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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Bücher lesen im Zeitalter von Google und KI

Dr. Gesine Lötzsch, Berlin, MdB

 

Welche Rolle spielen Traditionen im Zeitalter von Google und künstlicher Intelligenz? Wenn wir nicht von der Hand in den Mund leben wollen, dann braucht es Traditionen. Wer sein Koordinatensystem nach tagesaktuellen Nachrichten und wöchentlichen Umfragen ausrichtet, ist hoffnungslos verloren. Wir werden von Informationen überflu­tet und haben nicht die Zeit und nicht die Kraft, sie auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Wir wissen, dass gerade in Kriegszeiten die Wahrheit zuerst stirbt. Wer Kriege besser verstehen will, muss sich mit der Geschichte von Kriegen beschäftigen. Schnell erkennt man Muster, die immer wieder auftauchten. Brecht, Tucholsky, Mann und viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben diese Muster brillant beschrieben.

Helga Elias, ehemalige Kulturreferenten unserer Fraktion im Berliner Abgeordneten­haus, hatte eine schöne Tradition über die Wendezeit hinweg gerettet: Sie organisierte jedes Jahr »Das Lesen gegen das Vergessen«.

Mit dieser Veranstaltung wurde und wird einmal im Jahr der Bücherverbrennung 1933 gedacht. Studenten im ganzen Land hatten unliebsame Bücher zusammengekarrt und auf Scheiterhaufen verbrannt. In Berlin fand die Bücherverbrennung auf dem Opern­platz, dem heutigen Bebelplatz, statt. Studenten der Friedrich-Wilhelm-Universität war­fen Bücher von Brecht, Heine, Tucholsky, Marx und vielen anderen Autoren in das Feuer. Diese Bücher sollten aus dem Gedächtnis der Menschen ausradiert werden. Das ist nicht gelungen.

Als Abgeordnete des Berliner Abgeordnetenhauses hatte ich an dieser Veranstaltung jedes Jahr teilgenommen. Mit meiner Wahl 2002 in den Deutschen Bundestag wurde daraus eine Fraktionsveranstaltung. Ich kann gar nicht alle Menschen aufzählen, die sich an diesen Lesungen beteiligt haben. Auf jeden Fall möchte ich die Schriftstellerin Elfriede Brüning nennen, die bis zur ihrem Tod bei jeder Lesung dabei war. Sie hatte die Bücherverbrennung 1933 miterlebt und auch darüber eindrucksvoll geschrieben. Immer wieder hatten wir auch Berliner Schulklassen eingeladen. Schülerinnen und Schüler trugen eigene Texte vor, die sich mit dem Thema sehr aktuell auseinandersetzten.

Die Künstlerinnen und Künstler bekommen von uns keine Vorgaben. Sie können selbst entscheiden, was sie lesen wollen. Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck war schon zwei Mal dabei. Ihr Buch »gehen ging gegangen« hat mich sehr beeindruckt. Sie las Gedichte von Johannes R. Becher. Die hört man heute doch eher selten. Die Künstlerinnen und Künstler kommen zum »Lesen gegen das Vergessen«, ohne eine Gage zu verlangen. Das ist heute nicht unbedingt selbstverständlich. Offensichtlich ist es für sie ein inneres Bedürfnis, Zeichen für die Kultur und gegen Faschismus, Rassismus und Fremdenfeind­lichkeit zu setzen.

Besonders gefreut hatte ich mich über einen Auftritt von Micha Ullman. Er schuf das Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung. Es ist ein unterirdischer Raum, der in den Bebelplatz eingelassen ist. An den Wänden des vollständig weiß getünchten Rau­mes befinden sich leere Regale für 20.000 Bände. Eine Glasplatte in der Pflasterung des Platzes ermöglicht Besuchern den Einblick. Für mich eines der eindrucksvollsten Denkmale Berlins. Ullman hatte es lange Zeit abgelehnt, auf den Bebelplatz zu kom­men. Er war verärgert, dass auf dem Platz über dem Denkmal Modeschauen und in der Weihnachtszeit Eisstockschießen veranstaltet wurde. Ich habe diese Praxis auch als völlig instinktlos empfunden. Immer wieder habe ich den Eindruck, dass der Berliner Senat für ein paar Silberlinge die Stadt zum Rummelplatz umbauen lässt. Das ist nicht nur eine Zumutung für die Berlinerinnen und Berliner, es ist auch würdelos. Viele Berli­nerinnen und Berliner wandten sich mit einer Petition an das Berliner Abgeordneten­haus mit der Forderung, dieser Kulturlosigkeit auf dem Bebelplatz ein Ende zu setzen. Die Petition war erfolgreich. In einem der Folgejahre kam dann Micha Ullman zu unse­rer Veranstaltung.

