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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die »Aurora« und ich

Günter Herlt, Berlin

 

Weil ich als Zimmermanns-Lehrling der billigste unter den zwölf Kollegen war, schickte mich 1948 der Besitzer der Baufirma – nach Aufforderung durch die Gewerkschaft – für zwei Wochen zu einem Kurzlehrgang. Er fürchtete nur, dass mir dort ein »geschäftsschädigendes Verhalten« eingeimpft werden könnte. Das war berechtigt. Es ging um die neuen Arbeitsrechte für eine Welt ohne Herren und Knechte.

Wenn es ums Gemeinwohl geht

Der Kursleiter war ein Opfer des Naziregimes. Er war ein kluger, offener Diskussionspartner. Als ich ihn in einer Pause fragte, wo er sein Wissen herholt, nannte er Bücher: Von Bebel und Engels, Heine und Brecht, Gorki und Lenin. So ging ich dann mit meinem Wochenlohn von 7 Mark 32 in einen Buchladen. Dort sah ich zwei dicke Bände mit Lenins Schriften. Der Verkäufer wollte 10 Mark dafür und gab mir Kredit. Zu Hause las ich dann »Die große Initiative«: Die Oktoberrevolution war ein Echo des ersten weltweiten Massenmordens. Sie lag noch in den Windeln als sie vielerlei Gegner erwürgen wollten. Da kamen besorgte Bürger zur unbezahlten Arbeit in ein Lokomotivwerk, damit die ramponierten Dampfrösser wieder Nahrung und Kohlen heranholen konnten. Das kleine Beispiel wurde als »Subbotnik« zur großen Bewegung: Die Bürger übernahmen Aufgaben des Staates, weil der neue Staat die Volksinteressen zur Staatssache machte.

Drei Mahnungen aus Lenins Artikel prägten sich bei mir ein: Die neue Ordnung beginnt dort, wo sich die Menschen nicht nur ums eigene Wohl, sondern ums Gemeinwohl kümmern. (Aber vorher müssen sie was essen!)

Die Basis für den Sieg muss die höhere Arbeitsproduktivität sein. (Die wurde aber nie effektiv und nachhaltig erreicht.)

Und Lenin weiter: Dieser Wandel braucht viel Disziplin, Beharrlichkeit und Geduld. (In der Folgezeit mangelte es uns oft an allen drei Tugenden: Am neuen Eigentümer-Bewusstsein, am konsequenten Leistungsprinzip und am Respekt vor den individuellen Bedürfnissen sowie den Gesetzen der Ökonomie und Psychologie bei Freund und Feind.)

Die Frage, ob diese Revolution »ein Irrweg« oder »ein Anfang« auf dem Weg in eine bessere Welt war, lässt sich aber nur unter Beachtung aller historischen Umstände beantworten!

Heute können wir viele Faktoren aufzählen, die unsere Fahnen von den Masten holten: Die miserablen Startbedingungen. Das aufgezwungene Wettrüsten. Die Interventionen der Widersacher. Die offene Grenze im Äther, wodurch die Gegner rund um die Uhr in alle Stuben kamen. Die eigenen Fehler beim Tempo und der Taktik der Umgestaltung …

Kräfte und Gegenkräfte

Doch wie mir die bürgerlichen Medien 100 Jahre später erklären, ging Lenins Experiment in die Hosen, weil die Arbeiter sagen: Erst kommt das Fressen, dann die Moral! Weil die Unternehmer gebildeter, gewitzter und begüterter sind. Außerdem zeige das russische Beispiel, wie viel Terror, Blut und Tränen solch ein Umsturz mit sich bringt.

Ach, diese Klugscheißer! Wieviel Ignoranz und Blindheit gehört dazu, die eigenen Gebrechen und Verbrechen des Imperialismus so schnell zu vergessen?

Beim Sturm auf das Winterpalais gab es doch kaum ein Dutzend Tote. Aber vorher und hinterher tobten die großen Gemetzel. Die gingen aber nicht von der Revolution aus, sondern von der Konterrevolution! Bis auf den späteren Verfolgungswahn von Stalin, der mit der Wühlarbeit der Gegner nicht zu rechtfertigen war. Das bleibt eine Schande.

Aber die Hauptquelle des russischen Elends war die parasitäre und grausame Zarenherrschaft. Kaum ein Land war rückständiger. Hinzu kamen die Bauernaufstände und Streiks. Und dann noch die Schlachten mit den zaristischen und ausländischen Regimentern und Banden bis 1922. Deutsche Truppen besetzten 1918 die Ukraine und Weißrussland. Kosaken stürmten das Kubangebiet und den Kaukasus. Britische Truppen landeten in Murmansk. Frankreich, Japan und die USA schickten Waffen und Munition für die Söldner aus vierzehn Ländern. Die sprangen wie Hyänen dem russischen Bären an die Gurgel. Und warum?

Weil alle früheren Revolutionen nur eine Ausbeuterclique durch eine andere ersetzten, nun aber sollte endlich das arbeitende Volk mitreden.

Welten kamen ins Wanken

Weil es nirgends Mitsprache ohne Mitbesitz gab, mussten neue Gesetze her. Die ersten Dekrete des Rates der Volkskommissare waren: Das Dekret über den Frieden, über den Grund und Boden und über die Vollmacht der Räte. Diese drei Gesetze hatten 1917 den gleichen Rang wie 130 Jahre früher die Losung der Französischen Revolution: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, die heute noch nicht eingelöst ist.

