Die Sturmglocke zu Lyon
Horsta Krum, Berlin
»Leben und arbeiten oder kämpfend sterben«
Unter diesem Motto revoltierten am 21. November 1831 die Lyoner Seidenweber, die sogenannten »Canuts«. Warum gerade sie? Und warum gerade in Lyon?
Wie keine andere Stadt war Lyon seit dem 15. Jahrhundert von der Seidenweberei geprägt und abhängig. Seide half, Frankreichs Auslandsschulden zu bezahlen, und wurde zu einem wichtigen Exportartikel, der um das Jahr 1830 ein Drittel des französischen Exportes ausmachte. Damals gab es im Großraum Lyon etwa 175.000 Einwohner, von denen die Hälfte direkt oder indirekt von der Seidenproduktion lebte.
Gut, sehr gut lebten die etwa 400 Unternehmer; sie lieferten die Rohstoffe und die Vorgaben für die Fertigprodukte, die sie im Stückpreis kauften und dann verkauften. Die vornehme Welt, nicht nur die französische, kleidete sich in Samt und Seide und stattete ihre Schlösser damit aus. Aber die, die diese Produkte herstellten, lebten im Elend: 8.000 Werkstattvorsteher (chefs d'atelier) besaßen jeweils zwei bis fünf Webstühle, verhandelten mit den Unternehmern und beschäftigten über 20.000 Arbeiter an ihren Webstühlen – Lehrlinge und Familienmitglieder nicht mitgezählt. Dann gab es die vielen, die die fertigen Stoffe weiter bearbeiteten, meist Frauen. Kinder mussten nicht nur arbeiten, um den Lohn ein wenig zu verbessern, sondern der Arbeitsablauf am Webstuhl forderte auch Handgriffe, die nur kleine, wendige Menschen ausführen konnten. Diese Kinder litten oft an Wirbelsäulenschäden, Tuberkulose, Unterernährung. Als besondere Demütigung erlebten die Familienväter, dass sie ihre Frauen und Töchter nicht vor der Willkür, auch der sexuellen Willkür, der Unternehmer schützen konnten. Überdies kam ein Teil der Männer ins Gefängnis, wenn sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten.
Den Werkstattvorstehern ging es nicht besser als ihren Arbeitern: auch sie und ihre Familien arbeiteten vierzehn oder mehr Stunden an den Webstühlen, aßen dort gemeinsam ihr Brot und ihre dünne Suppe; manche Arbeiter und ihre Familien hatten keine andere Bleibe. Die Webstühle ratterten unter unbeschreiblichem Lärm. Davon kann sich noch heute überzeugen, wer eins der noch bestehenden Seidenweberhäuser auf der Croix Rousse besucht, dem Lyoner Stadtteil, in dem die meisten Seidenarbeiter arbeiteten und lebten.
Die Verbesserung der Webstühle durch Joseph Marie Jacquard steigerte zwar die Produktivität, verbesserte aber die soziale Lage der Arbeiter nicht. Die Textil-Manufakturen mit ihren neuen Techniken ließen den Umsatz der Unternehmer sinken, die wiederum wälzten den Rückgang der Einnahmen auf die Arbeiter ab.
Unterschiedliche Ereignisse, Aktivitäten, Gruppen bereiteten den Aufstand vom 21. November 1831 vor:
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Die Anhänger von Henri de Saint-Simon [1] kommen aus Paris. Sie predigen ein soziales Christentum gegen die bestehende Sozialstruktur und finden viele Zuhörer unter den Arbeitern. Gleichzeitig schließen sich einige Werkstattvorsteher zusammen, um die soziale Lage zu verbessern. 1828 gründen sie Genossenschaften, die immer mehr Anhänger finden. Einer der Werkstattvorsteher schreibt: »... Der Canut ist die verkörperte Ängstlichkeit. Kein anderer Beruf ist so wenig offen. Wir leben kaserniert, und das beeinflusst unsere Lebenshaltung: sie ist verkümmert wie unsere Körperhaltung. Um dieser doppelten Verkümmerung abzuhelfen, gibt es nur eins: die Genossenschaft! Da werden wir unsere menschliche Würde zurückgewinnen, und die anderen Einwohner der Stadt, deren Ruhm und Reichtum wir ausmachen, werden das Wort »Canut« nicht mehr abwertend gebrauchen.« [2]
Aufbauend auf den Überzeugungen der Anhänger von Saint-Simon, aber weitergehend als diese, gründet sich die »Société des Amis du Peuple« (Gesellschaft der Freunde des Volkes); sie ruft, zusammen mit der aufkommenden republikanischen Presse, zum Widerstand auf. Unterstützt von Werkstattvorstehern, formiert sich im ersten Halbjahr 1831 die paramilitärische Organisation »Volontaires du Rhone« (die Rhone-Freiwilligen).
