Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Deutsche Vorherrschaft in Europa

Prof. Dr. Anton Latzo

 

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 sind national und international neue Bedingungen entstanden, unter denen die Interessen des deutschen Kapitals in Europa und darüber hinaus verwirklicht werden können. Die Vereinigung war selbst ein Bestandteil in diesem Prozeß und ein wichtiger Schnittpunkt bei der Gestaltung der Verhältnisse in Europa.

Neue Bedingungen und Möglichkeiten

Mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands durch die Einverleibung der DDR wurden wichtige Ziele des nach 1945 wieder entstandenen deutschen Großkapitals verwirklicht. Die Alleinvertretungsanmaßung wurde "nachhaltig" durchgesetzt. Erstmalig nach dem zweiten Weltkrieg wurde ein souveräner Staat in Europa zerschlagen und der Anschluß an einen anderen Staat vollzogen. Es erfolgte die erste Veränderung der Nachkriegsgrenzen in Europa nach dem zweiten Weltkrieg.

Durch die Revision der auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens (1945) geschaffenen Verhältnisse wurden zugleich die letzten Fesseln, die es in Bezug auf Deutschland zur Vermeidung des Wiederauferstehens des deutschen Imperialismus, Militarismus gab, beseitigt.

Der Sozialismus auf deutschem Boden und in Europa sowie die Warschauer Vertragsorganisation wurden auf dem europäischen Kontinent von der politischen Bühne verabschiedet. Damit fehlt(e) der hauptsächliche, Frieden sichernde Gegenpart zur Politik der kapitalistischen Großmächte allgemein und besonders zur Politik des deutschen Großkapitals.

Die Sowjetunion ist auf Rußland zusammengeschrumpft, das von inneren und von Widersprüchen zwischen den Nachfolgerepubliken befallen ist und einen substantiellen Bedeutungsverlust erlitten hat. Rußland ist nach 1990 weder Siegermacht noch Supermacht.

Auf der Grundlage der Veränderungen im ökonomischen Kräfteverhältnis und in der militärischen Kräftebalance haben auch Frankreich und Großbritannien wichtige Möglichkeiten des Einwirkens auf die deutsche Politik verloren. Die USA haben wichtige Instrumente aus der Hand gegeben und an Deutschland transferiert, weil sie anders insbesondere den Niedergang der Sowjetunion nicht erkaufen konnten.

Damit waren neue und wichtige Bedingungen für Deutschlands außenpolitisches Wirken geschaffen worden. Sie ermöglichten die Erweiterung der konzeptionellen außenpolitischen Vorstellungen und schufen ein viel breiteres Manövrierfeld bei der Durchsetzung der außenpolitischen Ziele. Die BRD wurde in die Lage versetzt, die eigenen Ansprüche "ungenierter", offener und direkter anzumelden und sie – ohne als Juniorpartner auftreten zu müssen – auch "nachhaltig" (sozusagen "unverzüglich") – durchzusetzen.

In der nach 1990 geschaffenen "neuen Weltordnung" hat sich Deutschland auf diese Weise zunehmend gleichrangig und gleichberechtigt positioniert.

Es hat weiter von seinem ökonomischen Gewicht profitiert (eine der fünf größten Wirtschaftsmächte der Welt, hohes Niveau der Produktivkräfte, einen bedeutenden Anteil an Weltindustrieproduktion, Welthandelsmacht, mächtiges Militärpotential). Es konnte und hat dieses Gewicht, sich von den eingrenzenden völkerrechtlichen und politischen Fesseln "befreiend", in die Waagschale der internationalen Politik gelegt. Seine Einflußmöglichkeiten sind aber nicht mehr weitgehend darauf beschränkt. Sein politisches Gewicht hat neue Dimensionen erreicht – und Deutschland nutzt es aktiv!

Es haben sich auch die Möglichkeiten für den aktiven Einsatz auch anderer Bereiche (Militär, Kultur, Medien, Stiftungen usw.) bei der internationalen Durchsetzung eigener Interessen erweitert. Der kombinierte Einsatz aller zur Verfügung stehenden Bereiche hat das Macht- und Einflußpotential der BRD potenziert und auf aufsteigendes Gleis gebracht.

