Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg – ein Gericht der Völker

Dr. phil. Wolfgang Biedermann, Berlin

 

Am 1. Oktober 1946 verkündete das International Military Tribunal (IMT) die Urteile gegen die Hauptkriegsverbrecher. Von den 22 Angeklagten erhielten 12 die Todesstrafe, vollstreckt durch den Strang am 16. Oktober gleichen Jahres. Mit dem IMT war ein Präzedenzfall für die Weltöffentlichkeit geschaffen worden, der die faschistische Aggression als schwerstes Völkerrechtsverbrechen verurteilte. Die Anklage lautete: 1. Verschwörung gegen den Frieden, 2. Verbrechen gegen den Frieden, 3. Kriegsverbrechen und 4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Während der 218 Gerichtssitzungen entstanden über 16.000 Seiten Protokoll. Die Anklage stützte sich auf 2.630 Beweisstücke, die Verteidigung hatte 2.700 Dokumente aufgeboten, 240 Zeugen wurden gehört und 300.000 eidesstattliche Erklärungen waren bearbeitet worden. Mit der Erinnerung an dieses große Ereignis des Völkerrechts vor nunmehr 70 Jahren, soll zugleich die Entstehungsgeschichte des Gerichtshofes skizziert werden.

Der Ort war nicht zufällig auserkoren: hier inszenierten die Nazis, an eine alte Tradition anknüpfend, ihre scheppernden Reichsparteitage einschließlich ihrer pompösen Aufmärsche ungezählter SS- und SA-Kolonnen, … Hier residierte Streicher, der das antijüdische Hetzblatt »Der Stürmer« herausgab. Hier wurden die berüchtigten »Rassengesetze« erlassen. Hier wurde der Anspruch auf Ewigkeit eines zum Herrschen berufenen »arischen« Volkes zelebriert. Eine Ewigkeit, die allerdings nur 12 Jahre dauerte und dennoch mit mannigfachen und unikalen Verbrechen im Sinne der Anklage verbunden war.

Der amerikanische Hauptankläger in Nürnberg, R. Jackson, äußerte am zweiten Verhandlungstag mit dem Blick auf zu Bewältigendes und als Mahnung: »Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben. […] Mit dieser gerichtlichen Untersuchung wollen vielmehr vier der mächtigen Nationen, unterstützt von weiteren siebzehn Nationen, praktisch das Völkerrecht nutzbar machen, der größten Drohung unserer Zeit entgegenzutreten: dem Angriffskrieg. Die Vernunft der Menschheit verlangt, daß das Gesetz sich nicht genug sein läßt, geringfügige Verbrechen zu bestrafen, die sich kleine Leute zuschulden kommen lassen. Das Gesetz muß auch die Männer erreichen, die eine große Macht an sich reißen und sich ihrer mit Vorsatz und in gemeinsamem Ratschlag bedienen, um ein Unheil hervorzurufen, das kein Heim in der Welt unberührt läßt.« [1]

Auf der unbequemen, harten Anklagebank saßen daher neben altgedienten Militärs wie Jodl und Keitel vor allem Gestalten aus ehemals hohen Regierungsämtern, die sich staatsmännisch gebärdeten, wie Reichsmarschall Göring, Reichsaußenminister Ribbentrop, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Sauckel … . Dass jene »aufsteigen«, macht- und unheilvoll agieren konnten, verdankten sie ebenfalls der Förderung durch Rüstungsindustrielle [2] und Bankiers. So waren ferner »honorige« Leute wie Krupp von Bohlen und Halbach oder der »Finanzjongleur« Schacht angeklagt.

Auf dem Weg nach Nürnberg

Ungeheure Massaker an der Zivilbevölkerung waren bereits inhärenter Bestandteil des Ersten Weltkrieges: der Völkermord der Türken an den Armeniern, die Raserei der kaiserlich-wilhelminischen Soldateska in Belgien ... Diese Schandtaten und das Anzetteln eines Angriffskrieges blieben jedoch noch ungesühnt.