Im Juli 1830 fordern Pariser Bürgerliche und Intellektuelle vom König, die neue Abgabenordnung zurückzunehmen, und schlagen ihn in die Flucht. Ersetzt wird er durch den »Bürgerkönig« (Juli-Monarchie). Der Widerstand in Lyon formiert sich unabhängig von Paris. Auch er wird von Bürgerlichen getragen, unterstützt von Werkstattvorstehern, die ihre Arbeiter mobilisieren. Die neue Regierung unter dem Bürgerkönig macht Versprechungen, aber im Grunde ändert sich nichts. Auch der Bürgermeister von Lyon verspricht ein neues, glückliches Zeitalter. Die Arbeiterzeitung »Echo de la Fabrique« beschreibt im Sommer 1831 das neue Zeitalter sarkastisch: »Früher haben die Großen die Kleinen gefressen, und heute werden die Kleinen von den Großen gefressen.« [3]
Im Laufe des Oktober 1831 organisieren sich die Werkstattvorsteher; am 25. ruft der Präfekt eine Delegation aus Unternehmern und Arbeitern zusammen, die einen Mindestlohn aushandelt, der am 1. November in Kraft treten soll. 104 Unternehmer lehnen ihn ab, drohen mit Waffengewalt, verleumden die Canuts und ihre Forderungen, die dem freien Markt gefährlich seien. Der Handelsminister ruft den Präfekten zur Ordnung. Die ausgehandelten Tarife treten nicht in Kraft trotz erhöhter Konjunktur; der Unmut unter den Canuts wächst.
Unten im Zentrum von Lyon treten am 20. November 10.000 Mann der zivilen Nationalgarde an. [4] Am 21. November morgens beginnen die Canuts zu streiken. Wenig später erscheint eine Abteilung der Nationalgarde; einige Canuts gehen ihnen entgegen und sprechen mit ihnen. Als ein Offizier schreit »Nicht so viel Aufhebens mit der Canaille!«, gehen die Gardisten mit Bajonetten vor. Die Canuts empfangen sie unter einem Steinhagel und mit bloßen Fäusten und entwaffnen einige, die anderen Gardisten ziehen sich zurück. Ein Werkstattvorsteher bringt den Polizeichef vor der aufgebrachten Menge in Sicherheit.
Dann zieht eine große Anzahl von Canuts hinunter zum Lyoner Rathaus, um dort die Mindestlohn-Forderungen vorzutragen. Auf halbem Wege halten Gardisten sie auf, schießen in die Menge. Die Demonstranten kehren auf die Croix Rousse zurück, schreien: »Zu den Waffen, sie töten unsere Brüder!« Dort wird die Menschenmenge immer größer, sie errichtet Barrikaden, sammelt Pflastersteine, nimmt Stöcke, Spaten; manche entfernen Metall aus den Webstühlen, um es zu schmelzen, denn es gibt sogar Gewehre. Ein Brotkanten, aufgespießt auf ein Bajonett, wird durch die Menge getragen unter dem Ruf: »Brot oder Blei!« Auf den Dächern, an den Fenstern stehen Canuts, bewaffnet mit Steinen. Gardisten haben sich angeschlossen.
