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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der rote Himmelssohn

Moritz Hieronymi, Peking

 

Gedankenfragmente zum 130. Geburtstag von Mao Zedong

 

Hymne an die Winterpflaumenblüte

Wind und Regen begleiten den Frühling zum Abschied,

Fliegender Schnee heißt den Frühling wieder willkommen, Bereits türmt sich das Eis zu einhundert Zhang dicken Klippen auf,

Und doch ist da ein blühender Zweig, bezaubernd schön.

Bezaubernd schön, allein er konkurriert nicht mit dem Frühling,

Er kündigt nur sein Kommen an.

Und bleibt so lange, bis die Bergblumen voll erblüht sind,

In ihrer üppigen Mitte wird er lächeln.

Mao Zedong (1961)

Ein subjektiver Blick

Ohne Umschweife verwickelte mich ein junger Mann in einem Pekinger Universitätscafé in ein Gespräch. In China war vor Kurzem der Film über den Physiker Robert Oppenheimer angelaufen, der zu regen Diskussionen über die moralische, politische und historische Ein­schätzung der Atombombe führte. Trotz des 6 Wochen andauernden Massakers in der frü­heren Kaiserstadt Nanjing im Jahr 1937 durch die faschistische Armee Japans mit Gräuel­taten, die jedwede Vorstellungskraft übersteigen, sehen viele Chinesen das Bombarde­ment von Hiroshima und Nagasaki als unverhältnismäßig an. Mein Gesprächspartner – wie sich herausstellen sollte, ein 20-jähriger Mathematikstudent – wies mich auf die große Anzahl deutscher und deutschstämmiger Physiker hin, die zu der damaligen Zeit die Wissenschaft beeinflussten. Wie so häufig hatte ich einen Chinesen kennengelernt, dessen Sympathie für Deutschland groß ist. Er überraschte mich nicht nur mit Wissen über die deutsche Geschichte und Mathematik, sondern war genaustens informiert über die mathe­matische Spezialschule »Heinrich-Hertz« in Berlin-Friedrichshain.

China, das Land der Lernenden. Dass die Mehrheit seiner gleichaltrigen deutschen Kommi­litonen mit einem vergleichbaren Wissenseifer ihre Studien durchführen, lässt sich aus meinen Universitätserfahrungen in Deutschland und China zumindest anzweifeln. Mit gro­ßer Sicherheit wird jedoch kaum jemand der mathematik-affinen Langnasen von den Klas­sikern der chinesischen Mathematik Zhoubi Suanjing gehört haben, mit deren Hilfe wahr­scheinlich 200 Jahre vor Pythagoras von Samos die Hypotenuse errechnet werden konnte. Mein Gegenüber erzählte mir davon, ohne seinen Stolz über diese Errungenschaft des alten Chinas zu verbergen.

Ich dachte mir, es sei eine gute Gelegenheit diesen jungen Logiker und Bauernenkel, dem mit Ausnahme seiner Provinzhauptstadt Lincheng – zu Deutsch: Waldstadt – die Glitzerwel­ten der chinesischen Megalopolen fremd waren, über den Großen Steuermann, Mao Zedong [1], zu befragen. Ohne jedwede prätentiöse Bedächtigkeit, wie ich es häufig bei den Jungakademikern der Elite-Universitäten Pekings kennenlernen dufte, berichtete er von den Erfahrungen der Großeltern während der Landreform, welche bereits lange vor dem Jahr 1950, dem offiziellen Start der Tu Di Gai Ge, in den von der KP und der Volksbefreiungsarmee kontrollierten Gebieten durchgeführt wurde. Seinen Bericht schloss der im 21. Jahrhundert Geborene mit dem Resümee: Mao hat China aufgerichtet und – dessen De-facto-Nachfolger – Deng Xiaoping hat uns reich gemacht.

Ein verstocktes Verhältnis

Die Unkenntnis über China hat sich mit der miefigen Propaganda des bundesrepublikani­schen Mainstreams verwoben. So ist es nicht verwunderlich, dass der deutsche Vorzeige­sinologe, Prof. Dr. Kai Vogelsang, ein beflissener Mahner vor dem kommunistischen Regime, seine Expertise nicht durch Studien oder Lehraufenthalte in der Volksrepublik China, sondern in der abtrünnigen Provinz Taiwan erlangte. – Der letzten Bastion für Frei­heit und Demokratie vor der übergriffigen Volksrepublik, wie die nationalistische und soge­nannte Präsidentin Taiwans, Tsai Ing-Wen, unerlässlich beschwört.