Deutschlands Stärke

Schon 1991 wurde ein erster "Befreiungsschlag" für eine deutsche Außenpolitik, "die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht" (Klaus Kinkel) gesetzt. Die Regierung Kohl/Genscher erkannte im Dezember 1991, trotz internationalem Gegendruck, im Alleingang Slowenien und Kroatien als selbständige Staaten an.

Damit wurde die Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien aktiv betrieben und ihr ein vernichtender Stoß versetzt. Mit diesem Schritt wurden Verhandlungslösungen vereitelt, die die blutigen Kämpfe im auseinanderbrechenden Jugoslawien hätten verhindern können. Es wurde die Tür für nachfolgende Kriege Deutschlands, für die Wiedereinsetzung des jus ad bellum, der Alltäglichkeit des Krieges, geöffnet. Die Militarisierung der Außenpolitik der BRD wird zielstrebig betrieben.

In diese Situation ist Deutschland nicht zufällig geraten. Die BRD hat ihre Ansprüche zunehmend bewußt angemeldet und durchgesetzt. Dabei zeichnet sich eine Tendenz ab, in der eine Gleichsetzung von internationalem Gewicht und Einfluß der Bundesrepublik mit deutschen militärischen Fähigkeiten erfolgt. Horst Teltschik (CDU), Chef der Münchener Sicherheitskonferenz bis 2008 und aktiver Verbindungsmann zwischen Kapital und Politik, erklärte kurz vor seinem Rückzug von dieser Tätigkeit, daß deutsches diplomatisches Gewicht auf der internationalen Bühne nur über stärkere weltweite militärische Präsenz herstellbar sei. (www.securityconference.de)

Justierarbeiten am außenpolitischen Konzept

Auf dieser Grundlage verfolgt Deutschland nach 1990 eine Außenpolitik, deren Leitlinie vom damaligen Kanzler Helmut Kohl in seiner ersten Regierungserklärung als gesamtdeutscher Bundeskanzler wie folgt vorgegeben wurde: "Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten." [Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag im Januar 1991] Grundsätzlich ist aus dieser Einschätzung Helmut Kohls abzuleiten, daß die Mächtigen der BRD davon ausgingen und ausgehen, daß die Außenpolitik des Landes in eine Phase gekommen war, in der die offene Wiederaufnahme der imperialistischen Zielstellungen Deutschlands zur Normalität in den internationalen Beziehungen gemacht werden kann.

Das beruht auf dem Anwachsen des Drangs der Monopole, dieser tiefsten ökonomischen Grundlage des Imperialismus, wie es Lenin [Werke, Bd. 22, S. 280.] formulierte, nach ökonomischer und politischer Herrschaft.

Nach der Beseitigung der DDR und des Sozialismus kommt es sozusagen zu einer erneuten, freien Entfaltung der Bestrebungen, den Staat – ohne Rücksicht nehmen zu müssen – in neuer, umfassender Weise ihren Interessen nutzbar zu machen, die ökonomische Macht der Monopole mit den spezifischen Potenzen des Staates im Interesse monopolistischer Profite und der Sicherung der Machtpositionen zu vereinen.

Durch das Zusammengehen mit den anderen imperialistischen Staaten ist es dem deutschen Großkapital bis zu diesem Zeitpunkt gelungen, wesentliche Ergebnisse des zweiten Weltkrieges rückgängig zu machen. Die dabei gesammelten Erfahrungen und entstandenen Bindungen nutzend, ist das ganze System des deutschen Imperialismus jetzt nicht mehr vorwiegend auf eine deutsche Autarkie gerichtet. Es stützt sich auf ein auf lange Sicht angelegtes Netz von ökonomischen Verbindungen, das die deutschen Monopole für den schrittweisen Ausbau ihrer wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen ausnutzen wollen.

Der damalige deutsche Außenminister, Klaus Kinkel, formulierte dieses Verlangen des deutschen Kapitals wie folgt: "Zwei Aufgaben gilt es parallel zu meistern: im Inneren müssen wir wieder zu einem Volk werden, nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind. Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht. Die Rückkehr zur Normalität (Hervorhebungen: A.L.) im Inneren wie nach außen entspricht einem tiefen Wunsch unserer Bevölkerung seit Kriegsende. Sie ist auch notwendig, wenn wir in der Völkergemeinschaft respektiert bleiben wollen. … Unsere Bürger haben begriffen, daß die Zeit des Ausnahmezustandes vorbei ist." [FAZ vom 19. März 1993.]