Wieder rückt eine bewaffnete Einheit an, diesmal mit dem Präfekten und einem hochrangigen General; wieder treffen sie auf entschlossene Gegenwehr, die diesmal besser ausgerüstet ist. Der Präfekt bietet Verhandlungen an. Da aber immer noch geschossen wird, lassen sich die Canuts nicht beruhigen und rufen: »Arbeit oder Tod! Lieber sterben wir durch eine Kugel als vor Hunger!« Tatsächlich wird ihnen die geforderte Summe versprochen, mit der sie einen Fonds zum Ausgleich ausgefallener Löhne schaffen können, eine Art Streikkasse.
Der Präfekt und der General werden entwaffnet und festgesetzt. Die Aufständischen wählen einen erfahrenen militärischen Anführer, einen überzeugten Republikaner; viele Rhone-Freiwillige schließen sich ihnen an. Auf einer der Barrikaden wird zum Zeichen der Trauer eine schwarze Fahne gehisst mit der Inschrift: »Leben und arbeiten oder kämpfend sterben!« und laut schallt es auf der Croix Rousse: »Vivre en travaillant ou mourir en combattant!«
Gegen das Versprechen, den Mindestlohn durchzusetzen, wird der Präfekt nachts freigelassen, der General wird gegen zwei gefangene Canuts ausgetauscht.
Sehr früh am nächsten Morgen kommen über 300 Canuts aus einem anderen Stadtteil auf die Croix Rousse. Dort werden isolierte Gardisten entwaffnet, Wachhäuschen angezündet usw. Die Canuts, die mit Stöcken und Steinen angefangen haben, kämpfen nun mit Waffen, besetzen militärische Gebäude und schlagen Soldaten und Gardisten zurück, die gegen sie vorgehen. Die Kämpfe erstrecken sich bis hinunter in die Stadt. Dort schließen sich ihnen Arbeiter aller Sparten an, auch Gardisten und Soldaten, ebenso Zeitungsleute. Republikanische Parolen werden laut. Die Aufständischen, unter ihnen viele Frauen und Kinder, nehmen Brücken, wichtige Gebäude, Straßenzüge ein, schließlich auch das Rathaus von Lyon. Sie kämpfen so lange und so verbissen, verzweifelt, bis es keinen Widerstand mehr gibt. Der Bürgermeister ist nicht mehr da, und der Präfekt hat sich diskret in die Präfektur zurückgezogen, deren starke Eisengitter noch heute imponieren.
In der Nacht zum 23. November lässt der oberste Militärführer die Stadt evakuieren: Sie gehört den Canuts! Ihr Aufstand ist zu einer Revolution der Besitzlosen gegen die Besitzenden geworden. Sie hat 600 Menschen das Leben gekostet.
Im Rathaus bildet sich ein vorläufiger Generalstab: Bekanntmachungen werden formuliert, Plünderer und Diebe streng bestraft. Von den Gefangenen werden die befreit, die wegen ihrer Schulden inhaftiert sind. Künftig sollen die Stadt und das Departement von den Arbeitern regiert werden: »Eine verwegene Zukunftsvision, die an Kühnheit sogar das übertrifft, was die Pariser Kommunarden vierzig Jahre später durchsetzen wollten.« [5]
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Woran lag es, dass der Aufstand der Seidenweber zur Niederlage wurde? Es gibt eine Vielzahl von Gründen, die von den Historikern jeweils unterschiedlich gewichtet werden.
- Der provisorische Generalstab war instabil, sehr heterogen zusammengesetzt, wurde durch einen zweiten ersetzt. Der verhandelte mit den entmachteten Autoritäten, die Zeit gewinnen wollten und auf militärische Unterstützung aus Paris warteten.
- Der Teil des Bürgertums, der republikanisch gesonnen war, unterstützte den Aufstand nicht ausreichend.
- Der erfahrenste und fähigste Mann unter den Verantwortlichen, Michel-Ange Périer, wurde während der Kämpfe schwer verwundet.