Die unerhörte Frechheit dieses Lenin bestand damals darin, ein Sechstel der Erde aus der Welt des Kapitals herauszubrechen! Und nicht nur das, auch die einträglichen Kolonialreiche der Imperialisten brachen später zusammen, weil sich die Völker in Afrika, Asien und Lateinamerika zur Selbstbefreiung ermuntert fühlten. Die Monarchen in Berlin, Wien, Budapest und im osmanischen Reich mussten abtreten. Aber der Gipfel des Leidens aller Börsianer war, dass am Ende die Mehrzahl der Erdbewohner nicht mehr für die Dividende der Monopolherren schuften wollte. Das löste jenen Anpassungszwang aus, der in der Welt des Kapitals zu mancherlei Veränderungen führte, um das System zu retten.

Dieser Schlaukopf Lenin hatte das alles vorausgesagt in seiner Analyse des Imperialismus: Die Konzentration von Kapital und Elend. Die neue Rolle der Banken und der Finanzoligarchie. Die nationalistischen Alleingänge der reichsten Staaten mit mörderischen Waffen. Die Kungeleien zwischen Politik und Geschäft.

Lenins Zeit und Kraft reichte nicht, die Zeichnung für das neue Haus des Sozialismus fertig zu stellen. Marx und Engels hinterließen nur einen Grundriss und die Röntgenbilder von den Krebszentren des Kapitalismus.

Die Risiken eines Alleinganges einzelner Saaten waren allen Vordenkern wohlbewusst. Heutzutage ist noch mehr zu bedenken! Wir haben die Chance und den Auftrag, darüber zu grübeln und zu streiten. Auch über solche Sätze, dass man die Ausbeuterbande aufkaufen müsste. China scheint schon dabei zu sein. Oder den Satz, dass uns aus allen Fenstern des modernen Kapitalismus der Sozialismus anschaut. Ja klar, wenn im VW-Werk die Belegschaft und die Kundschaft nicht so schamlos betrogen werden würde … Tatsächlich wächst auch unter Millionen Bundesbürgern die Solidarität mit den Flüchtenden aus Krieg und Elend. Die allermeisten Helfer nennen ihr Kümmern nicht »sozialistisch«, sondern »menschlich«. Aber was ist denn sonst noch menschlich am Kapitalismus? Die Hartz-Gesetze, die Frauenlöhne, die Kinderarmut, die Hochrüstung?

Als 1941-43 die Nazi-Wehrmacht Leningrad – die Wiege der Revolution – umzingelt hatte, da ließ Hitlers Armeeführer schon die Einladung für die Siegesfeier im Hotel »Astoria« drucken. 900 Tage Belagerung kann doch keine Millionenstadt aushalten. Aber Leningrad blieb uneinnehmbar! Die Bewohner mussten zuletzt die Dielen der Brauereien aufbrechen, um in den Ritzen nach Getreidekörnern zu suchen. Hunderttausende Einwohner haben den Beschuss, den Frost und den Hunger mit dem Leben bezahlt, während in Deutschland die Beute aus den eroberten Gebieten Europas verteilt wurde. Allein die Sowjetunion hatte durch den Vernichtungskrieg der Wehrmacht die Siedlungsgebiete von 45 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Dazu 33 Prozent der Industriekapazität, 69 Prozent der Kohle- und Stahlproduktion. Und dennoch trug dann die Rote Armee ihre Fahne bis auf das Dach des Berliner Reichstages. Die Erben der Revolution konnten als Erste auch im Weltraum ihre Wimpel setzen.

Glut unter der Asche

Das hilft zwar wenig, wenn heute viele Menschen in Russland auf höhere Einkommen, größere Wohnungen und bessere Autos warten. Aber was da heute schief läuft, hat doch wohl mehr mit den Oligarchen der Firma »Moneymaker« als mit den Veteranen der Oktoberrevolution zu tun?

Umso arroganter und anmaßender klingen viele Schlagzeilen zum Jubiläum der Revolution: Das sei doch ein »Putsch der Bolschewiki« gewesen. Die wirkliche Revolution habe doch 1905-07 stattgefunden. Der Zar habe doch schon im Februar 1917 abgedankt. Das Regime der Kommunisten müsse doch Gegenstand eines Tribunals werden usw.

Der Schuss aus der Kanone der »Aurora«, der das Signal zum Sturm auf das Winterpalais war, sitzt manchen Anbetern des Kapitalismus noch heute in den Knochen. Sie wollen und können nicht begreifen, dass diese Revolution an den Schlaf der Welt rührte. Und da ist durchaus Glut unter der Asche! Es braucht aber den Blasebalg mächtiger Volksbewegungen, damit die globalisierte Macht des Kapitals auch in globaler Dimension gebändigt werden kann. Und das muss gelingen, ehe jene Staatslenker, deren Köpfe wie Sprengköpfe agieren, den Selbstmord des Planeten auslösen!

 

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2017-05: Das Orakel vom Bodensee

2016-12: Das Ostfernsehen war besser als sein Ruf

2016-11: Das Chamäleon