Der Nürnberger Prozess war ein Meilenstein
Ralph Dobrawa, Gotha
Vor 75 Jahren wurde das Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher verkündet
Nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus war es ein Gebot des Humanismus und der Gerechtigkeit gegenüber den Millionen Opfern, welche in der Zeit von 1933-1945 getötet wurden, die hierfür Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und die von ihnen begangenen Verbrechen aufzuklären. Das betraf nicht nur die Untaten in dem barbarischen Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Gräueltaten an Kriegsgefangenen und Zivilisten, die Ermordung Hunderttausender in den faschistischen Konzentrationslagern und den industriell betriebenen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas. Darüber waren sich die Alliierten einig. Zu diesem Zweck wurde der Internationale Militärgerichtshof von Nürnberg ins Leben gerufen, dessen Statut vom 8. August 1945 vorsah, dass insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen den Frieden und Kriegsverbrechen geahndet werden sollten.
Die Angeklagten
Der angestrebte Prozess konnte sich zunächst nur auf die Hauptverantwortlichen konzentrieren, die in der Anklageschrift vom 6. Oktober 1945 festgeschrieben wurden. Das waren Hermann Göring, Rudolf Heß, Alfred Jodl, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Hans Frank, Wilhelm Frick, Hans Fritzsche, Walther Funk, Karl Dönitz, Robert Ley, Konstantin von Neurath, Erich Raeder, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel, Hjalmar Schacht, Baldur von Schirach, Arthur Seyß-Inquart, Albert Speer und Julius Streicher. Weitere Angeklagte waren Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Franz von Papen und Martin Bormann. Von letzterem wurde erst später bekannt, dass er zu diesem Zeitpunkt schon tot war. Man hatte ihn in Abwesenheit angeklagt.
Gegen diese 24 Angeklagte wurde der Prozess in Nürnberg, der Stadt, die in besonderer Weise auch ein Symbol für den Ausgangspunkt faschistischen Unrechts ist, am 20. November 1945 eröffnet. Er dauerte bis zur Urteilsverkündung am 30. September und 1. Oktober 1946.
Gegenstand der Anklage waren neben der Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden die Teilnahme an der Planung, Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen, die Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Niemand der Angeklagten befand sich für schuldig, als diese einzelnen zu Beginn des Prozesses dazu befragt wurden. Dabei bestritten sie vielfach nicht die fürchterlichen Verbrechen, beriefen sich aber auf den Befehlsnotstand, den sie offenbar für einen Rechtfertigungsgrund hielten. Dies war zusätzlich dadurch makaber, dass außer Hitler, Himmler und Goebbels es sich bei den Angeklagten bereits um die höchsten Repräsentanten des faschistischen Staates handelte. Während des Verfahrensverlaufs wurden zahlreiche Zeugen gehört, darunter auch der frühere Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß, der die Ermordung von weit mehr als 2 Millionen jüdischer Menschen durch den Einsatz von Giftgas ebenso einräumte, wie den Tod weiterer Hunderttausender durch Krankheit, Unterernährung, Erschießung und Folter.
Die Urteile
Von den 24 Angeklagten wurde die Hälfte zum Tode verurteilt, das waren Göring, Jodl, Kaltenbrunner, Keitel, Frick, Frank, Ribbentrop, Rosenberg, Sauckel, Seyß-Inquart und Streicher. Auch Bormann, gegen den in Abwesenheit verhandelt wurde, erging ein Todesurteil. Lebenslange Haft erhielten Funk, Heß und Raeder. Zu zehn Jahren Haft wurde Dönitz, zu 15 Jahren Neurath und zu jeweils 20 Jahren Haft Schirach und Speer verurteilt. Fritzsche, Papen und Schacht wurden freigesprochen. Gegen Krupp von Bohlen und Halbach wurde das Verfahren aus gesundheitlichen Gründen eingestellt, Ley beging bereits vor dem ersten Prozesstag am 25. Oktober 1945 Selbstmord.
