Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das Leninsche Dekret über den Frieden 1917

Prof. Dr. Gregor Schirmer, Berlin

 

Einen Tag nachdem die Bolschewiki in Russland die Macht erobert hatten, am 8. November 1917, hat der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongress in Petrograd seinen ersten Rechtsakt verabschiedet: das Dekret über den Frieden. Dieses wahrhaft historische Dokument war von Wladimir Iljitsch Lenin verfasst, in der Abendsitzung des Kongresses verlesen und begründet worden. Er hat das Schlusswort gehalten und das Dekret unterzeichnet. Man nennt es zu Recht Leninsches Dekret über den Frieden. Die Sowjetregierung schlug darin »allen kriegführenden Völkern und ihren Regierungen« vor, »sofort Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden« aufzunehmen. Die Sowjetmacht hat mit einem Friedensruf die Bühne der Geschichte betreten.

Geburtsurkunde friedensorientierter sozialistischer Außenpolitik

Das Dekret gehörte zu Lenins Programmatik für den Übergang der russischen Februar-Revolution zu einer antikapitalistisch-sozialistischen Revolution. Der Kampf um den Frieden und die Fortführung der Revolution waren nach Lenins Auffassung zwei Seiten ein und derselben Sache. »Es ist klar: den Krieg bezwingen, heißt das Kapital besiegen, und in diesem Sinne hat die Sowjetmacht den Kampf begonnen.«

Die Februar-Revolution hatte zwar zum Sturz des Zaren geführt. Die entstandene »Doppelherrschaft« der bürgerlichen Provisorischen Regierung und der von Menschewiki und Sozialrevolutionären dominierten Sowjets der Arbeiter und Soldaten brachte jedoch keinen Frieden. Die bürgerliche Regierung setzte in Bündnistreue mit England und Frankreich, sowie dem seit dem 6. April neu hinzugekommenen Kriegspartner USA den mörderischen Weltkrieg fort. Die sogenannte Kerenski-Offensive scheiterte jedoch. Die russischen Truppen waren in einer desolaten Lage. Die Soldaten wollten nicht mehr für ihre Kapitalisten und Großgrundbesitzer kämpfen. Die Armeen Deutschlands und seiner Verbündeten waren an der Ostfront in vergleichsweise guter Position. In dieser Situation verschmolz für Lenin der Kampf um den Sturz der Provisorischen Regierung und der Kampf gegen den Krieg und für Frieden in eins. Der Kampf um den Frieden war für ihn zugleich antiimperialistischer Klassenkampf.

Nach Lenin gab es einen »untrennbaren Zusammenhang zwischen Kapital und imperialistischem Krieg«. Deshalb war er der Überzeugung, »dass die Beendigung des Krieges durch einen wahrhaften demokratischen Frieden, nicht durch einen Gewaltfrieden, ohne den Sturz des Kapitals unmöglich ist.« Lenin hielt damals einen friedlichen Fortgang der Revolution für möglich: »Durch die Übernahme der ganzen Macht könnten die Sowjets jetzt noch – und wahrscheinlich ist das die letzte Chance – die friedliche Entwicklung der Revolution sichern.« Für ihn war die sozialistische Revolution auch eine Revolution gegen den Krieg, für einen demokratischen Frieden und ein solcher Frieden die beste Bedingung für die Entwicklung der Revolution.

Hat uns nach 100 kriegsbeladenen Jahren  das Dekret über den Frieden noch etwas zu sagen? Es lohnt ein genaueres Durchforsten des Textes, um festzustellen, dass es Grundsätze von Außenpolitik und Völkerrecht proklamiert, die heute sehr aktuell sind. Das Dekret war die Geburtsurkunde friedensorientierter sozialistischer Außenpolitik. Mit dem Dekret wurde ein revolutionärer Umbruch im Völkerrecht eingeleitet, der mit der UN-Charta seine demokratische Ausgestaltung fand. Die Sowjetregierung hat politische und juristische Prinzipien umrissen, deren Bedeutung weit über den gegebenen Anlass hinausgeht, mit dem verbrecherischen Völkergemetzel des Ersten Weltkriegs Schluss zu machen.

Aufruf an die Regierungen und an die Völker

Erstens. Es geht nicht um irgendeinen neuen Gewaltfrieden, der den Keim des nächsten Krieges in sich trägt, sondern um einen gerechten und demokratischen Frieden. Gerechtigkeit und Demokratie waren für Lenin die Schlüsselbegriffe für die Vereinbarung eines Friedens, der mehr ist als Schweigen der Waffen. Ein »solcher Frieden ist nach Auffassung der Regierung ein sofortiger Frieden ohne Annexionen … und ohne Kontributionen.« Und: »Unter Annexion oder Aneignung fremder Territorien versteht die Regierung im Einklang mit dem Rechtsbewusstsein der Demokratie im allgemeinen und der werktätigen Klassen im besonderen, die Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne dass diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch unmissverständlich, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat«.

