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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Hartz IV und Pegida

Dr. Gesine Lötzsch, MdB, Berlin

 

Was haben die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) mit Hartz IV zu tun? Auf dem ersten Blick nichts. Pegida richtet sich gegen Flüchtlinge. Hartz IV richtet sich gegen Arbeitslose. Doch es gibt einen Zusammenhang. Der Philosoph Byung-Chul Han suchte nach den Beweggründen der Pegida-Demonstranten und schrieb: »Viele sind heute von diffusen Ängsten geplagt, Angst zu versagen, Angst zu scheitern, Angst, abgehängt zu werden ... Wir leben längst in einer Gesellschaft der Angst … Aus der lähmenden Angst, abgehängt zu werden oder nicht mehr dazuzugehören, befreien sich Menschen, indem sie einen imaginären Feind konstruieren.«

So erklärt sich auch die Gesprächsverweigerung der Demonstranten. Sie wollen nicht über ihre Feinde sprechen, weil sie sonst auch über ihre Ängste sprechen müssten. Doch es sind nicht nur Ängste, die die Menschen auf die Straße treiben. Unter Ihnen gibt es offensichtlich eine beträchtliche Zahl, die ein unverrückbares rassistisches und totalitäres Weltbild haben. Die sollen hier nicht Gegenstand des Artikels sein. Diese Pegida-Demonstranten sind aus der »Mitte der Gesellschaft«, wie immer wieder gesagt und geschrieben wird. Es sind nicht die Menschen, die vor 10 Jahren gegen Hartz IV demonstrierten. Damals ging nicht die »Mitte der Gesellschaft« gegen diese Armutsgesetze auf die Straße, sondern die Arbeitslosen. Ich weiß, wovon ich schreibe, denn ich war bei vielen Montagsdemonstrationen dabei.

Nach 10 Jahren merkt die »Mitte der Gesellschaft«, dass Hartz IV sich nicht nur gegen Arbeitslose richtet, sondern gegen die ganze Gesellschaft. Natürlich gibt es Ausnahmen. In der Süddeutschen Zeitung erschien im Oktober 2004 eine einseitige Anzeige mit der Überschrift: »AUCH WIR SIND DAS VOLK«. Dort schrieben Wirtschaftsbosse, Unternehmensberater und Künstler: »Die unter dem Angst machenden und abschreckenden Schlagwort Hartz IV beschlossenen Änderungen in der Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind überlebensnotwendig für den Standort Deutschland. Der ist gepflastert mit den Grabsteinen verblichener Chancen. Totengräber sind in allen Parteien zu Hause. In der Vergangenheit haben alle Regierungen dem Wähler versprochen, was nicht zu halten war. Umso schmerzlicher ist nun die Stunde der Wahrheit. Jetzt hilft nur noch ein radikaler Kurswechsel. Solche Einschnitte tun weh wie alle schweren Operationen, aber aus Furcht vor Schmerzen nichts zu tun, wäre verantwortungslos. Nur Demagogen, die ihre Zukunft hinter sich haben, reden dem Volk nach dem Maul. Ihre Rezepte sind so simpel wie ihre Motive durchsichtig. Deshalb unterstützen wir Bundeskanzler Gerhard Schröder - ungeachtet aller unserer sonstigen politischen Präferenzen - in einer großen Koalition der Vernunft. Wir hoffen, dass er den Parolen der Populisten von links und rechts, die gnadenlos die Sorgen der Betroffenen für ihre Zwecke ausbeuten, Stand hält. Wir, die Initiatoren dieser Anzeige, wählten und wählen ganz unterschiedliche Parteien. Wir arbeiten in diesem Land, wir bezahlen unsere Steuern in diesem Land, wir bekennen uns zu diesem Land. Wir haben das Jammern über Deutschland satt.«

Der Anzeigentext sagt sehr viel über die vermeintliche Elite in unserem Land aus. Es gehe um einen radikalen Kurswechsel, Einschnitte, schwere Operationen, Schmerzen und Jammern. Diese martialischen Formulierungen beziehen sich aber niemals auf die Eliten selbst. Sie richten sich nur an das »restliche« Volk.

Ab 1. Januar 2015 ist Hartz IV 10 Jahre in Kraft. Der anerkannte Armutsforscher Christoph Butterwegge zieht den Schluss, dass »es sich bei Hartz IV um ein zutiefst inhumanes System … handelt, das Menschen entrechtet, erniedrigt und entmündigt. Sowohl die von Hartz IV unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer 'Bedarfsgemeinschaft' zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert.« Es gibt keine gesellschaftliche Gruppe in unserem Land, die so intensiv überwacht, kontrolliert, sanktioniert und gedemütigt wird, wie die Bezieher von Hartz IV.

10 Jahre, nachdem Hartz IV eingeführt wurde und Deutschland jetzt den größten Niedriglohnsektor Europas hat, gilt ab 1. Januar 2015 - nach langem Kampf - ein Mindestlohn in Deutschland. Wäre es nicht das Mindeste gewesen, mit Hartz IV auch den Mindestlohn einzuführen? Nein, das war nicht gewollt. Es ging darum, ein soziales Netz zu zerstören und nicht durch ein anderes Netz zu ersetzen. Nur so gelang es, eine Gesellschaft der Angst zu schaffen.