Gegen das Urteil des Internationalen Gerichtshofs war ein Rechtsmittel nicht möglich. Bereits am 16. Oktober 1946 wurden zehn Todesurteile vollstreckt. Göring hatte sich kurze Zeit vorher ebenfalls durch Suizid seiner Verantwortung entzogen. Gegen den abwesenden Bormann war eine Vollstreckung des Urteils nicht möglich. Nach der Einäscherung der Leichname wurde die verbliebene Asche in einen Seitenarm der Isar geschüttet, auch um jegliches Andenken auszulöschen und die Entstehung von Pilgerstätten für noch immer geistig dem Faschismus Verfallene nicht entstehen zu lassen. Die vier zu zeitlichen Haftstrafen verurteilten kamen 1947 in die Spandauer Zitadelle, welche fortan als Kriegsverbrechergefängnis diente und von den Alliierten bewacht und betrieben wurde. Dönitz verbrachte dort bis zu seiner Entlassung 1946, Neurath musste bereits vorzeitig 1954 aus gesundheitlichen Gründen entlassen werden. Von Schirach und Speer verbüßen die volle Haftzeit, bis sie 1966 entlassen wurden.
Albert Speer: »Hätte Hitler einen Freund gehabt, wäre ich es gewesen!«
Besonders die Entlassung von Speer, die unter Blitzlichtgewitter und in Anwesenheit von Fernsehkameras vollzogen wurde, verschaffte dem einstigen Rüstungsminister Hitlers eine merkwürdige Popularität und Aufmerksamkeit, die ihm in keinem Fall Zustand. Scheinbar war auch das für ihn späterhin Veranlassung, durch die Veröffentlichung mehrerer Bücher, darunter der »Spandauer Tagebücher«, diese fatale Entwicklung zu forcieren und daraus letztlich noch beträchtliches Kapital zu schlagen. Vor allem nutzte er diese Gelegenheit, um seine Rolle während der Nazizeit herunterzuspielen, zu beschönigen und zu verfälschen. Er scheut sich auch nicht davor, zu behaupten: »Hätte Hitler einen Freund gehabt, wäre ich es gewesen!« Heute sind sich seriöse Historiker seit langem darüber einig, dass ihn die Alliierten ebenfalls zum Tode verurteilt und gehängt hätten, wenn das gesamte Ausmaß seiner Beteiligung an der Machterhaltung des faschistischen Staates, der Vernichtung von KZ-Insassen und dem industriell betriebenen Massenmord bereits zum Zeitpunkt des Nürnberger Prozesses bekannt gewesen wäre. Da dies nicht der Fall war, konnte er sich nach seiner Haftentlassung noch gut 15 Jahre seines Lebens erfreuen und nutzte diese gehörig für persönliche Annehmlichkeiten, bis er 1981 verstarb. Es wurde erst sehr viel später bekannt, dass Speer von den Nazis geraubte jüdische Gemälde, die ihm während seiner Machtausübung zugeschanzt worden waren, unter anderem Namen bei Auktionen in der Bundesrepublik versteigern ließ und von dem beachtlichen Erlös neben den Einnahmen aus den Buchverkäufen sich ein materiell sorgenfreies Leben bescheren konnte.
Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul als Vertreter der Nebenklage
Einmal während seiner Zeit in Freiheit hätte ihm noch Unheil geschehen können, als in den Jahren von 1967-1970 vor dem Landgericht Essen der Dora-Prozess stattfand. Hier waren drei ehemalige SS-Angehörige, die in dem früheren Konzentrationslager Dora bei Nordhausen in verantwortlichen Positionen tätig waren, angeklagt. Der Vertreter der Nebenklage, Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul hatte neben Wernher von Braun auch Albert Speer als Zeugen benannt. Letzterer musste sich im Jahre 1968 im Gericht einer längeren und zum Teil unangenehmen Befragung durch ihn unterziehen. Trotzdem gelang es ihm, eine eigene weitere Belastung zu vermeiden, sodass ihm auch dieser durch die Medien begleitete Auftritt keinen Schaden mehr zufügte. Eine solche Entwicklung war vor allem auch deshalb nur möglich, weil sie sich in einem Lande vollzog, wo über Jahrzehnte hinweg die Verfolgung nazistischer Systemverbrecher nur halbherzig betrieben wurde und ein echtes Interesse an der strafrechtlichen Aufarbeitung faschistischer Mord- und Gewalttaten weitgehend nicht bestand.