Aber auch viele Linke sollten ihr Verhältnis zum Reich der Mitte kritisch reflektieren: So sind die Bilder eifernder Studenten in Westberlin, die die Mao-Konterfeie wie eine Mons­tranz vor sich trugen, nicht vergessen. Diese erzürnte Jugend in der anglo-amerikanischen Himmelsphäre, von denen nicht wenige später die beflissenen Herren von heute wurden, hatten doch unkritisch Maos Ausruf »Bombardiert das Hauptquartier«, gemeint war das Zentralkomitee der KP, zum Versatzstück einer egozentrischen Antiautoritarismus-Ideolo­gie gemacht. Im Osten Deutschlands fuhr man dagegen zweigleisig: Obwohl die DDR eine reichhaltige Übersetzung chinesischer Literatur und klassischer Philosophie aufzubieten hatte, wurde in der Öffentlichkeit ein chinakritisches Bild im Stile der Prawda-Propaganda ab Mitte der 1950er bis Ende der 80er Jahre kolportiert. Dieses sollte jedoch Ostberlin nicht davon abhalten, mit viel diplomatischem Geschick die Kanäle nach Peking aufrecht­zuerhalten.

Mit dem Tod des im Westen zum Götzen verklärten Mao Zedong und dem Machtantritt von Deng Xiaoping verloren die Linken in Europa das Interesse an dem chinesischen Weg: Bewerteten die Alt-68er diese Entwicklungen als Sieg des Revanchismus, sahen die ande­ren sich in ihrem Opportunismus-Vorwurf bestätigt und befürchteten die Zuwendung Pekings zum Kapitalismus unter der Ägide Washingtons. Zumindest konnte sich darauf geeinigt werden, dass von China nichts mehr zu erwarten sei.

Ob man sich im Osten und Westen Deutschlands überhaupt darüber im Klaren war, dass 19 Millionen Chinesen im 2. Weltkrieg ihr Leben ließen und durch ihren heldenhaften Kampf verhinderten, dass die Armeen des faschistischen Japans nicht den Amur über­schritten; dass diese Information, von Dr. Richard Sorge an Moskau weitergeleitet, zur Ver­legung der Fernostverbände der Roten Armee Richtung Stalingrad führte?

Das kaiserliche Fatum – der Erbe des Qin Shihuangdi

Noch während der Kulturrevolution verbreitete sich das Gerücht, dass Bauern in der Nähe der antiken Hauptstadt Xi’an die Nekropole des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihu­angdi gefunden haben. Der Archäologe Zhao Kangmin hatte versucht, den Fund, welcher im Westen als Terrakotta-Armee bekannt ist, geheim zu halten. Zu diesem Zeitpunkt hatten die marodierenden Rotgardisten unter der Führung von Jiang Qing, der nominellen Ehefrau Maos, und einer Fraktion im Politbüro und ZK, die später als Viererbande wegen schlimmster Staatsverbrechen zum Tode verurteilt werden sollten, sich frevelhafter Zerstörungen von Kulturstätten schuldig gemacht. Ob die Order vom todkranken Mao persönlich kam, ist unbekannt: Dennoch wurde unter Einsatz der Volksbefreiungsarmee das Areal gesichert und mit den Ausgrabungen begonnen.

Dieses Ereignis hatte neben der archäologischen Bedeutung eine wesentlich politische, der hierzulande nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Name Mao Zedong wird in China häufig mit dem des ersten Kaisers in Verbindung gebracht. Qin Shihuangdi hatte in der Zeit der streitenden Reiche durch eine kluge Expansionspolitik die 7 chinesischen Königreiche vereint und unter das Haus der Qin gestellt. Seine Regierungszeit (247 v.u.Z. bis 210 v.u.Z) war geprägt von tiefgreifenden Reformen, die bis zum heutigen Tag auf das Schicksal Chinas einwirken.

Mithilfe des Philosophen der Legalisten, Han Feizi, begründete er ein ideologisches Kon­zept, worauf das vereinte China fußen soll. Feizis politische Philosophie bestand in der Schaffung eines Einheitsstaats, der durch eine meritokratische Regierungsform – die Herr­schaft der Fähigsten –, eine ausgeprägte Standardisierung von Rechts-, Belohnungs- und Bildungssystem sowie die absolute Zentralisierung von politischer Macht auf den Kaiser charakterisiert war. Ein populäres Beispiel für diese klugen Reformen war der Erlass über den Achsenabstand von Fuhrwerken, welche wiederum zum standardisierten Straßenbau und zur Befestigung des chinesischen Teils der Seidenstraße führte. Ferner wurde die Schriftsprache vereinheitlicht, wodurch alle Chinesen, die sich aufgrund vieler Dialekte nicht verstehen können, ein gemeinsames Sprachmedium erhielten. Die Wirtschaftspolitik war von proto-sozialistischen Ansätzen geprägt, die sich in der öffentlichen Organisation von Produktionsmitteln und Ackerland widerspiegelten.

