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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag

Prof. Dr. Gregor Schirmer, Berlin

 

Vor 25 Jahren, am 12. September 1990, wurde in Moskau der sogenannte Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet. Zwei – das waren die zwei deutschen Staaten, vertreten durch ihre Außenminister Hans-Dietrich Genscher und (amtierend) Lothar de Maizière. Vier – das waren die vier Siegermächte des Zweiten  Weltkriegs gegen Hitler-Deutschland Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion und USA. Sie handelten in ihrer Eigenschaft als Inhaber »der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes«, die sie trotz oder gerade wegen ihrer Gegensätze niemals aufgegeben hatten. Vertreten wurden sie von ihren Außenministern Roland Dumas, Douglas Hurd, Eduard Schewardnadse und James Baker. Der offizielle Titel war »Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland«.

Die Außenminister der sechs Staaten waren im Februar 1990 – als der Anschluss der DDR an die BRD praktisch bereits besiegelt war – übereingekommen, dass sie sich treffen werden, »um die äußeren Aspekte der Herstellung der Deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten, zu besprechen«. Die Ratifikation des Vertrags »auf deutscher Seite« war schon nicht mehr Sache des Mitunterzeichners DDR, deren Dasein mit dem Beitritt zur BRD gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes beendet wurde, sondern oblag nach Art. 8 dem »vereinten Deutschland«, wie die gerade größer werdende Bundesrepublik in dem Vertrag fortlaufend euphemistisch genannt wird. In Kraft trat der Vertrag am 15. März 1991, nachdem sich der Oberste Sowjet nach kontroverser Debatte zur Billigung des Vertrags durchgerungen und der sowjetische Botschafter in Bonn die letzte Ratifikationsurkunde abgeliefert hatte.

Verlierer und Gewinner

Eduard Schewardnadse hat am 20. September 1990 vor dem Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Obersten Sowjets der UdSSR behauptet, »dass die von uns unter- zeichneten Dokumente in vollem Maße den Interessen der Sowjetunion, aller Völker, aller Republiken entsprechen.« Das Gegenteil war die traurige Wahrheit. Heute tritt umso deutlicher zu Tage, dass Zwei-plus-Vier eine eklatante, zum großen Teil selbst verursachte Niederlage der überragenden Siegermacht des Zweiten Weltkriegs war. Dabei war viel Geld im Spiel. Im Mai 1990 floss ein Kredit in Höhe von 5 Milliarden DM von Berlin nach Moskau, nachdem Bundeskanzler Kohl schon im Februar 220 Millionen DM »Lebensmittelhilfe« spendiert hatte. Hauptgewinner von Zwei-plus-Vier waren die NATO-Vormacht USA und ihr treuer Verbündeter BRD.

Die Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands durch die Festlegung des Art. 6, dass das »vereinte Deutschland« das »Recht« hat, Militärbündnissen anzugehören, wollte Schewardnadse den Abgeordneten mit der Illusion schmackhaft machen: »In der Perspektive werden die NATO und der Warschauer Vertrag zu Bestandteilen, zu Elementen gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen und sich dann, so scheint es, in ihnen auflösen.« Aufgelöst hat sich am 1. Juli 1991, nur dreieinhalb Monate nach Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags, der Warschauer Vertrag und zwar ins Nichts. Für die NATO war die Erweiterung um das Territorium der DDR der erste Schritt einer maßlosen Osterweiterung um sechs ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten und drei ehemalige Sowjetrepubliken. Die Zusicherung von Baker gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Michael Gorbatschow am 9. Februar 1990, dass »eine Ausweitung der Jurisdiktion oder militärischen Anwesenheit der NATO nicht einen Zoll in östliche Richtung vonstatten geht«, war bald danach Schall und Rauch. Ebenso wie die großsprecherische Äußerung Genschers in seiner Tutzinger Rede am 31. Januar: »Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht – eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten … wird es nicht geben.«

Auch die von Schewardnadse erwarteten gesamteuropäischen Sicherheitsstrukturen blieben aus. Wie auf einer Gebetsmühle hatten Bonner Politiker seit Abschluss des Vertrags der Bundesrepublik mit der Sowjetunion vom 12. August 1970 20 Jahre lang den Satz heruntergeleiert, dass es das politische Ziel der BRD sei, »auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.« Mit Europa war nicht das westliche gemeint, sondern Gesamteuropa, einschließlich der Sowjetunion. Ein vereintes Deutschland war nach westdeutscher Lesart nur vorstellbar und erreichbar, wenn eine Europäische Friedensordnung hergestellt würde. Insofern hatte diese Friedensordnung  angeblich sogar Vorrang vor der deutschen Einheit. Erstere war als Voraussetzung für letztere gedacht. Und das Kernstück einer solchen Friedensordnung ist zweifellos ein europäisches Sicherheitssystem. Im Zwei-plus-Vier-Prozess wurde dieses Bedingungsgefüge durch die brutale Durchsetzung des Vorrangs der deutschen Einheit vor der europäischen Sicherheit aufgelöst. Die Sowjetunion unter Gorbatschow hat sich damit abgefunden und in den Verhandlungen keinerlei Forderungen und Bedingungen hinsichtlich einer gesamteuropäischen Friedensordnung mit einem funktionstüchtigen System gegenseitiger Sicherheit gestellt. Nur beiläufig und unverbindlich ist in der Präambel des Vertrags von europäischer Sicherheit die Rede. Die vielgerühmte Charta von Paris, die 10 Wochen nach dem 2+4-Vertrag unterzeichnet wurde, hat den Vertrag »mit großer Genugtuung« zur Kenntnis genommen und die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands als einen »bedeutsamen Beitrag zu einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für ein geeintes demokratisches Europa« gefeiert, hat aber ein solches System weder begründet noch anvisiert. Es besteht bis heute nicht. Ein letzter russischer Vorschlag von 2009 für einen entsprechenden Vertrag über europäische Sicherheit wurde vom Westen kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht. Europa ist von dauerhaftem und gerechtem Frieden weit entfernt.