Deutschland will also nach der "Zeit des Ausnahmezustandes" schon wieder aufholen, um das "zu vollbringen, woran (es) zweimal zuvor gescheitert" (Kinkel) ist. Das bedeutet, daß es seine "Weltmachtrolle" (Kohl) gegen andere Staaten oder sogar Großmächte durchsetzen muß!

Dies äußert sich bekanntlich nicht im Austausch von Freundlichkeiten am Verhandlungstisch. Es äußert sich im Kampf um die Beherrschung der Märkte, der Rohstoffquellen, ganzer Wirtschaftszweige, politischer Einflußsphären und auch Länder. Es ist ein Kampf von monopolistischen Rivalen zur Stärkung der eigenen und zur Schwächung der Positionen der anderen. "Damit das Monopol zum vollen Monopol wird, müssen die Konkurrenten nicht nur vom inneren Markt (vom Markt des betreffenden Staates), sondern auch vom äußeren Markt, müssen sie in der ganzen Welt verdrängt werden." [Lenin, Werke, Bd. 23, S. 35.]

Die historische Erfahrung besagt, daß die internationale Politik unter den Bedingungen der Herrschaft des Finanzkapitals "auf einen Kampf der Großmächte um die ökonomische und politische Aufteilung der Welt hinausläuft" [Lenin, Bd. 22, S. 267.]. Dies hat bisher unvermeidlich Zusammenstöße und Konflikte zwischen ihnen hervorgebracht und mündete stets in Kriege unterschiedlichen Ausmaßes bis zu Weltkriegen!

Rolle Deutschlands in Europa

Schon in den ersten Verteidigungspolitischen Richtlinien (1992) wurde erklärt, daß die "Rolle des vereinten Deutschlands in und für Europa einschließlich seiner strategischen Horizonte neu zu bestimmen" sei.

Wie dies außenpolitisch zu verstehen ist, sagte uns einer der damals führenden wissenschaftlichen Begleiter der Außenpolitik der BRD, Prof. Dr. Karl Kaiser: "Es ist das Schicksal der großen Mächte, zu denen Deutschland jetzt wieder gehört, nicht nur Nutznießer, sondern – anders als die kleinen Mächte – Gestalter und Träger der internationalen Politik zu sein. Deutschland ist in der Tat jetzt 'Zentralmacht Europas', die im Guten wie im Schlechten die Entwicklung ganz Europas beeinflussen kann, aber es ist zugleich mehr, einer der Hauptakteure des globalen Systems (Hervorhebung: A.L.), wenn auch äußerst zögerlich und nicht gewollt" [Karl Kaiser, Weltpolitik im neuen Jahrhundert, Bonn, 2000, S. 602.].

Hier haben wir einen ganzen Katalog von Begriffen, die das Selbstverständnis der BRD nach 1990 enthalten. Dazu gehört: "große Macht", "Gestalter und Träger der internationalen Politik", "Zentralmacht Europas", "Hauptakteur des globalen Systems" – wahrlich eine bescheidene Aufzählung!

Dabei wird vom deutschen Großkapital und seinen Regierungen bewußt auch in Rechnung gestellt, daß – wie es schon in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 heißt – "sich die deutschen Interessen nicht in jedem Einzelfall mit den Interessen der Verbündeten und anderer Partner decken".

Neuordnung Europas

Die "Neuordnung Europas" ist sowohl politisch-strategische Leitlinie des deutschen Imperialismus als auch ideologisch-propagandistische Grundaussage in Vorbereitung und Durchführung seiner Expansionspolitik seit der Gründung des deutschen Reiches.

Kaum war der Anschluß der DDR vollzogen, hat die vergrößerte Bundesrepublik die Tradition einer Neuordnung der Räume und damit der Kräfteverhältnisse in der Welt mit dem Blick auf "Zentralmacht Europas" und "Hauptakteur des globalen Systems" [Vgl. Karl Kaiser.] wiederbelebt.

Eine der wichtigsten Aufgaben sah und sieht Deutschland in der Gestaltung des östlichen Europa in seinem Sinne. Dazu gehörte die Förderung des Zerfalls der Sowjetunion, des Auseinanderbrechens der Sowjetunion, ihre Zerstörung als Weltmacht, um einen wichtigen Faktor zu beseitigen, der die Ziele des deutschen Kapitals durchkreuzen könnte.