Die Hartz-Gesetze entfalten nach 10 Jahren mehr und mehr ihre zerstörerische Wirkung. Das Statistische Bundesamt teilte jüngst mit, dass Armut immer mehr ältere Menschen in Deutschland träfe. Fast jeder siebte Ältere war 2013 im Westen von Armut bedroht. Im Osten (einschließlich Berlin) gilt zwar »nur« jeder achte Rentner als armutsgefährdet, dafür ist das Armutsrisiko der Gesamtbevölkerung höher als im Westen. Jeder Fünfte lebt an der Armutsschwelle. Die Aussichten werden nicht besser. Im Gegenteil, heute gehen Menschen in Rente, die nach der Wiedervereinigung ihre Arbeit verloren hatten und sich von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur anderen hangeln mussten.

Wer geglaubt hatte, dass die SPD-Ministerin Nahles mit ihren Rentenreformen die Altersarmut in Deutschland stoppen könnte, sieht sich getäuscht. Die Rente ab 63 und die Mütterrente werden an der zunehmenden Altersarmut nichts ändern. Schon jetzt können immer mehr Menschen von ihrer Rente nicht mehr leben. Immer mehr Menschen müssen Grundsicherung beantragen. Dabei sind viel mehr Frauen betroffen als Männer. Traurige Spitzenreiter bei der Grundsicherung sind Hamburg, Bremen und Berlin. Dass Hamburg - die Stadt der Millionäre - gleichzeitig Spitzenreiter bei den Empfängern von Grundsicherung ist, sagt viel über unsere Gesellschaft aus. Da, wo es Reichtum gibt, da gibt es auch Armut. Altersarmut können wir nur beseitigen, wenn wir den Reichtum begrenzen. Doch CDU/CSU und SPD lehnen kategorisch die Erhöhung der Steuern für diese Super-Reichen ab und nehmen damit Altersarmut billigend in Kauf. Der Vize-Kanzler Gabriel hat schon angekündigt, dass er nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftssteuer alles tun wird, damit Familienunternehmen nicht weiter steuerlich belastet werden. Dazu Zahlen der Schweizer Bank UBS: Menschen mit einem Mindestvermögen von 30 Millionen Dollar gelten als Ultra High Net Worth Individuals (UHNWI). Mit einem Vermögenszuwachs von 10% war die deutsche Geldelite 2014 besonders erfolgreich, global lag das Plus dieser Einkommensgruppe nur bei 7%. Ein Grund für das überdurchschnittliche Abschneiden der deutschen UHNWI waren die vielen Erbschaftsfälle. Die Super-Reichen kontrollieren in Deutschland 23% des Gesamtvermögens. In den USA und Großbritannien sind es nur 13%. Das weiß natürlich auch der SPD-Vorsitzende Gabriel. Doch er will sich auf keinen Fall mit den Vermögenden anlegen. Die größte Gefahr für unsere Gesellschaft ist die enorme Reichtumskonzentration. Wenn wir den Reichtum nicht umverteilen, dann werden wir in Zukunft den noch existierenden Sozialstaat nicht mehr finanzieren können. Mindestens genauso groß ist die Gefahr, dass die Super-Reichen unsere Demokratie weiter beschädigen. Zu oft haben wir schon erlebt, dass Politik nicht mehr gewählt, sondern von Lobbyisten bestellt wurde. Da brauchen wir uns nicht über sinkende Wahlbeteiligung zu wundern. Den Menschen wurden schon so viele Wahlversprechen gemacht, die dann nach der Wahl nicht gehalten wurden, dass sie den Glauben an die Demokratie verloren haben. Es ist eigentlich noch schlimmer: Hartz IV wurde den Wählerinnen und Wählern von SPD und Grünen nie versprochen. Es wurde gegen den Willen der Wählerinnen und Wähler durchgesetzt.

Was können wir gegen Pegida und Hartz IV tun?

Die Hartz-Gesetze sind das größte Entsolidarisierungsprogramm seit dem 2. Weltkrieg. Es hat Millionen Menschen stigmatisiert, gedemütigt und ausgegrenzt. Die Empörung in der Gesellschaft blieb aus. Dafür regiert die Angst. Die Angst in das Hartz-IV-Ausgrenzungssystem abzurutschen. Gegen diese Angst hilft nur ein Mittel: Solidarität. Ohne Solidarität funktioniert keine Gesellschaft auf Dauer. Solidarität ist der Wirkstoff, der eine Gesellschaft zusammenhält. Solidarität ist die einzige Möglichkeit, die Geld-Elite daran zu hindern, weitere schmerzhafte Operationen bei der Politik zu veranlassen. Immerhin gibt es noch einige solidarische Systeme, die noch weiter demontiert werden können. Das ist keine Schwarzmalerei. Das ist leider schon Realität. Ich nenne nur das Gesundheitssystem, das Rentensystem und die Arbeitslosenversicherung, die schon alle seit Jahren hartem Angriff ausgesetzt sind und bereits Schaden genommen haben.

Das einzige Mittel gegen Angst sind nicht Mauern gegen Flüchtlinge, sondern Solidarität. Solidarität funktioniert aber nur, wenn sie tagtäglich eingeübt wird. Die Menschen schauen sehr genau auf DIE LINKE. Sie studieren ihr Verhalten. Wenn DIE LINKE Solidarität sich nicht nur auf die Fahnen schreibt, sondern auch tagtäglich lebt, dann wird das Gegenmittel seine Wirkung entfalten. Dann gibt es eine Chance aus einer Gesellschaft der Angst eine solidarische Gesellschaft zu gestalten. Denn nur eine solidarische Gesellschaft ist eine sichere Gesellschaft.

 

Mehr von Gesine Lötzsch in den »Mitteilungen«:

2012-03: Die Inkasso-Demokratie

2012-01: Wir wollen solidarische Systeme vor der Zerschlagung retten

2011-04: Sie handeln nicht in unserem Namen