Das Urteil gegen die faschistischen Hauptkriegsverbrecher hat auch deshalb Bedeutung, weil »zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit völkerrechtliche Verbotsnormen, deren Existenz in allen zivilisierten Staaten seit langem unumstritten war, zur Grundlage eines bestimmten Strafverfahrens gemacht« wurden. »Damit war eine allgemeinverbindliche Grundsatzentscheidung geschaffen, die festgelegt hat, dass bestimmte Verhaltensweisen, wenn sie das Zusammenleben der Völker gefährden - wie die Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit - nicht nach nationalen Strafrechtsnormen des einzelnen Staates zu bestrafen sind, sondern nach den Grundsätzen des Völkerstrafrechts. Seit dem Urteil von Nürnberg darf die Abstrafung dieser Delikte nicht eine innere Angelegenheit des einzelnen Staates sein, und sie ist dementsprechend nicht in sein Belieben gestellt. Vielmehr stellt die Abstrafung dieser Verbrechen eine völkerrechtliche Verpflichtung dar, die der Gemeinschaft der Völker gegenüber zu erfüllen ist und von der sich dementsprechend kein Staat eigenmächtig lossagen darf.«[1]
Dabei kommt es vor allem auch darauf an, dass der Unterschied zwischen konventioneller Kriminalität und solcher, die staatlich angeordnet, forciert und unterstützt wurde, deutlich gemacht wird. Grundlage ist nicht nur das Potsdamer Abkommen, sondern auch die Resolution Nummer 95, die die UN-Vollversammlung am 11. Dezember 1946 verabschiedete, wonach die Grundsätze des Nürnberger Gerichtshofs, zusätzlich Bestätigung fanden.
Lehren aus dem 1. Weltkrieg
Blickt man auf die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher nach dem Ersten Weltkrieg zurück, so zeigt sich, wie notwendig der Einsatz eines alliierten Gerichts nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus war. Der Friedensvertrag, der im späteren Sprachgebrauch oft »Versailler Vertrag« genannt wurde, sah in seinem siebenten Teil, den Artikeln 227 ff., auch Strafbestimmungen vor, unter anderem die Anklageerhebung gegen Wilhelm II. und die Bildung eines entsprechenden besonderen Gerichtshofs. Auch die Verfolgung weiterer Personen, die »gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges« verstoßen haben, durch Militärgerichte war enthalten. Dieser Passus sorgte bei der deutschen Regierung und dem Parlament für mehr Unruhe als die übrigen Vertragsregelungen. Der Friedensvertrag musste aber zähneknirschend am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles unterzeichnet werden.
Trotzdem versuchte Deutschland in der Folgezeit die Alliierten dazu zu bewegen, dass keine Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher erfolgt. Man bot dazu alternativ an, diese vor eigenen Gerichten bestrafen zu wollen. Rund 900 Namen befanden sich auf der Liste der Alliierten, darunter die von Hindenburg und Ludendorff. Am 17. Februar 1920 lenkten die Alliierten überraschend ein im Vertrauen darauf, dass die Verantwortlichen vor das Reichsgericht in Leipzig gestellt werden würden. Jedoch regte sich auch dagegen in Deutschland heftiger Widerstand. Der für die Anklage zuständige Oberreichsanwalt betrachtete sich als »Büttel der Entente«. Nur sehr zögerlich begann das Reichsgericht mit Verhandlungen und verurteilte zunächst drei Soldaten zu mehrjährigen Zuchthausstrafen. »Von den 907 Verfahren gegen jene Beschuldigten, die von den Alliierten angegeben waren, wurden nur neun durch Urteil abgeschlossen, während die anderen durch Einstellung oder in ähnlicher Weise erledigt wurden.«[2] Fazit: »… von allen Kriegsverbrechern wurden nur vier bestraft«.[3]
Anmerkungen:
[1] F. K. Kaul, »Nürnberg schuf Völkerrecht« in: »Die Weltbühne« Nr. 38 / 1971, S. 1198.
[2] F. K. Kaul, »Die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher nach dem ersten Weltkrieg« in: »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« Nr. 1 / 1966, S. 32.
[3] Ebenda.
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