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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das Orakel vom Bodensee

Günter Herlt, Berlin

 

70 Jahre Allensbacher Umfragen als Navigator

 

Am 8. Mai 1947 gründete Frau Elisabeth Noelle-Neumann mit ihrem Mann das Institut für Demoskopie in Allensbach, das erste deutsche Meinungsforschungsinstitut – wie die Zeitung »Die Welt« 1996 meldete.

Zur Sagenwelt der alten Griechen gehört das »Orakel von Delphi«. Die antike Stadt hatte einen Hügel, auf dem ein Drache gehaust haben soll. Der wurde besiegt. Zum Dank ist lange vor Beginn der Zeitrechnung ein Tempel errichtet worden. Und den hat die Priesterin Pythia durch ihre Prophezeiungen sehr berühmt gemacht.

Das weckte wohl nach dem II. Weltkrieg den Berufswunsch von Elisabeth Noelle-Neumann (1916-2010). Und als ihr dann Politiker wie CDU-Chef Adenauer sagten: »So´n Blick inne Zukunft könne ma jut jebrauchen!«, da fand sich am Bodensee eine Mannschaft, auf deren Visitenkarte heute stehen könnte:

Unser Institut hat etwa hundert Mitarbeiter, darunter zwei Dutzend Wissenschaftler. Hinzu kommen über 1.600 ehrenamtliche Befrager in allen Bundesländern. Wir liefern Marktanalysen, Sozialstudien, Pressekritik und Wahlforschung. Zugpferd wurde unsere »Sonntagsfrage« nach den Wahlchancen der Parteien und Politiker. Je nach Auftrag erfassen wir von 1.600 bis 25.000 Bürger telefonisch, brieflich, per Internet oder im persönlichen Gespräch. Auftraggeber sind Ministerien, Banken, Unternehmen, Medien, Parteien, alles, was in der Bundesrepublik Rang und Namen hat. Die Auslöser sind meist konservativ.

»Wes Brot ich ess …«

Andere Meinungsforscher bedienen andere Führungszentren. So gibt es Analysen vom Emnid-Institut, Infratest Dimap, Forsa und weiteren. Manche gelten als mehr linksliberal. Wirklich neutral ist keines dieser Institute, weil alle Auftraggeber politische, ökonomische oder soziale Interessen vertreten. Dafür zahlen sie stattliche Preise, die sich auf Millionen addieren. Da gilt dann wie auf dem Werbemarkt: »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«. Das weckt öfter Zweifel an der Zuverlässigkeit der Ergebnisse. Doch dann holen die Demoskopen ihre »Totschlagkeule« raus: »Unsere Umfragen basieren auf einem repräsentativen Querschnitt der Gesamtbevölkerung!«

Das ist aber bei bestem Willen nicht machbar, weil zu viele objektive und subjektive Faktoren jedwede Umfrage tendenziell beeinflussen können. So bleiben Gegenfragen, die meist unbeantwortbar sind:

  • Was interessiert den Auftraggeber wirklich?
  • Wie viele Leute kann ich mit dem Geld befragen: 2.000 oder 20.000?
  • Wie ist die Stimmungslage in der Welt, in Deutschland, in der Branche?
  • Wie wirkt das sozial-ökonomische Klima auf Reiche und Arme, Junge und Alte, Stadt und Land, Kranke und Gesunde, Kölner und Schwaben …?
  • Wird vor oder nach dem Zahltag befragt, auch bei Singles und Witwern?
  • Wie war das Wetter an diesem Tag und wie die Schlagzeilen der Presse?
  • Wie stark ist die Vertrauensbasis zum politischen System und seinen Repräsentanten in dem befragten Personenkreis?