Mao Zedongs erste Regierungsjahre waren ebenfalls von weitreichendem ökonomischem, sozialem und politischem Fortschritt geprägt. China im Jahr 1949 war durch Bürgerkrieg und den 2. Weltkrieg zerstört; es mangelte an staatlichen und industriellen Strukturen. Mit Unterstützung der Sowjetunion wurde eine weitreichende Industrialisierung und Konsoli­dierung des Staates durchgeführt. Die Politik der »Zwei Bomben, ein Satellit« und Projekt 523 belebte die Wissenschaft und Technologie. Ferner hatte Mao – gleich dem ersten Kaiser – eine große Sprachreform vorgenommen, die zur Vereinfachung der Schriftzeichen führte. Jedoch wie so oft wandelte sich die Arete in ihr Gegenteil:

Zum Ende der Regentschaft des ersten Qin-Kaisers unternahm dieser eine Politik zur Voll­endung der inneren Einheit. Obwohl sich die chinesische Identität auf einen gemeinsamen Abstammungsmythos begründet, hatten sich über die Jahrhunderte teils befehdende triba­le Strukturen herausgebildet. Der Logik der Zeit entsprechend sollten diese Widersprüche durch die Säuberung des Denkens überwunden werden. »Verbrennt die Bücher, verbrennt die konfuzianischen Lehrer« wurde zur Losung, wodurch die sogenannten 100 Denkschulen der antiken chinesischen Philosophie und deren Werke vollends vernichtet und mithin der Nachwelt unzugänglich gemacht wurden.

Dass später Mao Zedong forderte, diesen letzten Abschnitt des ersten Kaisers neu zu bewerten, zeugt von einer Selbstoffenbarung, die sich wie ein roter Faden durch dessen Politik zieht und in der »Großen Proletarischen Kulturrevolution« mündete. Jedoch hatte Mao unter der Losung »Kritisiere Lin Biao, kritisiere Konfuzius« nicht nur eine brutale Kam­pagne gegen innerparteiische Kritiker und gegen die teils lähmenden Überbleibsel der Mandarin-Mentalität eingeleitet, sondern auch das legalistische System wiedereingeführt. Die westliche Interpretation vernachlässigt in ihrer Darstellung der chinesischen Geschich­te konsequent das Spannungsverhältnis zwischen Konfuzianismus und Legalismus. Obwohl Meister Kong (Konfuzius) eine streng hierarchische Gesellschaft, die auf die Einhaltung der Traditionen, Sitten und Riten besteht, in der aber Bereicherung und Willkür ausgeschlossen sind, forderte, führte die Praxis von streng konfuzianisch verfassten Dynastien zu extre­men Ausformungen des Feudalismus und der innerstaatlichen Sklaverei. Demgegenüber stellt der Legalismus auf die ergebnisorientierte Funktionstüchtigkeit der staatlichen Ord­nung ab, in der der gute Herrscher ein »einfacher Mensch« ist, der methodisch, unpartei­isch und nach »dem großen Weg« regiert. Im legalistischen Denken finden sich egalitäre Ansätze wieder, wobei überraschende Parallelen zu der zeitgleich von Platon entwickelten »zweitbesten Staatsform« – im Nomoi beschrieben – bestehen.

Was soll man da sagen?

In den 130 Jahren seit der Geburt von Mao Zedong hat China eine Entwicklung zurückge­legt, die einmalig in der Menschheitsgeschichte ist. Trotz der wechselvollen Mao-Ära sollte man im Westen nicht dem Irrglauben anhängen, dass die so beliebte Vereinfachung vom Triumvirat des Bösen, Hitler-Stalin-Mao, in China auf großen Widerhall stößt. Diese Kultur, die in weitläufigen historischen Dimensionen denkt und mit der Geschichte identitätsstif­tend verbandelt ist, hat die Demütigungen der westlichen Kolonisatoren infolge der Opium­kriege sowie deren spätere Ignoranz für die genozidalen Verbrechen der japanischen Inva­soren noch nicht vergessen. Hinzu kommen die Jahrhunderte des siechenden Niedergan­ges während der mandschurischen Fremdherrschaft der Qing (1632-1912).

Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches zerfiel die staatliche Ordnung und mündete schließlich in einen 18 Jahre andauernden Bürgerkrieg. Erst mit dem Ausruf der Volksrepu­blik am 1. Oktober 1949 wurde China in die Situation versetzt, dass die Harmonie unter dem Himmel durch die Schaffung der nationalen Einheit wiederhergestellt wurde. Die Europäer tun gut daran, zu akzeptieren, dass die chinesische Geschichte auf die Herstel­lung und den Erhalt der Einheit ausgerichtet ist und dessen politische Führer daran gemes­sen werden. So heißt es zu Beginn des im 16. Jahrhundert verfassten Romans »Die Geschichte der Drei Reiche«: China soll vereint, vereint, vereint sein.

Die Bilanz der Leistungen von Mao Zedong bleibt den Chinesen überlassen. Dennoch soll dieser Beitrag mit einer bemerkenswert offenen und für die chinesische Politik untypischen Einordnung des Großen Vorsitzenden durch das ehemalige Politbüromitglied Chen Yun schließen. Chen Yun, der in Deutschland zu Unrecht unbekannt gebliebene Mitstreiter von Deng Xiaoping, ökonomische Vordenker der Öffnungspolitik und spätere Mahner vor der Verwestlichung Chinas, subsumierte das Erbe des roten Himmelssohns folgendermaßen:

Wäre Mao 1956 gestorben, wären seine Leistungen unsterblich gewesen. Wäre er 1966 gestorben, wäre er immer noch ein großer, aber unvollkommener Mann gewesen. Aber er starb 1976. Leider, was soll man da sagen?


Anmerkung:

[1]  26. Dezember 1893 bis 9. September 1976.

 

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