Die Befreiung der Aggressoren
Dr. Hartmut König, Panketal
Gedanken zum 75. Jahrestag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion
Am 22. Juni 1941 überfiel das faschistische Deutschland die Sowjetunion. Flankiert von seinen Vasallen, startete Hitler das Blitzkrieg-Unternehmen »Barbarossa«. Im Rausch der Faschisierung Spaniens und der Annexion Österreichs, später des »Münchener Abkommens«, mit dem Großbritannien und Frankreich die Tschechoslowakei ausgeliefert hatten, sowie der Geländegewinne seit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 standen die faschistischen Divisionen nun an den Grenzen des Riesenreiches, dessen politische Orientierung und staatliche Integrität sie zerstören sollten. Die »völkische« Raumgewinnung strebte nach Land, Getreide, Bodenschätzen, Arbeitssklaven – all den imperialen Begehrlichkeiten, die die Siegermächte des 1. Weltkrieges ihrer deutschen Konkurrenz nicht zugestanden hatten. Aber eines blieb okkulter Konsens jenseits aller imperialistischen Egoismen: Der elektrisierenden Ideenwelt der Oktoberrevolution, die sich in der sowjetischen Republiken-Union auf zwei Kontinenten verbreitet hatte, sollte nach all den vergeblichen Interventionsattacken endgültig ihr staatlicher Unterbau zerschlagen werden. Hitlers Expansionsdrang wurde mit diesem Ziel nach Osten gelenkt. Mit diesem Kalkül hatten Chamberlain und Daladier dem Münchener Abkommen zugestimmt. Später hatten deren Militärs dringend erforderliche Übereinkünfte mit der Roten Armee verzögert. Stalin hatte so den Abschluss des unseligen Nichtangriffspaktes mit dem faschistischen Deutschland gerechtfertigt und war in Schockstarre versetzt, als Hitler ihn brach. Er hatte die Warnrufe Richard Sorges und anderer Quellen ignoriert, die den bevorstehenden faschistischen Einfall in die Sowjetunion meldeten und stand nun vor der Aufgabe, die durch »Säuberungen« innerhalb der Armeeführung und mangelhafte Vorbereitungen auf den Krieg geschwächte Landesverteidigung in brachialem Tempo zu organisieren.
Die angreifenden Divisionen Hitlerdeutschlands und seiner Satelliten nutzten das Überraschungsmoment. Der strategische Vorteil führte sie schnell ins Landesinnere. In den Kesselschlachten von Bialystok und Minsk obsiegten die faschistischen Aggressoren. Anfang September erreichten die deutschen Truppen Leningrad, das sich heldenhaft gegen die zynisch befohlene Hungerblockade zu wehren begann. Am 20. September besetzte die Wehrmacht Kiew. Mitte November stand sie im Donezbecken und eroberte die Krim.
Kriegswende Stalingrad
Die Großoffensive zur Einnahme Moskaus indes stoppte vor den Toren der Stadt und wurde durch Gegenschläge der Roten Armee zu einem endgültigen Fiasko. Die Blitzkriegspläne Berlins waren gescheitert. Als es 1942 noch immer keine zweite Front in Europa gab, die der Sowjetunion die ersehnte Entlastung gebracht hätte, strebte Hitler offensiv der Wolga bei Stalingrad und den kaukasischen Erdölfeldern zu. Aber auch dieser Vorstoß kam zum Stehen, in Stalingrad wurde erbittert um jedes Haus gekämpft. Im russischen Eiswinter scheiterte der Versuch, die eingekesselte Aggressoren-Armee zu entsetzen. Die 90.000 Überlebenden kapitulierten. Die Schlacht an der Wolga wurde zum Wendepunkt des 2. Weltkrieges. Unter großen Opfern befreite die Rote Armee Woronesh, Kursk, Rostow, das Donezbecken, Kiew, die Gebiete Nowgorod und Leningrad, Odessa und die Krim. Erst als sie im Juni 1944, unterstützt von Hundertausenden Partisanen, Belorussland zurückzuerobern begann, war mit der Landung der westlichen Alliierten in der Normandie endlich die zweite Front gegen die faschistische Allianz eröffnet worden. Die Verbündeten, die durch die Lagertore von Auschwitz, Dachau, Buchenwald oder Bergen-Belsen schritten, bekannten unter Tränen, dass ihnen der Sinn ihres Kampfes nicht klarer vor Augen stehen konnte. Und der Händedruck der Russen und Amerikaner an der Elbe sah aus wie das brüderliche Versprechen an die Völker: Nie wieder Faschismus, nie wieder dieses Völkergemetzel! Am Ende des Krieges hatten allein die Sowjetunion 27 Millionen, Polen und Deutschland je 6 Millionen und die Völker der Westalliierten zusammen 1,5 Millionen Menschenleben zu beklagen. Mehr als 11 Millionen Häftlinge waren in den faschistischen Konzentrationslagern ermordet worden. Die Toten konnten aus den Ruinen Europas nicht auferstehen, wie es ihre Völker taten. Die Überlebenden aber fanden sich alsbald im Irrwitz eines Kalten Krieges wieder, den Churchill mit seiner Rede in Fulton so unzweideutig proklamiert hatte. Die Welt wurde anders bipolar.
