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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das Massaker in Kalavryta und die deutsche Schuld

Dr. Gesine Lötzsch, MdB, Berlin

 

Kurz vor Ausbruch der Finanzkrise besuchte ich mit einer Gruppe von Jugendlichen Griechenland. Als Vorsitzende des Vereins »Zivilcourage vereint« organisiere ich jedes Jahr Stu­dienreisen. Auf den Spuren des antifaschistischen Widerstandes waren wir schon in Frank­reich, Italien, Österreich, Belgien, Serbien, Kroatien, Slowenien und vielen anderen Län­dern. 2008 kamen wir nach Griechenland. Es war am Mittwoch, dem 22. Oktober 2008. Wir landeten mit 25 Minuten Verspätung in Athen. Als wir mit unseren Koffern kurz vor Mitternacht die Eingangshalle des Flughafens betraten, standen dort knapp dreißig grau­haarige Männer und Frauen, die uns herzlich mit Rosen begrüßten. Alle waren Wider­standskämpfer, Durchschnittsalter achtzig Jahre, die gegen die deutsche Okkupation im zweiten Weltkrieg gekämpft hatten. Der bekannteste unter ihnen, Manolis Glezos, war 19 Jahre alt, als er unter den Augen der Wehrmacht mit seinen Freunden die Na­zi-Flagge von der Akropolis holte und die griechische Fahne hisste. Er gab damit das Signal für den Kampf gegen die Besatzer. Er erklärte uns schon damals die Forderungen der anti­faschistischen Widerstandskämpfer an die Bundesregierung: Rückgabe der archäologi­schen Schätze, die durch die SS und die Wehrmacht gestohlen wurden; Rückzahlung einer Zwangsanleihe, die Hitler von Griechenland abgepresst hatte; Reparationszahlungen, die mit dem Londoner Abkommen von 1953 bis zu einem Friedensvertrag zurückgestellt und bis heute noch nicht an Griechenland geleistet wurden.

Schuldgefühle hat man nicht

Wir besuchten auch Kalavryta. Dort wurden am 13. Dezember 1943 Frauen und Kinder von den Männern über 13 Jahre getrennt, die Frauen zum Teil in die Schule gesperrt. Die Männer mussten zum »Palaeopigado« marschieren, einer Anhöhe am Rand des Städt­chens, auf der heute ein großes weißes Kreuz steht. »Zu Mittag gab eine Leuchtkugel das Signal zum Massaker«, berichtet die Klageschrift Nummer 35/1946 des Nationalen Grie­chischen Kriegsverbrecher-Büros. »Von diesem Augenblick an spielten sich drei Stunden lang die schrecklichsten Szenen ab.« Mit Maschinengewehren mähten die Deutschen etwa 800 Kalawritaner nieder, nur elf überlebten – verletzt – das Blutbad. Anschließend legten die Deutschen in allen Häusern Feuer, auch in der Schule.

Die Deutschen zerstörten nicht nur Kalavryta. Die Abschlussmeldung zählt 28 niederge­brannte Ortschaften und Klöster auf. Insgesamt wurden etwa 1.300 Griechen liquidiert.

Ich fragte einen Reiseteilnehmer, ob er in seinem Geschichtsstudium schon einmal etwas über die deutschen Verbrechen in Griechenland gehört hätte. Die Antwort war nein. Diese Frage stelle ich bei jeder Studienreise. Immer wieder wird mir von Jugendlichen gesagt, dass der antifaschistische Widerstand in Europa in der Schule keine Rolle gespielt hätte. Das ist ein unhaltbarer Zustand! Wie sollen Jugendliche eigentlich Zivilcourage lernen, wenn ihnen die historischen Vorbilder fehlen?

Doch nicht nur Jugendliche wissen wenig über den Widerstandskampf in Griechenland. Wenn wir uns an den Beginn der Finanzkrise erinnern, dann fällt mir immer wieder die Ar­roganz und die Boshaftigkeit deutscher Politiker gegenüber den Griechinnen und Griechen ein. Ein CDU-Politiker forderte die griechische Regierung auf, doch ihre Inseln zu verkau­fen, um ihre Schulden bezahlen zu können. Nicht nur in Boulevardzeitungen wurde über die angeblich faulen Griechen hergezogen. Schuldgefühle kannte man nicht. Die For­derung der griechischen Regierung nach Rückzahlung der Zwangsanleihe wurde empört zurück­gewiesen.