- Die Ankündigung, der Kronprinz und der Kriegsminister werden nach Lyon kommen, schuf Unsicherheit.
- Ein Teil der Canuts ließ sich durch verständnisvolle Verlautbarungen und Versprechen der Entmachteten verführen, gab die Waffen ab und nahm die Arbeit wieder auf, ohne dass feste Tarife vereinbart waren.
- Ein anderer Teil der Canuts ließ sich durch Gerüchte einschüchtern, wonach 20.000 Soldaten im Anmarsch seien, um die Stadt zurückzuerobern. Der Zusage, das Militär werde die Stadt nicht betreten, trauten sie nicht. Einige Canuts, die sich im Kampf profiliert hatten, verließen mutlos die Stadt. Immer mehr Kämpfer gaben ihre Waffen ab.
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Nach und nach erlangen die ehemals Mächtigen die Macht zurück, begleiten dies mit schönen Reden. Als am 3. Dezember starke Militäreinheiten mit Kronprinz und Kriegsminister in die Stadt und die Vororte einziehen, werden sie schweigend empfangen. Übrigens hatten sich einige Soldaten, trotz Strafandrohung, geweigert, die Vorstädte zu betreten. Und weiter?
- Die zugesicherten finanziellen Unterstützungen, beispielsweise zum Ausgleich zu niedriger Löhne, kommen erst spät zum Tragen und werden oft zweckentfremdet.
- Der König gibt, wie versprochen, eine große Arbeit in Auftrag.
- Etwa dreißig Männern wird der Prozess gemacht – mehrere hundert Kilometer von Lyon entfernt. Trotzdem gibt es lautstarke Sympathiekundgebungen, die die Richter nervös machen, so dass die meisten Angeklagten freigesprochen werden und die anderen milde Strafen erhalten.
- Die Canuts müssen, um weiterarbeiten zu können, neue Arbeitspapiere beantragen, die eine Bescheinigung über ihr Wohlverhalten einschließt. Das bedeutet Arbeitslosigkeit für eine ganze Reihe unter ihnen.
- Der Kriegsminister lädt freundlich ein, in die Armee einzutreten. Er braucht Soldaten für Algerien.
1834 wehren sich die Seidenweber ein zweites Mal … Nicht nur in Frankreich erregt der Seidenweber-Aufstand große Aufmerksamkeit. Für Marx und Engels ist er beispielhaft und seine Bedeutung für die materialistische Geschichtsauffassung kaum zu überschätzen, war er doch der erste, der neue historische Tatsachen schuf. Diese neuen Tatsachen, so Engels in »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft«, zwangen dazu, »die ganze bisherige Geschichte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, und da zeigte sich, dass alle bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen war.« [6]
Den Begriff »Sturmglocke zu Lyon« gebraucht Marx im ersten Band des »Kapital«, im 22. Kapitel, das die »Verwandlung von Mehrwert in Kapital« thematisiert. Der »gelehrte Zank«, der sich um die Rolle der Arbeiter, der Kapitalisten und Grundeigentümer entfacht hatte, »verstummte vor der Juli-Revolution« in Paris, die 1830 den König in die Flucht geschlagen hatte (s. oben). »Kurz nachher läutete das städtische Proletariat die Sturmglocke zu Lyon ...« [7]
Anmerkungen:
[1] Saint-Simon (1760-1825) ist Frühsozialist und stark katholisch geprägt.
[2] Übersetzt nach Fernand Rude, Les révoltes des canuts, Paris 2007 (letzte Auflage), S. 15.
[3] Rude, S. 18.
[4] Anders als auf dem Land und in den Vorstädten, stellten in den Städten hauptsächlich reichere Bürger die zivile Nationalgarde. Sie war eine Errungenschaft der französischen Revolution von 1789.
[5] Rude, S. 49.
[6] MEW 20, 1962, S. 25. Herzlichen Dank an Professor Eike Kopf, der mir ein Wegweiser durch die MEW war.
[7] MEW 23, 1962, S. 622.
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2015-04: 2. April 1840: Émile Zola geboren