Als das faschistische Deutschland sich anschickte, die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu revidieren, waren von vornherein der Bruch des Völkerrechts, eine äußerst brutale Kriegsführung und eine extrem hemmungslose Ausraubung, speziell der besetzten osteuropäischen Gebiete, untrennbare Komponenten der Kriegsplanung und -führung: Generalplan Ost, Kommissarbefehl, Einsatzgruppen … Die unzähligen Grausamkeiten gegenüber der Zivilbevölkerung und den Kriegsgefangenen bildeten das objektive Fundament zur Initiierung eines internationalen Strafgerichts. Naturgemäß ging eine solche Absicht von den ersten Opfern der faschistischen Okkupationspolitik aus. Anfängliche Aktivitäten verbinden sich mit den Namen W. Sikorski (Ministerpräsident der polnischen Exilregierung) und E. Beneš (tschechoslowakischer Ex-Staatspräsident). [3]

Der faschistische Furor eskalierte mit dem Überfall auf die UdSSR. [4] »Gegen die Sowjetmenschen und die sowjetischen Gefangenen kannte die teutonische Wut keine Grenzen …« [5], resümierte der amerikanische Hauptankläger.

Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR informierte im Januar 1942 erstmals die Weltöffentlichkeit über die begangenen Gräueltaten der faschistischen Eindringlinge. Weitere diplomatische Noten zum Besatzungsregime voller Gewalt und Willkür folgten. Erwähnt sei die Note mit dem Titel: »Errichtung eines Regimes der Sklaverei und Leibeigenschaft in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und die Verschleppung der Zivilbevölkerung als ‚Kriegsgefangene.‘« (27. April 1942). Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einem Internationalen Tribunal war die »Interalliierte Erklärung zur Vernichtung der Juden« (Dezember 1942). Die internationale Völkergemeinschaft werde dieses Verbrechen nach der militärischen Niederlage Deutschlands ahnden.

In der UdSSR begann im Frühjahr 1943 die aktive strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen, deren Höchstmaß die Todesstrafe durch den Strang vorsah. [6] Ein Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR lautete: »Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter, die der Ermordung und Mißhandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten schuldig sind, sowie der Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern und deren Helfershelfern.« [7]

Als nach der Kursker Schlacht (Juli 1943) definitiv die militärische Niederlage des Naziregimes und seiner Vasallen abzusehen war, vereinbarten die Außenminister der USA (C. Hull), Großbritanniens (R. A. Eden) und der Sowjetunion (W. M. Molotow) auf der Moskauer Konferenz (Oktober/November 1943) die Verantwortlichen der begangenen Verbrechen juristisch zu belangen. Die »Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten« wurde am Abschluss der Tagung publiziert. Wegweisend war, dass diejenigen »an die Stätten ihrer Verbrechen zurückgeschickt und an Ort und Stelle von den Völkern abgeurteilt werden, denen sie Gewalt angetan haben.« [8]

Die UdSSR verfolgte darüber hinaus beharrlich das Ziel, dass sich sowohl die Verantwortlichen als auch deren Hintermänner (Förderer) vor einem internationalen Gerichtshof verantworten müssen. Hingegen  zogen die USA und Großbritannien für längere Zeit keine derartige Option in Betracht. Vor allem die englische Seite insistierte allenfalls auf eine schnelle Hinrichtung der Hauptschuldigen. Schlussendlich musste W. Churchill an Th. Roosevelt über die unnachgiebige Haltung J. W. Stalins berichten (Oktober 1944): »Hauptkriegsverbrecher: U[ncle]. J[oe]. nahm einen unerwartet überkorrekten Standpunkt ein. Es dürfe keine Hinrichtungen ohne Prozess geben, weil die Welt sonst sagen würde, wir hätten Angst, sie zu verurteilen. [...] wenn es keine Prozesse gäbe, dürfe es auch keine Todesurteile geben, sondern nur lebenslängliche Haftstrafen. Angesichts dieser Einstellung […] möchte ich nicht länger auf dem Memo[randum] bestehen, das ich Ihnen gab […]. Betrachten Sie es freundlicherweise als zurückgezogen.« [9] Am 3. Mai 1945 (!) lenkte London ein und begrub den Plan der Hinrichtungen im Schnellverfahren. [10]