Zweitens. Für Lenin war die Gewinnung von Frieden aufs Engste verknüpft mit der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. In der Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes vom 17. Januar 1918 sprach er direkt vom Frieden »auf der Grundlage der freien Selbstbestimmung der Nationen.« Im Dekret über den Frieden heißt es: »Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsche … das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der annektierenden oder überhaupt der stärkeren Nation in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung.«

Drittens. Das Dekret verurteilt den Ersten Weltkrieg in aller Schärfe als Verbrechen: »Diesen Krieg fortzusetzen, um die Frage zu entscheiden, wie die starken und reichen Nationen die von ihnen annektierten schwachen Völkerschaften unter sich aufteilen sollen, hält die [Sowjet]-Regierung für das größte Verbrechen an der Menschheit«.  Es sollte noch der bitteren Erfahrung eines zweiten Weltkriegs bedürfen, bis die Tatbestände des Verbrechens gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit Eingang in verbindliches Völkerstrafrecht fanden und im Nürnberger Prozess gegen die faschistischen deutschen Hauptkriegsverbrecher erstmalig angewendet wurden.

Viertens. Die Adressaten sozialistischer Friedenspolitik der jungen Sowjetmacht sind für Lenin nicht nur die Regierungen der kriegführenden Länder, sondern auch deren Völker, insbesondere die arbeitenden Klassen und Schichten. Lenin sagte auf dem Sowjetkongress. »Unser Aufruf muss sowohl an die Regierungen als auch an die Völker gerichtet werden … Überall bestehen Gegensätze zwischen Regierungen und Völkern, und deshalb müssen wir den Völkern helfen, in Fragen des Krieges und des Friedens einzugreifen.«

Fünftens. Das Dekret hat neue Prinzipien der Außenpolitik proklamiert. »Die Regierung schafft die Geheimdiplomatie ab, sie erklärt, dass sie ihrerseits fest entschlossen ist, alle Verhandlungen völlig offen vor dem ganzen Volk zu führen«. Sie wird unverzüglich »alle  Geheimverträge … veröffentlichen«. Die räuberischen Verträge wurden als nichtig behandelt. »Alle Bestimmungen dieser Geheimverträge, … die den Zweck hatten, den russischen Gutsbesitzern und Kapitalisten Vorteile und Privilegien zu verschaffen, die Annexionen der Großrussen aufrecht zu erhalten oder zu erweitern, werden  von der Regierung bedingungslos und sofort für ungültig erklärt.« Lenin wollte allerdings keine tabula rasa. Er unterschied diese Verträge von anderen, die er fortgeführt wissen wollte. Die »räuberischen Regierungen haben nicht nur über Räubereien Abkommen getroffen, sie haben neben solchen auch wirtschaftliche Abmachungen getroffen und verschiedene anderen Punkte über gutnachbarliche Beziehungen festgelegt«. … Diese Punkte »nehmen wir gern an, sie können wir nicht ablehnen.« Das war ein Vorgriff auf das Prinzip der friedlichen und gleichberechtigten Zusammenarbeit Sowjetrusslands mit der kapitalistischen Welt, das später den Namen »friedliche Koexistenz« erhielt.

Sechstens. Lenin wäre bei der Begründung des Dekrets über den Frieden nicht der gewesen, der er immer war, nämlich der an Marx geschulte Revolutionär, wenn er nicht auch bei der Begründung dieses diplomatischen Dokuments den Zusammenhang von Friedenskampf und Klassenkampf hergestellt hätte. Er rechnet damit, »dass die klassenbewussten Arbeiter« Englands, Frankreichs und Deutschlands durch eigene revolutionäre Aktion uns »helfen werden, die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen.«

Das Dekret fand zwar bei einfachen Leuten und den Soldaten der kriegführenden Länder ein positives Echo, soweit es zu ihrer Kenntnis gelangt ist. An der Ostfront kam  es zu Verbrüderungen zwischen deutschen und russischen Soldaten. Die imperialistischen Regierungen und Militärführungen aber wollten den verbrecherischen Krieg bis zum Sieg weiterführen. Die »Westmächte« schwiegen zum sowjetischen Friedensruf. Sie hätten am liebsten ein kapitalistisches Russland als Kriegspartner gegen Deutschland behalten. Deutschland ließ sich auf einen Waffenstillstand ein und begann am 9. Dezember 1917 in Brest-Litowsk Verhandlungen mit Sowjetrussland in der Hoffnung, Truppen von der Ost- an die Westfront verfrachten und dort den deutschen Sieg sichern zu können.

Die Sowjetmacht sah sich gezwungen, um die Revolution vor dem deutschen Imperialismus zu retten, am 3. März 1918 den Diktatfrieden von Brest-Litowsk mit dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei abzuschließen. Das Positive daran: Sowjetrussland schied endgültig aus dem Weltkrieg  aus und bekam eine dringend notwendige Atempause für erste Schritte zu Konsolidierung und Aufbau.

Wer heutzutage als Linker für den Frieden kämpft, sollte in ruhigen Stunden zu Lenins friedenspolitischer Hinterlassenschaft aus den Jahren 1917 und 1918 greifen. Das liefert Erkenntnis und spornt an.

 

Mehr von Gregor Schirmer in den »Mitteilungen«: 

2016-04: Rechtswidrige Intervention

2015-09: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag

2015-08: Vor 70 Jahren: Das Potsdamer Abkommen