Zahlen können Sprengkraft haben

Niemand ist neutral und kompetent genug, derlei zu ergründen. So hilft dann meist der »Filter der Erfahrungen« aus früheren Erhebungen. Am Ende bleiben meist Toleranzen von plus/minus 2 bis 3 Prozent offen. Das kann aber bei Wahlumfragen Tod oder Leben kleinerer Parteien bedeuten. Und allein die Mitteilung »FDP scheitert wohl an der Fünfprozenthürde!« beeinflusst Millionen Wechselwähler, die nicht auf ein »sinkendes Schiff« springen wollen. Umgekehrt könnten Unionswähler sagen: »Dann kriegen die meine Zweitstimme, um sie als Koalitionspartner über Wasser zu halten!«

Wenn der frühere Außenminister Steinmeier den Stinkefinger zeigt, ist das ein Affekt mit kurzem Effekt. Aber wenn jemand dann eine Umfrage bestellt und zwei Drittel der Wähler diese Geste verurteilen, dann brechen dem Mann Zacken aus der Krone! Merke:

Die öffentliche Meinung ist stets ein Spiegel der veröffentlichten Meinung!

Also wann hilft wem welche Umfrage? Wie prägt man Stereotype und Vorurteile, die zum Urteil werden? Warum wird es Manipulation, wenn in einer Nachfrage zu Randalen von Chaoten oder Autonomen von »linken Ausschreitungen« die Rede ist. So bleibt immer Dreck an den Linken hängen, auch wenn sie keinen Einfluss auf solche Gruppen haben.

Meinungsforscher als Meinungsmacher

Zu den jüngsten Wahlen sind die Umfrage-Aufträge fast verdoppelt worden. Es hing ja auch viel davon ab, weil hierzulande längst eine Mehrheit links von der CDU und CSU möglich ist. Das könnte der Beginn einer Wende sein! Auch das Anwachsen der AfD-Stimmen könnte beträchtliche politische Auswirkungen haben. Der Präsidentschafts- Wahlkampf in den USA zeigte neue Dimensionen beim Schlammringen. Das kann auch den Rang der Meinungsforscher als Meinungsmacher erhöhen, da unsere Obrigkeit ja gerne jede Torheit und Tollheit aus den Staaten übernimmt. Da nannte Mister Trump die Frau Clinton eine korrumpierte Marionette, worauf sie als Kennerin der Verhältnisse in »Gottes eigenem Land« den Herrn Trump genauso titulierte. Aber keine Umfrage und kein Bericht sagte: An wessen Strippen? Mit welchem Auftrag und welchen Summen?

Deshalb meine ich, man darf die Demoskopen nicht als Götzen auf den Marmorsockel stellen. Sie sind eine Lenkhilfe, drum muss man fragen: In wessen Hand? Sie haben keine Kriege und keine Krisen verhindert, drum muss man wissen: Warum nicht? Die wahren Machthaber dieses Systems beten nicht die Volksmeinung an, sondern ihren Tresor! Umfragen schätzen sie nur, soweit sie ihnen dabei helfen.

Übrigens: Wenn die Umfragen so präzise und verlässlich wären, wie sie vorgeben, könnten wir uns eigentlich alle Wahlen ersparen. Das läuft aber nicht so. Weil bei der Fragestellung genauso viele Fehler gemacht werden wie bei der Interpretation der Zahlen. Weil die Protestwähler, Nichtwähler und Wechselwähler immer mehr und unberechenbarer werden. Weil jeder Normalbürger Frieden ohne Wettrüstung braucht, Wohlstand ohne Angst vor Armut, Krankheitskosten und Bildungschancen. Alle Politiker reden von mehr Verteilungsgerechtigkeit – keine Regierung wagt die Wende, weil sie alle an den Strippen des Großkapitals hängen.

Die Priesterin im Orakel von Delphi war klüger, freier und deshalb ehrbarer als die meisten Demoskopen. Wahrscheinlich hat sie am Schluss immer gesagt: »Eines nicht fernen Tages wird alles besser!«

Und wir haben dafür zu sorgen, dass sie Recht bekommt!

 

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2016-12: Das Ostfernsehen war besser als sein Ruf

2016-11: Das Chamäleon           

2016-08: Wie feindlich ist der Feind?