Dazu gehörte die Politik der Restauration des Kapitalismus in den ehemals sozialistischen Staaten. Zu diesem Zweck erfolgten auch die Zerschlagung Jugoslawiens und die Unterstützung der Sezession in Slowenien und Kroatien durch die BRD.

Die skizzierte Expansionspolitik Deutschlands hat sich auch in einer Positionierung der Bundestagsfraktion der CDU/CSU vom September 1994 widergespiegelt, als festgestellt wurde, daß "der Osten als Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt" sei. Sollten die Partner der BRD den deutschen Vorstellungen nicht folgen, so könnte Berlin "aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen" (www.cducsu.de). Praktiziert wurde dies in der im Alleingang vorgenommenen diplomatischen Anerkennung der sich von Jugoslawien lösenden Staaten.

Aus der Sicht Deutschlands erfolgt die Neuordnung Europas vor allem auf drei Ebenen:

  1. Die Errichtung einer neuen territorialen Gestaltung Europas durch die Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Union;
  2. Die Gestaltung der geographischen Vorfelder der erweiterten EU durch die Bindung der Staaten im Osten Europas und auf dem Balkan an die EU und ihre Einbeziehung in die Realisierung der Politik der EU und ihrer Großmächte, einschließlich der Lösung besonders der osteuropäischen Staaten von Rußland;
  3. Die Ausgestaltung der Rolle der EU als eigenständiger Ordnungsfaktor in der Weltpolitik und ihre Entwicklung "in die Tiefe". Dies schließt allerdings auch die Austragung der Konkurrenz zwischen den Großmächten der EU um die Dominanz im künftigen Integrationsprozeß und im Wirken der EU nach außen ein.

Die Politik zur Realisierung dieser Vorstellungen ist voller Widersprüche. Die Ergebnisse dieser Politik sind zugleich Quelle neuer Widersprüche, die zu Folgen führen können, die nur schwer zu kontrollieren sind.

  • Rußland ist in die Realisierung dieser Vorstellungen nicht als gestaltender Partner einbezogen. Eine Stabilisierung der Lage in Europa ist aber durch die Versuche zur Isolierung Rußlands nicht zu erreichen.
  • Ein weiteres Grundanliegen der Neuordnung Europas besteht in der Schaffung eines Gegenentwurfs zu der von den USA proklamierten Weltordnung. Aber schon der Absicht der Bildung eines Gleichgewichts zu den USA liegt die Idee der Schaffung einer Gegenmacht zugrunde. Dabei geht es nicht darum, die USA militärisch herauszufordern oder gar zu bedrohen. Es geht aber um die Infragestellung der US-amerikanischen Definitionsmacht, um die Brechung des Orientierungsmonopols der USA. Es geht also nicht primär um die "Vertreibung" der USA vom europäischen Kontinent!

Die Politik zur Schaffung einer neuen europäischen Ordnung, zur Neuordnung Europas beinhaltet von vornherein das Element des konfrontativen Verhaltens zueinander!

Es geht Deutschland offensichtlich nicht primär um eine Ordnung, die Frieden durch gleichberechtigte und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit der Staaten gewährleistet. Es geht um die Weiterentwicklung eigener Machtmittel und nach den eigenen Interessen definierte Ordnung. Auf dieser Grundlage wird "eine sich selbst tragende europäische Friedensordnung" angestrebt, die "Deutschland in die Lage versetzen (soll), seine politische, wirtschaftliche, kulturelle Stärke in der Mitte Europas zu entfalten" [Egon Bahr, Deutsche Interessen, 1998, S. 28.]. Auf der Strecke bleibt das Konzept des europäischen Sicherheitssystems auf der Grundlage der Souveränität der Staaten, unter Einschluß Rußlands und der USA, bei Auflösung der Militärblöcke und Abrüstung.

 

Mehr von Anton Latzo in den »Mitteilungen«:

2010-08: Gedanken zum Einigungsvertrag und seinen Folgen. Wozu die Einheit mißbraucht wird

2010-06: Oder-Neiße-Grenze und deutsch-polnisches Verhältnis - Gedanken zu einem Jahrestag

2009-09: 60 Jahre Bundesrepublik - Zur Metamorphose ihrer Außenpolitik