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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Benjamins – eine deutsche Familie (II und Schluss)

Werner Wüste, Wandlitz

 

Ich höre, daß du die Hand gegen dich erhoben hast
Dem Schlächter zuvorkommend.
Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend
Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben
Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten.
Reiche stürzen. Die Bandenführer
Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker
Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen.
So liegt die Zukunft in Finsternis und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest.

Mit diesen Versen von Bertolt Brecht, dem Freund, lässt Uwe-Karsten Heye seine nachdenkliche Beschreibung des kurzen Lebens Walter Benjamins ausklingen.

Gerade 48 Jahre hatte er gelebt, als er, der zu erwartenden Auslieferung an die Nazis zuvorkommend, sein Leben beendete.

Walter Benjamins Neffe Mischa erinnert sich: In dem Zimmer, das ich in der Nazizeit mit meiner Mutter teilte, stand im Bücherregal auch das Buch »Deutsche Menschen« - ein wunderschöner Briefband, in einem Schweizer Verlag erschienen, von Detlef Holz herausgegeben. Wer dieser Detlef Holz war, sagte meine Mutter mir erst nach dem Kriege.

Der Titel, den Walter Benjamin dem Buch gab, war ein Programm: »Deutsche Menschen«, und nicht minder das Motto, mit dem er das Buch versehen hatte: Von Ehre ohne Ruhm - Von Größe ohne Glanz - Von Würde ohne Sold.

In diesem Sinne Deutscher zu sein heißt Partei nehmen und sich mit dem dezidierten Antifaschismus einzusetzen, den uns Walter Benjamin vorlebte.

Uwe-Karsten Heye versucht, sich die letzten Stunden Walter Benjamins vorzustellen. Der verbringt die Nacht vor dem illegalen Grenzübergang nach einem anstrengenden Versuchsmarsch in einem Weinberg. Am Folgetag soll der eigentliche Übertritt nach Spanien folgen. Zurückzukehren an den Ausgangspunkt aber, um am nächsten Tag den ganzen Marsch erneut zu absolvieren - dieser weiteren Strapaze fühlt der Herzkranke sich nicht gewachsen. Also verbringt er die Nacht allein, wartend auf die kleine Gruppe, wie verabredet.

Das ist, nach Heyes Vorstellung, eine Nacht der Rückschau, der Erinnerungen, der Reflexionen, der Wehmut auch. Auf diese geschickte Weise gelingt es ihm, das sehr Persönliche mit dem Politischen zu verknüpfen, zu zeigen, wie das Eine in das Andere führt; das nachzuvollziehen hatte ich keine Probleme. Heye löst diese selbstgestellte Aufgabe sehr einfühlsam, sehr nachdenklich.

Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, eine einschränkende Anmerkung: an seiner Mitteilung, Hilde Benjamin habe sich überzeugt gegeben, dass Walter den Weg in die SED gefunden hätte, melde ich erhebliche Zweifel an, zumal Heye seine Quelle nicht preisgibt. Eine solche spekulativ-konkrete Aussage will zu meinem Bild von Hilde Benjamin ganz und gar nicht passen. Ich habe eine vage Erinnerung, nach der sie von Walters Weg zum Marxismus überzeugt war. Das aber ist wohl doch etwas wesentlich Anderes.

Obwohl er mir nur in den von Hilde Benjamin notierten Erinnerungen und in seinen Briefen begegnen konnte, ist mir Georg nahegerückt.

Warum erwähnt Heye ausdrücklich seine im Recherchieren erworbene Nähe zu Georg? Vielleicht, weil er selbst spürt: solche Nähe zu Hilde hat er nicht finden können? Ich betrachte diese Frau aus der Ferne des Jahres 2012 ... Aus der Ferne. Das bleibt hängen beim Lesen.

Aber er will ihr gegenüber gerecht sein, und das gelingt ihm auch. Manche Passagen lesen sich, als hätte Heye das Bedürfnis gehabt, heute an ihr gut zu machen, was seine bundesdeutschen Berufskollegen jahrelang an Diffamierung, Gehässigkeit, Scheinheiligkeit, Zynismus, von Unwahrheiten und Dummheiten nicht zu reden, aus vollen Kübeln über Hilde ausgegossen haben. Das beeindruckt. Ich wusste immer davon, aber in dieser entlarvenden Massivität hatte ich das nicht wahrgenommen.

Heye vollzieht politische Abrechnung, mindestens sachliches Zurechtrücken. Es gibt keinen Mangel an drastischen Beispielen. Es fällt mir sehr schwer, sie nicht alle zu zitieren. Heye fasst zusammen: Der Völkermord auf Befehl blieb straffrei. Und an anderer Stelle: Die Tätergeneration wollte nicht erinnert werden, und Medien und Politik schufen dafür das entsprechende Klima.