Die Dreimächtekonferenz in Potsdam (Juli/August 1945) beschloss »eine Vereinbarung über die Methoden des Verfahrens gegen alle Hauptkriegsverbrecher zu erzielen, deren Verbrechen nach der Moskauer Erklärung vom Oktober 1943 räumlich nicht besonders begrenzt sind. Die drei Regierungen bekräftigen ihre Absicht, diese Verbrecher einer schnellen und sicheren Gerichtsbarkeit zuzuführen.« [11] »Räumlich nicht begrenzt« zielte auf Macher, die an den jeweiligen Schaltstellen (Reichskanzlei, OKW, OKH, Ministerien …), also weit entfernt vom Ort des eigentlichen Geschehens, hantierten.

In diesem Kontext besiegelte das Londoner Viermächteabkommen (8. August 1945) die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse »im Interesse aller Vereinten Nationen«. Der Artikel 1 fixierte: »[…] für Deutschland soll ein Internationaler Militärgerichtshof gebildet werden zur Aburteilung der Kriegsverbrecher, für deren Verbrechen ein geographisch bestimmbarer Tatort nicht vorhanden ist, gleichgültig, ob sie angeklagt sind als Einzelperson oder in ihrer Eigenschaft als Mitglieder von Organisationen oder Gruppen oder in beiden Eigenschaften.«

Zum ersten Male in der Geschichte(!) wurden die Aggression und der Völkermord als verbrecherisch eingestuft und gerichtet. Das Nürnberger Tribunal gab der Weltöffentlichkeit die Handhabe, das wahre Gesicht des deutschen Faschismus zu erkennen. Für die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit klassifizierten Taten kann es keine Gültigkeitsfrist, keine Relativierung und kein Weißwaschen geben. Das betrifft auch die in Nürnberg als verbrecherische Organisation typisierte SS und deren Angehörige sowie Gestapo, SD und weitere Nazi-Organisationen.

Die Ermittlung von Verbrechen gegen den Frieden war die Quintessenz des Prozesses. Das Erbe von Nürnberg resümierend: kein Staat hat das Recht einen anderen anzugreifen!

 

Anmerkungen:

[1]  www.zeno.org/Geschichte/M/Der+Nürnberger+Prozeß/

Hauptverhandlungen/Zweiter+Tag.+Mittwoch,+21.+November+1945/Vormittagssitzung

[2]  Unter alleiniger Ägide der USA-Justiz kam es später zu Prozessen gegen die Leitungsebene der Konzerne Krupp, Flick und IG Farben, die straflos endeten.

[3]  Kuretsidis-Haider, C., Die von der Moskauer Konferenz am 1. November 1943 verabschiedete »Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten«. Genese, Kontext, Auswirkungen und Stellenwert. www.klahrgesellschaft.at/Referate/Kuretsidis_2003.html

[4]  Siehe auch Wannseekonferenz.

[5]  www.zeno.org/Geschichte/M/Der+Nürnberger+Prozeß/

Hauptverhandlungen/Einhundertsiebenundachtzigster+Tag.+Freitag,+26.+Juli+1946/Vormittagssitzung

[6]  Zur strafrechtlichen Verfolgung von Nazikriegsverbrechern, S. 494. www.dokst.de/main/sites/default/files/dateien/texte/Morin_de.pdf

[7]  Ebenda, S. 492.

[8]  Kuretsidis-Haider, C., a.a.O.

[9]  Zitat in: Telford, T., Die Nürnberger Prozesse, München 1994, S. 48.

[10]  Ebenda, S. 49.

[11]  Artikel VII. Kriegsverbrecher.

www.potsdamer-konferenz.de/dokumente/potsdamer_protokoll.php#VII.

 

Mehr von Wolfgang Biedermann in den »Mitteilungen«: 

2015-03: Immanuel Kants Idee »Zum ewigen Frieden«

2014-07: Die Befreiung des Konzentrationslagers Majdanek

2014-01: »Die Waffen nieder«