DSF: Charaktersache
Dreimal stand ich auf Stalingrader Boden, in der Helden-Stadt, die den Namen des Georgiers bereits abgelegt hatte. Das erste Mal 1966 während einer »poetischen Dienstreise« zu jungen sowjetischen Dichtern. Ich ahnte, dass ich die Stadt anders verlassen würde, als ich sie betreten hatte. Wir fanden am Ufer der Wolga angeschwemmte Patronenhülsen und Knochensplitter. Heinz Kahlau übertrug ins Deutsche, was unser russischer Dichtergefährte Schoschin darüber schrieb: »Die hier gestorben sind, haben als Totenhemd - Tang. Statt Gras deckt sie Schmieröl – auf ihren Rückenwirbeln / gehen die Menschen am Ufer der Wolga entlang.« Ich war von diesem Eindruck wie betäubt. Während der dritten Reise 1977, zum Freundschaftstreffen mit dem Komsomol, wurde uns ein Strauß von Getreideähren überreicht, die frisch auf dem letzten von Minen geräumten Feld geschnitten wurden. Jahrzehnte waren seit den Kämpfen vergangen – aber die Mahnungen des Krieges blieben so gegenständlich greifbar! Die Wolgograder hatten ihre Trauer nicht abgelegt, in den Familien saßen die Gefallenen und Getöteten noch immer mit zu Tisch. Wieviel Hass wäre denkbar gewesen, aber man lud uns junge Deutsche an diese Tafel ein. Im Inneren der Ruhmeshalle auf dem Mamajew-Hügel, der die schwertschwingende »Mutter Heimat« trägt, erklingt die »Träumerei« des deutschen Komponisten Schumann. Die Russen können das humanistische vom barbarischen Erbe der Deutschen unterscheiden. Ich hatte diese Facette russischer Großartigkeit zwar aus der Geschichte und vielen Alltagsbeobachtungen gelernt. Aber an der Wolga kam sie mir näher als je zuvor. Die deutsch-sowjetische Freundschaft, die im Verklärungseifer dubioser »DDRologen« heute gern als verordnetes Vasallentum abgetan wird, hatte bei mir und, wie ich weiß, bei vielen anderen eine sehr persönliche, tief verinnerlichte Dimension. DSF war Charaktersache. Die Opfer bei der Zerschlagung des Faschismus, die Schulternähe beim Aufbau des Sozialismus sowie im internationalen Kampf um Frieden und sozialen Fortschritt, aber auch viele private Verbindungen hatten sie dazu gemacht. Politische und ökonomische Zeigefinger der sowjetischen Führungsmacht konnten vielleicht irritieren, aber wenig daran ändern. So gingen wir am 8. Mai mit Blumen zum Treptower Ehrenmal. Handgemalte Plakate erschienen auf Demos gegen Reagans Aufrüstungswahn: »Wer Frieden will, hält zur SU!« DSF war schließlich auch das Agens jener großen Hoffnung, die Gorbatschows Umgestaltungspläne gegen heimische Erstarrungen verteidigte, allerdings auch des späteren Entsetzens, als die DDR vom innenpolitisch gescheiterten Perestroika-Strategen in höchster Not so billig verrubelt wurde. Ich sah Gorbatschows Entmachtung, Jelzins versoffenes Zarentum, das Verbot der KPdSU, die Zerschlagung der UdSSR, den Raub gesellschaftlichen Eigentums, die kriminelle Energie der sich formierenden Kapitalistenklasse, ihren orgiastischen Lebensstil. Ich erlebte nahe dem Arbat, wie eine Stretch-Limousine der Neureichen dreckigen Schneematsch gegen das ordengeschmückte Jackett des Kriegsveteranen schleuderte, der auf Knien für die Aufbesserung seiner Rente bettelte. Auf diesen alten Mann und seinesgleichen richtete sich nun meine »DSF«, wobei das »S« ja längst aus dem Namen gefallen war. Sie hatten den größten Anteil an der Zerschlagung des faschistischen Blocks, an der Befreiung der Völker von den Aggressoren, ja an der Befreiung der Aggressoren selbst.