Heye exerziert, was er, rückblickend, in der bundesdeutschen Wirklichkeit vermisst hatte: Nachdenkliche Selbstbefragung. Zum Beispiel zu den immer wieder, auch noch heute, zitierten Waldheim-Prozessen als angeblicher Beleg für eine willkürliche DDR-Justiz. Allerdings geht es fast nie um die Frage, wer dort auf der Anklagebank saß ... Ebenso machte sich kaum jemand die Mühe, sich die Anklageschrift anzusehen ... Alle waren ausnahmslos an zweifelhaften Todesurteilen beteiligt, manche an einzelnen, andere an dutzenden, einige an hunderten. ... Die als unzureichend bemängelte Beweisführung entsprach dem alliierten Sonderrecht, das auch in den Westzonen Geltung hatte.

Im Gegensatz dazu erinnert er unter anderem an den Freispruch für einen Nervenarzt, der an zahlreichen Euthanasiemorden beteiligt war. Das Amtsgericht Köln bescheinigte dem angeklagten Arzt, die Taten aus »Idealismus« begangen zu haben. Das sei nicht zuletzt in der Fürsorglichkeit zum Ausdruck gekommen, mit der er sich um die "Beschaffung der zur Bestattung der Euthanasieopfer erforderlichen Särge bemühte."

Das ist die Sache mit der einen Krähe, die der andern ... usw.

Der Anteil der NSDAP-Mitglieder unter den niedersächsischen Richtern stieg von 65 Prozent vor Kriegsende auf bis zu neunzig Prozent im Jahre 1948.

Es mag genügen. Wie gesagt: Nachdenkliche Selbstbefragung. »Selbst« insofern, als Heye sich ohne Zweifel als der alt-bundesrepublikanischen politischen Szene zugehörig sieht und insofern mit verantwortlich. Er jedenfalls findet heute im Recherchieren und Nachdenken auch eine andere Hilde Benjamin. Und schreibt, indem er sich mit einem bösartigen Zitat auseinandersetzt: Für den "Spiegel" undenkbar, dass Hilde Benjamins Motivation aus ganz anderen Erfahrungen gespeist sein könnte. Sie könnte ja ein sozialistisches Recht vor Augen gehabt haben, das sich von der Klassenjustiz unterschied, mit der sie es in der Weimarer Republik zu tun hatte. Ebenso könnte es ihr darum gegangen sein, die Tradition der bürgerlichen Justiz zu beenden, die den Terror von rechts mit klammheimlicher Sympathie begleitete.

In der Tat. Indem Heye ein weiteres Mal von ihm bejahte Information mit Polemik verbindet, also gegenüberstellt, vergleicht und so dem Leser seine positive Sicht zum Nachvollzug anbietet: Genau genommen hat ihre Architektur eines sozialistischen Rechts im Westen faktisch keine Debatte ausgelöst, höchstens abfällige Kommentare. Dabei hätte zumindest das von ihr wesentlich mitgestaltete Familienrecht der DDR mehr als den Nachruf verdient, mit dem es nach der Wiedervereinigung im Westen beerdigt wurde. Es war so modern und emanzipatorisch, dass es westlichen Kritikern die Sprache verschlug ... Die Gleichheit von Mann und Frau ist darin verbrieft, zu einer Zeit, als im Westen Frauen bei der Aufnahme eines Kredits oder der Einrichtung eines Bankkontos noch die Erlaubnis des Ehemanns brauchten.

Uwe-Karsten Heye erzählt über Mischa, indem er dessen sehr liebe- und achtungsvolle Beziehung zu seiner Mutter Hilde beschreibt (und er findet hier auch die Nähe, die nicht erreicht zu haben er weiter vorne indirekt beklagt hatte), sowie im Besonderen dessen Haltung zur DDR.

Radikaler als an die Wurzeln gehende Kritik (...) an der DDR stehe für ihn die Frage im Zentrum, was denn die DDR im Sinne der Neuerarbeitung einer Sozialismuskonzeption hervorgebracht habe. Zwar habe er nach 1989 wie viele andere Antwort auf die Frage gesucht: Wie konnte das geschehen? Was war falsch? Wo lagen die Ursachen? Ganz dick unterstrichen seine Gewissheit: Nur wir haben ein Interesse, die wahren Ursachen des Scheiterns zu erkennen. Nur wir können die Fehler benennen; wir müssen sie benennen, dass Nachfolgende sie nicht wiederholen. Diese Aufgabe hat unsere Generation zu erfüllen.

Dass Heye hier nach seiner Meinung Benjamin, tatsächlich aber, beginnend mit dem zweiten Satz, Wüste zitiert, nehme ich ihm natürlich nicht übel. Im Gegenteil. Es ehrt mich, weist es ja schließlich deutlich darauf hin, dass unser beider Herangehen, wie konnte es auch anders sein, sehr ähnlich war.