Der Bundespräsident war im Oktober 2018 zu einem Staatsbesuch in Griechenland. In Vorbereitung auf den Besuch veröffentlichten Prokopis Pavlopoulos, Präsident der Helleni­schen Republik, und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der FAZ den Beitrag »Rückbesinnung auf die Grundideen Europas«. In dem Gastbeitrag gibt es viele schöne Worte, doch diese Worte klingen hohl, wenn man nur einen Augenblick über die wechsel­volle  griechisch-deutsche Geschichte nachdenkt. Die Präsidenten schreiben: »… dass wir jeden Tag aufs Neue Demokratie erringen ... müssen. In noch nie dagewesenem Ausmaß seit Ende des Kalten Krieges stehen unsere Werte und Überzeugungen unter Druck.« Da frage ich mich natürlich, welchen Anteil der damalige Außenminister und Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier an dieser Entwicklung hatte. An Griechenland wurde von Kanzle­rin Merkel und Finanzminister Schäuble ein neoliberales Exempel statuiert. Sie haben mit unbarmherziger Härte Griechenland eine Rosskur verordnet, von der sich Griechenland bis heute nicht erholt hat. Die drastischen Kürzungsauflagen haben das Land und die Men­schen um Jahrzehnte zurückgeworfen. Die Arbeitslosigkeit stieg dramatisch, das Gesund­heitswesen wurde zerstört und Armut breitete sich dramatisch aus. Die SPD hat diesen Angriff auf Griechenland nicht gestoppt, sondern geschwiegen und Merkel und Schäuble gewähren lassen. Wenn heute die Demokratie in Europa unter Druck steht, dann ist das auch auf die brutale Politik Deutschlands gegenüber Griechenland zurückzuführen. Die Regierung in Griechenland ist zwar demokratisch gewählt, doch die politischen und wirt­schaftlichen Entscheidungen wurden immer von der Troika getroffen. Das Parlament muss­te die Vorgaben der Troika 1:1 umsetzen. Schon bei geringen Abweichungen brach in Deutschland ein Sturm der Entrüstung aus. Die Regierungsfraktionen verzögerten die Aus­zahlung des letzten 15-Milliarden-Euro-Kredits an Griechenland und beantragten in der Sommerpause, am 1. August 2018, eine außerordentliche Sitzung des Haushaltsausschus­ses des Bundestages. Was war passiert? Die griechische Regierung war in einem Punkt nicht den Anweisungen der Troika gefolgt. Sie hatte eine Mehrwertsteuererhöhung für die Inseln Lesbos, Chios, Kos und Samos verschoben. Auf diesen Inseln wurden besonders viele Flüchtlinge aufgenommen. Die Regierung wollte mit dieser Maßnahme die Inselbe­wohner entlasten. Der Kredit wurde dann doch ausgezahlt, weil die griechische Regierung vorschlug, die Einnahmeverluste durch Kürzungen im Rüstungshaushalt auszugleichen.

Europäische Idee und griechische Verelendung

In dem Gastbeitrag kommen die beiden Präsidenten zu der Erkenntnis, dass die EU die Menschen nur von Europa überzeugen kann, wenn »sie Antworten findet auf die drän­gendsten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger – als eine politische Ordnung, die Sicherheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit gewährleistet, …« Keinen Augenblick ging es der deutschen Regierung um Ordnung, Sicherheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit für die Griechinnen und Griechen. SPD-Chef Gabriel sagte Mitte 2015 über die Verhand­lungen der EU mit der Regierung Griechenlands gegenüber BILD: »Deshalb werden Europa und Deutschland sich nicht erpressen lassen. Und wir werden nicht die überzogenen Wahl­versprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitneh­mer und ihre Familien bezahlen lassen«.

Wie ist die Situation in Griechenland? Welche Wahlversprechen meinte Gabriel? Die Renten sind bereits um 60 Prozent gekürzt worden. Und sie werden 2019 erneut gekürzt werden. Das Einkommen ist auf den Stand von 2003 zurückgefallen. Das Bruttoinlandsprodukt ist in der Krise um 25 Prozent gesunken. 40 Prozent der Menschen leben in  Armut und sind von sozialer Ausgrenzung bedroht. 300.000 junge, qualifizierte Griechen sind ausgewan­dert.

Hat die Rosskur wenigstens die Schulden reduziert? Nein, das sogenannte Hilfspaket ist gescheitert. Die Bundesregierung hat nicht zur Lösung der Griechenlandkrise beigetragen. Mit ihrer Kürzungspolitik hat sie die Krise in Griechenland weiter verschärft. Nur zwei Zah­len beschreiben die katastrophale Situation: Betrug der Anteil der Schulden am Bruttoin­landsprodukt (BIP) 2007 noch 103 Prozent, waren es 2016 bereits 179 Prozent. Das Ziel des »Hilfsprogramms« war es, durch eine brutale Kürzungspolitik die Schuldenlast zu redu­zieren. Das Gegenteil ist passiert. Der Sozialstaat wurde zerstört und die Schulden sind weiter gestiegen. Gewinner der Krise sind vor allem deutsche und französische Banken. Seit dem Jahr 2010 hat die Bundesrepublik für Kredite an Griechenland insgesamt rund 2,9 Milliarden Euro an Zinsen erhalten.

Bundespräsident Steinmeier hat sich bei den Griechinnen und Griechen für die Massaker während der deutschen Besatzung entschuldigt. Doch ist nicht diese Entschuldigung nur ein Lippenbekenntnis, wenn wir uns den Umgang der Deutschen mit Griechenland an­schauen? Griechenland wurde von der Bundesregierung nicht für die Kriegsschäden ent­schädigt, Griechenland wurde durch die Bundesregierung noch tiefer in die Krise getrieben und Griechenland wird von der Bundesregierung mit den Geflüchteten allein gelassen. Den Umgang Deutschlands mit Griechenland kann man nur geschichtsvergessen nennen.

 

Mehr von Gesine Lötzsch in den »Mitteilungen«:

2015-01: Hartz IV und Pegida

2012-03: Die Inkasso-Demokratie

2012-01: Wir wollen solidarische Systeme vor der Zerschlagung retten