Putin widerspricht
Was auch immer werden würde in diesem nach Westschablonen zusammengepuzzelten Deutschland, ich schwor mir, diese Liebe zu den Russen zu bewahren. Schon bei der blamablen Verabschiedung der in Ostdeutschland stationierten russischen Streitkräfte war zu ahnen, wieviel Undank und Missachtung russischer Gefühle in der Führung des mit Moskauer Hilfe größer gewordenen Deutschland virulent bleiben würde. Die Stalingrader Kriegswende verblasste in der offiziösen Erinnerungskultur allmählich hinter der späten Landung der Westalliierten in der Normandie. Geschichte wurde nach den Bedürfnissen einer US- und NATO-gesteuerten Eindämmungspolitik gegenüber dem einstigen Rivalen interpretiert. Länger gehegte strategische Interessen der USA, in die sich die Europäische Union zu ihrem Schaden noch immer einbinden lässt, möchten Russland zu einem »Partner am Katzentisch« stauchen. Obama redete deshalb verächtlich von einer »Regionalmacht«. Putin, der das Selbstwertgefühl der Russen und die Behauptung nationaler Interessen gegen diese dem Kalten Krieg ähnlichen Vorstöße maßvoll in Stellung bringt, avancierte bei den ertappten weltpolitischen Kulissenschiebern zum bestgehassten Schurken. Und während der politische Mainstream in Deutschland sich in diese Deutung fügt, rumort bei unsereins längst wieder »DSF« – oder bitte: nun eben »DRF« – im geschichtlichen Gewissen. Leute wie ich rieben sich fortwährend die Augen, in welcher historischen Rasanz die geo-strategischen Schwurfinger, die die Westmächte im Moment des Zerfalls des sozialistischen Systems in Europa zur vorgeblichen Wahrung russischer Interessen noch gehoben hatten, vor den Verlockungen neuer militärischer Vormärsche einknickten. Gorbatschow wagte ein zaghaftes Ja, aber … Jelzin schwieg bis zum Tode, sein Heu war längst im Familienschober. Putin aber tut das Unerhörte: Er widerspricht.
Als casus belli gilt der Volksentscheid auf der Krim, mit dem eine Wodkalaune Chruschtschows korrigiert wurde. Die Krim kam wieder zu Russland. Ein Vorgang, der angesichts des NATO-Strebens nach Osten, einschließlich der Destabilisierung der Ukraine, durchaus im strategischen Interesse Russlands lag. Sewastopol brauchte keinen NATO-Hafen in spe. Betrachtet man Geschichtsmomente wie die Loslösung des Kosovo oder die von den anderen westlichen Führungsmächten klaglos akzeptierte US-Invasion in dem kleinen Grenada zum Vergleich, so wird die Doppelmoral deutlich, mit der die Ereignisse auf der Krim nach Pentagon-Lesart zum Vorwand einer Stärkung der westlichen Militärallianz genommen werden. Einer Allianz, deren Daseinsberechtigung mit der Auflösung des Warschauer Vertrages nach vernünftigem Kalkül erloschen sein müsste. Jüngst aber schickt sie sich sogar an, mit deutscher Unterstützung ihre Präsenz im Baltikum zu verstärken. Deutsche Soldaten im Baltikum! 1968, als Truppen des Warschauer Vertrages in der ČSSR einmarschierten, hatte UIbricht mit Breschnew unter Hinweis auf unheilvolle geschichtliche Vergleiche die Absenz der Volksarmee verabredet. Kam Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch von Barack Obama in Hannover auf eine ähnliche Idee? Fehlanzeige. Die auch in Russland ausgebildete Physikerin mag hinter den Kulissen manche Moderation gewagt haben. Aber Schröders Schneid, den Amerikanern nicht in den Irak zu folgen, hat sie in Bezug auf deren antirussische Destabilisierungspolitik leider nicht. Die noch lebenden Ex-Bundeskanzler beklagen, wie seinerzeit auch Helmut Schmidt, die Russland-Politik der Europäischen Union. Bei Frau Merkel hingegen passieren alle Eseleien, mit der die EU Russlands Kooperationsangebote – bei einem offerierten Aktionsradius von Lissabon bis Wladiwostok! – brüskiert, anstandslos die Raute. Das ist zukunftslos und leistet Kräften Vorschub, die im US-strategischen Interesse eine gedeihliche europäisch-asiatische Kooperation unter Nutzung der avancierten Technologien, der reichen Bodenschätze und der gewaltigen Handelsvolumina des Doppelkontinents verhindern wollen. Deshalb also: Kein Gauck zu den Spielen in Sotschi (klar, bei der Vita!), keine Kanzlerin zur Siegesparade am Tag der Befreiung in Moskau, Ausladung Russlands aus der Runde der G8, Suspendierung des NATO-Russland-Rates just dann, als er am meisten benötigt wurde – und nun wohl bald Bundeswehr im Baltikum. Wer hält diese wahnsinnige Dialogunwilligkeit auf? In der alten bipolaren Welt trafen sich die »Großen Zwei« und regelten das Friedenswichtigste. Diese Augenhöhe hält das Weiße Haus für historisch antiquiert. Solange sich aber Washington ohne europäischen Einspruch als omnipotente Kommandomacht ausgeben kann, wird diktiert, statt diskutiert. Kein schlechter Grund, ein aufrichtiger, also kritischer Freund Russlands zu bleiben. Erst recht, wo sich obskure »Freunde« auf dem Feuer russischer Empörung ihre dunkelfarbigen Süppchen kochen möchten.
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