Wenige Zeilen später: Wüste hat Briefe und Manuskripte von Michael Benjamin zusammengetragen und in dem Buch Das Vermächtnis herausgegeben. Seine damit verbundene Hoffnung war, dass dessen Denken und seine immense Intellektualität ein größeres Publikum erreichen möge. Mich hat er damit erreicht und zugleich mein Bedauern hervorgerufen, ihm (gemeint ist mit Gewissheit M. B.) nicht begegnet zu sein.

Danke, Uwe-Karsten Heye! Und dass meine Arbeit Ihnen helfen konnte, ein kluges Bild von Mischa zu zeichnen, ist mir zugleich Freude und Genugtuung.

Besonders zwei Briefe charakterisieren Mischas Haltung. Aus beiden zitiert Heye ausführlich. Den an Kurt Gossweiler führt er so ein: Michael Benjamin gehörte nicht zu denen, die sich die Geschichte der kommunistischen Weltbewegung schönredeten, besonders da, wo sie sehr hässliche Züge aufwies.

Mischa zeigte sich entsetzt, dass Gossweiler ausgerechnet die dunkelsten Seiten unserer Geschichte hinwegzureden oder zu rechtfertigen versucht. Wir schaden in schrecklicher Weise unserer eigenen Sache, wollen wir das Unbestreitbare und Offensichtliche nicht zur Kenntnis nehmen. Heye fasst zusammen: Michael Benjamin wollte den Dialog zwischen differierenden linken Positionen und einen linken Pluralismus, der respektvoll auszuhalten sei.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Gossweiler-Briefes gab es für Mischa Anlass, seine Position deutlich zu bekräftigen und er hält es für notwendig, noch einmal festzustellen, daß ich Ausschlußforderungen gegenüber wem auch immer, heiße er Gossweiler, Brie oder anders, prinzipiell für absolut ungeeignet halte, theoretische oder ideologische Streitfragen zu lösen. Und er bekundet seine Hochachtung und Solidarität gegenüber dem Historiker und Antifaschisten Genossen Kurt Gossweiler.

So war Mischa.

Der zweite der erwähnten Briefe ist an Stefan Heym gerichtet. Heym hatte im März 1994 in einem Nachruf für Walter Janka an dessen Prozess von 1956 erinnert und den Melsheimer und Benjamins den Gedanken unterstellt, mit ihm (Janka) ... ließe sich wohl ein Prozeß aufziehen.

Mischa unternimmt einen Ausflug in die Familiengeschichte, nennt Generationen von Kaufleuten, Fabrikanten und Buchhändlern, Rabbinern, Gelehrten und Ärzten, Klein- und Großbürgern, Konservativen und Liberalen und Revolutionären, die seit 300 Jahren, wenn nicht länger in Deutschland ansässig sind. ... Natürlich würden Sie mir antworten, daß Sie diese alle nicht gemeint hätten. Sie meinten mit diesem Plural eine Benjamin, meine Mutter ... Für mich ist diese Frau in allererster Linie meine Mutter, die mich unter feindlichsten Verhältnissen ... allein am Leben gehalten und großgezogen hat. Das allein ist Grund genug, mich jeder Einseitigkeit und Voreingenommenheit bei der Beurteilung ihres Lebens und Wirkens entgegenzustellen ... Aber nicht nur Sohnespflicht allein ist es, die mich bewegt. Hilde Benjamin steht für einen Teil DDR-Geschichte ...Viele haben meine Mutter gehaßt; nicht minder wurde sie von anderen geachtet und verehrt. Das letzte Wort über ihr Wirken hat nach meiner Überzeugung die Geschichte noch nicht gesprochen ...

Eine ähnliche Betrachtung findet man im Gossweiler-Brief: Die Erfolge des realen Sozialismus wie auch sein schließliches Scheitern in der Sowjetunion und in anderen Ländern haben weit tiefer liegende Ursachen - objektive wie subjektive, innere wie äußere, über die noch lange geforscht und debattiert werden muß.

Dass ich Heyes Buch Die Benjamins. Eine deutsche Familie einen großen Kreis kritischer Leser wünsche, ist hoffentlich deutlich geworden; auch und gerade weil es herausfordert. Und ungeachtet der Tatsache, dass Heye der Gefahr des unkritischen Umgangs mit anti-sozialistischer, im Westen aber gewohnter Begrifflichkeit leider nicht entgangen ist. Dazu mag jeder Leser sich seine eigene Meinung bilden. Insgesamt gilt: Nach dem Lesen ist man um etliches klüger als zuvor.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2014-05: Die Benjamins – eine deutsche Familie (I)

2012-06: Vor achtzig Jahren: Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?

2011-09: Pablo – der Tschort