In Art. 4 des Vertrags wurde die Festlegung getroffen, dass die sowjetischen Streitkräfte bis Ende 1994 aus dem Gebiet der damaligen DDR und Berlins abgezogen werden. Gorbatschow gab damit sein einziges verbliebenes reales Faustpfand aus der Hand: die Anwesenheit von etwa einer halben Million Angehörigen der Sowjetarmee im Osten Deutschlands. Jelzins Russland erfüllte die Verpflichtung vorfristig. Schon am 1. September 1994 war kein russischer Soldat mehr auf deutschem Boden. Die BRD zahlte an ihren neuen russischen Freund rund 15 Milliarden D-Mark zur Deckung der Kosten für die Rückführung, für die Umschulung der Soldaten und für den Bau von Rückkehrer-Wohnungen. Einen Passus über den Rückzug von Streitkräften der anderen 2+4-Partner sucht man im Vertrag vergebens. Gorbatschow hat seine ursprüngliche Forderung nach gleichzeitigem Abzug der sowjetischen und der Nato-Streitkräfte aufgegeben. Die Russen gingen, die Amis blieben. Noch heute sind etwa 42.000 Ami-Soldaten samt Atomwaffen, 13.000 englische und 1.600 französische Soldaten in Westdeutschland stationiert. Das ist immerhin ein knappes Drittel der aktuellen Personalstärke der Bundeswehr.

Drei wichtige Artikel

Die drei ersten Artikel des Zwei-plus-Vier-Vertrags sind erinnerns- und verteidigenswert. Art. 1 ist von historischer Bedeutung. Die Außengrenzen des vereinten Deutschlands »werden die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrags endgültig sein.« Damit wurde endlich die Potsdamer Grenzziehung von 1945 an Oder und Neiße als unveränderbar bestätigt, die die DDR schon 40 Jahre früher mit dem Görlitzer Abkommen vom 6. Juli 1950 akzeptiert hatte. Bonn hatte Jahrzehnte lang mit der Nichtanerkennung dieser Grenze normale Beziehungen der BRD zu Polen hintertrieben und revanchistische Stimmungen angeheizt und selbst im Zwei-plus-Vier-Prozess noch für beträchtliche Irritationen gesorgt. Art. 2 hat bleibenden politischen und völkerrechtlichen Rang. »Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird.« Diese Verpflichtung war einer Passage aus dem gemeinsamen Kommuniqué zum Besuch Erich Honeckers in der BRD vom September 1987 nachgebildet. Dort war erklärt worden: »Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg, von deutschem Boden muss Frieden ausgehen.« 1999 hat die militarisierte Bundesrepublik den Vertrag gröblichst gebrochen, als sie sich mit Luftwaffe und Marine am verfassungs- und völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Jugoslawien beteiligte, ein Krieg ohne Deckung durch das Selbstverteidigungsrecht und ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats, also ein Aggressionsverbrechen.

Art. 3 bekräftigt den deutschen »Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen«. Diese Selbstverpflichtung, die im Einklang mit dem geltenden Völkerrecht und mit der Zugehörigkeit Deutschlands zu den Verträgen über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, über das Verbot biologischer und chemischer Waffen steht, sollte von Deutschland als bleibende Aufforderung wahrgenommen werden, eine konstruktive Rolle im Kampf gegen Massenvernichtungswaffen zu spielen. Mit Art. 7 beendeten die Vier Mächte ihre Rechte und Verantwortlichkeiten sowie ihre »vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken«. Dem »vereinten Deutschland« wird die »volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten« zugesprochen. Abgesehen davon, dass diese Souveränität angesichts selbstgewählter Bindung an Nato und EU und Hörigkeit gegenüber den USA realiter so »voll« nicht ist, hat das »vereinte« Deutschland diese Souveränität nicht – wie Genscher bei der Unterzeichnung des 2+4-Vertrags beteuert hat – »in europäischer Friedensverantwortung« wahrgenommen, sondern zur Wiedergewinnung einer imperialistischen Machtstellung in Europa und in der Welt, die die Siegermächte vor 25 Jahren wohl so nicht vorgesehen hatten.

 

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2015-08: Vor 70 Jahren: Das Potsdamer Abkommen

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