Fast jedes Jahr ist Beate Klarsfeld dabei. Sie ist keine Künstlerin, sondern eine erfolg­reiche Nazijägerin. Sie und ihr Mann Serge habe das Versagen bei der Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern der bundesdeutschen Justiz nach dem Krieg nie akzeptiert. Ich bin immer wieder beeindruckt, welche Kraft dieses großartige Ehepaar über Jahrzehnte aufgebracht hat, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Diese Unbeirrbarkeit ist für mich vorbildlich. Sie kämpfen nicht nur gegen alte Nazis, sondern auch gegen neue Nazis.

Als noch nicht die rechtsradikale AfD im Bundestag saß und wir es mit der grobschläch­tigen NPD zu tun hatten, hatte jeder von uns ein Bild von einem typischen NPD-Funktio­när und seinen Schlägertrupps. Mit der AfD kamen studierte Menschen in die Parla­mente. Unter ihnen Polizeikommissare, Richter, hochrangige Bundeswehroffiziere und Professoren aus deutschen Universitäten. Dieses rechtsradikale Bildungsbürgertum aus der Mitte der Gesellschaft kann mit dem »Lesen gegen das Vergessen« nichts anfan­gen. Sie haben Tucholsky, Brecht, Feuchtwanger wahrscheinlich nie gelesen. Deshalb können sie auch nichts vergessen. Doch sie sind bestimmt nicht dumm. Sie sind Meis­ter der Manipulation. Sie sind im Internet aktiver als die Linke. Sie verstehen es geschickt, die nationalsozialistische Karte zu spielen. Das ist eine große Herausforde­rung für uns. Die AfD gibt sich als soziale Friedenspartei aus, die vor allem die Inter­essen der Ostdeutschen vertritt. Sie klauen uns erfolgreich unsere Themen. Wir wehren uns dagegen nicht ausreichend. Als ob die Themen, die die AfD für sich reklamiert, kon­taminiert wären, lassen wir sie wie heiße Kartoffeln fallen. Auch dafür gibt es histori­sche Beispiele, aus denen wir lernen sollten.

Im vergangenen Jahren kamen zwischen 300 und 400 Menschen auf den Bebelplatz. Sie haben bei wirklich jedem Wetter mehr als zwei Stunden den Künstlerinnen und Künstlern zugehört; an ihren Lippen gehangen. Beim »Kleinen Buchladen« konnten sie gleich die Bücher kaufen, aus denen gelesen wurde. Das waren richtige Bücherfeste! Das Durchschnittsalter war 60 plus. Das ist kein Problem. In den vergangenen Jahren waren auch Schulklassen dabei, die viele Wochen ihre Auftritte geprobt hatten. Das Interesse ist auch bei vielen jungen Menschen da. Doch die Wissenslücken werden grö­ßer. Ich hatte einen gebildeten Studenten gefragt, ob er Anna Seghers kennt oder Maja­kowski. Irritiertes Schweigen. Das ist kein Vorwurf gegenüber jungen Menschen, die sicherlich viele Bücher gelesen haben, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Es ist nur eine Beobachtung. Große Künstlerinnen und Künstler sind nicht nur in Vergessen­heit geraten, nachwachsende Generationen haben sie noch nicht einmal kennengelernt. Anna Seghers war einmal Schulstoff!

Natürlich können wir nicht alle Bücher vor dem Vergessen bewahren. Doch wenn ich jetzt Tucholsky lese, dann wundere und staune ich über die unglaubliche Aktualität, die Präzision, den Witz und die Schreibkunst. Man glaubt, sich in einer Zeitschleife zu befinden. Besser kann man die aktuelle Situation nicht beschreiben. Wenn dann gesagt wird, 2023 ist nicht 1933, dann betrachte ich das als eine unverantwortliche Beschwichtigung. Die Verquickung von Krieg, Umwelt- und Verteilungskrise setzt unge­ahnte destruktive und autoritäre Kräfte frei. Es ist die Aufgabe der Linken, die Ursachen der Krisen zu erklären. Wir müssen deutlich machen, dass allen Krisen ein Geschäfts­modell zugrunde liegt. Das Modell heißt immer noch Kapitalismus. Die Profitlogik zer­stört die Menschheit. Auch das stand in Büchern von Karl Marx und Friedrichs Engels, die vor 90 Jahren verbrannt wurden.

In Vorkrisenzeiten wurde in vielen Zeitungen und Fernsehsendungen die Frage gestellt: Wie wollen wir leben? Warum wird eigentlich diese Frage nicht in Krisenzeiten gestellt? Weil die Regierenden am besten wissen, was für uns gut ist? Da möchte ich große Zwei­fel anmelden.

Mein Wunsch wäre es, dass alle Menschen in unserem Land in jedem Jahr am 10. Mai Bücher kaufen oder ausleihen, die die Nazis aus dem Weltkulturerbe ausradieren woll­ten. Denn es ist noch nicht entschieden, wer den Kampf um unser Büchererbe gewin­nen wird.

Mittwoch, 10. Mai 2023, 17 bis 18:30 Uhr: Lesen gegen das Vergessen. Bebelplatz, Unter den Linden 9, 10117 Berlin. Mehr dazu: www.gesine-loetzsch.de/termine/detail/lesen-gegen-das-vergessen-11.