu können und traf die ideologischen, politischen, militärischen, »gesetzgeberischen« und verwaltungsmäßigen Vorbereitungen dafür. Der Kampf der Sowjetunion und ihrer Verbündeten rettete auch die Völker Afrikas davor, unter das Joch des faschistischen deutschen Imperialismus zu geraten.

Die Restauration des deutschen Monopolkapitals und seiner politischen Macht nach dem zweiten Weltkrieg schuf zwar die Grundlage für das Weiterbestehen der Kolonialpläne des deutschen Imperialismus. Er musste sich aber zugleich den neuen Bedingungen, der Entstehung der Welt des Sozialismus und der nationalen Befreiungsbewegung stellen.

Dies erhöhte die Bedeutung der Methode der »penetration pacifique«. Die »friedliche« Durchdringung, das Bestreben, junge Nationalstaaten wirtschaftlich zu durchdringen, sie finanziell abhängig zu machen und ökonomische Schlüsselpositionen in ihnen zu erlangen, wurde zu einem der wesentlichsten Merkmale des Neokolonialismus. Man nennt es auch »Entwicklungshilfe«.

Diese Methode zielte und zielt erstens darauf ab, Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Einflusssphären für das deutsche Kapital zu erschließen. Zweitens sollte eine unabhängige ökonomische und politische Entwicklung dieser Staaten unmöglich gemacht und verhindert werden, dass sie einen nichtkapitalistischen Weg beschreiten. Diese Erscheinungsform des Neokolonialismus war und ist auch gegen die imperialistischen Konkurrenten gerichtet, verstärkt die Widersprüche zwischen ihnen.

Nach der Niederlage des Sozialismus in den Staaten des Warschauer Vertrages sind erneut die kriegerischen Mittel und Methoden des Imperialismus, an denen auch die Bundesrepublik aktiv beteiligt ist, stärker zum Einsatz gekommen. Sie gefährden nicht nur die Existenz dieser Staaten, sondern auch den Frieden in der Welt!

»Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen.«

Auch die »Entwicklungspolitik« der BRD geht davon aus, dass Deutschland zur Zeit »mehr Macht und Einfluss« besitzt »als jedes demokratische Deutschland« zuvor. »Deutschlands gewachsene Kraft verleiht ihm heute neue Einflussmöglichkeiten«, heißt es weiter in einer von rund 50 teils hochrangigen Vertretern des Berliner Außenpolitik erarbeiteten Studie. »Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen.« Demnach sei die Mobilisierung sämtlicher verfügbaren Ressourcen für Zwecke der Berliner Weltpolitik notwendig. Die deutsche Außenpolitik werde sich nicht nur »weiterhin der gesamten Palette der außenpolitischen Instrumente bedienen, von der Diplomatie über die Entwicklungs- und Kulturpolitik bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt«. [5] Sie werde darüber hinaus auch nichtstaatliche Reserven nutzen. Die Geschichte macht deutlich, dass die Politik der BRD gegenüber den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas über eine offensichtliche Kontinuität in den Interessen und Zielen des deutschen Imperialismus verfügt. Geändert bzw. angepasst wurden, je nach Bedingungen und Erfordernissen bzw. Möglichkeiten, jeweils die Mittel, Methoden und Instrumente.

 

Anmerkungen:

[1] W. I. Lenin, Werke, Bd. 23, S.109.

[2] In einem Telegramm vom 24. April 1884 an den deutschen Konsul in Kapstadt.

[3] Wilhelm Liebknecht, Gegen Militarismus und Eroberungskrieg, Berlin 1986, S. 222/223.

[4] Europäische Gespräche – Hamburger Monatshefte für Auswärtige Politik, Dezember 1927, Nr. 12, S. 611.

[5] Neue Macht – neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch. Ein Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund of the United States (GMF), Oktober 2013.

 

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