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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Biedermeier und Brandstifter (II und Schluss)

Tim Engels, Düsseldorf

 

(Fortsetzung von Heft 5/2023)

 

Im Wikipedia-Eintrag zum »Mordanschlag von Solingen« heißt es bezeichnenderweise: »In diesem Artikel oder Abschnitt fehlen noch folgende wichtige Informationen: der Komplex um die Kampfsportschule Hak Pao sowie den V-Mann fehlt, der anschließend deutschland­weite Boom der ›Grauen Wölfe‹ wird auch nur angedeutet«.

Auch einer der Verteidiger habe der Mutter des Verurteilten Felix gesagt: »die wahren Täter finden wir nie«. Umso erstaunlicher ist es, dass ein anderer Rechtsanwalt verkündete, dass es die »Tat von vier betrunkenen Einzeltätern« gewesen sei, »nicht gesteuert«. Es mag sein, dass es die vier tatsächlich waren. Der sachverständige Jugendpsychiater geht davon aus, dass sich die beiden jüngeren Verurteilten eingeredet hätten, es nicht gewesen zu sein, »um sich zu suggerieren, nicht schuld daran zu sein«. In dem Schock der Erkenntnis, den Tod von fünf Menschen verantworten zu müssen, sei ihnen der Gedanke überkommen, eine solche Katastrophe nicht binnen zehn Minuten ausgelöst haben zu können, »und in dem momentanen Schock löschten sie diese zehn Minuten aus ihrem Gedächtnis«.

Das eine spricht nicht gegen das andere. Wo der Dienst eingebunden ist, gibt es bisweilen Tote; das wissen wir nicht erst seit dem »NSU«-Komplex als dem bislang größten Geheim­dienstskandal in der Geschichte der BRD. Nie zuvor war eine rechtsterroristische Gruppe wie der NSU von derart vielen Geheimagenten umgeben, nämlich von über vierzig! Und sie alle wollen nichts mitbekommen haben, so wenig wie der Agent Temme 2006 im Internet­café!? Zehn Jahre unbemerkte Morde!? Dabei von »Behörden-« oder »Staatsversagen« aus­zugehen, mutet nahezu komisch an. Das ist eindrucksvoll zu sehen in der ZDF-Dokumenta­tion »Extremisten mit Staatsauftrag – Das System der V-Leute« [1], in der allerdings eine ent­scheidende Person fehlt: nämlich der Solinger V-Mann Bernd Schmitt. Nicht »vergessen« wird er in der Panorama-Sendung des NDR»Der V-Mann: Ein linker Spitzel packt aus« [2]. Dort dient sein Erwähnen allerdings wohl eher der vermeintlichen Untermauerung der soge­nannten totalitarismusdoktrinären »Hufeisentheorie«. Aber immerhin führt dies dazu, dass sich das NRW-Innenministerium befleißigt fühlt, die Akten noch einmal prüfen zu wollen (WDR-Lokalzeit vom 20. April 2022). Doch sind die womöglich wesentlichen Akten, so wie im »NSU«-Komplex und wie auch die Asservate beim »Oktoberfestattentat«, auf rätselhafte Weise verschwunden! Ein Agent (Temme) am Tatort, dessen späterer Vorgesetzter der Regierungspräsident Walter Lübcke; am Ende war auch er tot – das Mordopfer eines Faschisten. Daneben fanden sieben Zeuginnen und Zeugen beim »NSU«-Komplex unter mysteriösen Umständen den Tod. Und wenn der Geheimdienst von Selbsttötung spricht, darf man sicher von Mord ausgehen. Zumindest hatte der in die Szene der linken Radikalen eingeschleuste V-Mann Jan Pietsch den Eindruck gehabt, 1993 eingesetzt worden zu sein, um die Aufklärung des Solinger Brandanschlages zu verhindern: »Aus heutiger Sicht habe ich den Verfassungsschutz geschützt, nicht die Verfassung«. Möglicherweise aus ähnlichen Gründen musste 2007 auch Michèle Kiesewetter sterben.

Strategie der Spannung

Unmittelbar nach dem Brandanschlag konnte von Nachbarn beobachtet werden, wie aus der Kampfsportschule des V-Mannes kistenweise Akten entfernt wurden. Die Fahrzeuge wurden seitens der Polizei allerdings nur nach Waffen durchsucht. Teile der Akten wurden in späteren Ermittlungsverfahren wiedergefunden. Dort ergaben sich belastbare Hinweise, dass Schmitt nicht nur Jugendliche indoktriniert und vor der Polizei gewarnt, sondern auch ganz handfest die rechtsterroristische »Nationalistische Front« unterstützt hat. Dabei han­delte es sich um Lageskizzen, Namen der Geldgeber, juristische Berater sowie verdeckt ar­beitende Hintermänner. Ein Zeuge berichtete im Prozess, er sei von Schmitt gewarnt wor­den, etwas über die Strukturen des von ihm gegründeten »Deutschen Hochleistungs-Kampfkunstverband«zu verraten. Wer das tue, »der ist so gut wie tot«. Auch Mitglieder der GSG 9 haben dort trainiert. Gladio, ick hör‘ dir trapsen. Die Tötung von Şahin Çalışır auf der A57 zwischen Neuss und Meerbusch ein halbes Jahr vor dem Anschlag am 27.12.1992 geht mit auf das Konto des Schmitt-Schülers Lars G. Schoof. Die eingangs erwähnte Sibel erinnerte vor eineinhalb Jahren an Şahin. Dessen Cousin erklärte dort: »Es gibt in Deutsch­land keine Neonazistruktur, wo nicht mindestens ein V-Mann der Sicherheitsbehörden mit dabei ist.« (Orhan Çalışır)

Das Konzept »autonomer [oder freier] Kameradschaften« wie dem »Thüringer Heimatschutz« sowie der einsamen Wölfe, das sich in Bönhardt und Mundlos verwirklicht hat, war bereits in der westdeutschen »Nationalistischen Front/Nationale Einsatzkommandos« angelegt.

Das sollten nicht die einzigen Parallelen bleiben, die sich im »NSU«-Skandal wiederholten. Gelernt hatte man aus den Solinger Morden offenbar nicht. Bezeichnend war vor allem auch der zynische Versuch, die Täter im Opferumfeld zu suchen.

Schließlich begegnete einem*r auch in jenem Prozess »das Lachen der Täter« (K. Thewe­leit) als bestimmendes Moment faschistischer Mörder seit jeher. Es war und ist die Tötungslust derer, die das Leben der anderen verachten, und das sind bei den (Neo-)Nazis im Kern immer dieselben »Opfergruppen«, jene, die sich dann auf dem Appellplatz wieder­fanden oder gar nicht mehr.

Für uns kann das heute nur bedeuten, uns ganz genau anzuhören, was die Überlebenden, Angehörigen, Betroffenen, Freund*innen, Verbündeten wie Zeitzeug*innen sagen, und dies in unserer gemeinsamen Kultur und Politik umzusetzen, auch um die in der BRD tief ver­wurzelte »Unfähigkeit zu trauern« (Mitscherlichs), die mit dem Lächeln der Täter*innen eng verwoben ist, überwinden zu können. Es begegnen uns historisch wie aktuell immer diesel­ben Tätertypen. Es sind oftmals narzistisch gekränkte Eitelkeiten, soldatische Männer und auch Jugendliche, denen jedes Einfühlungsvermögen abgeht, weshalb sie völlig mitleidlos sind; es ist ihnen die Lust am Antun und auch Töten eigen. Auf diejenigen, die in Abwehr­haltung gehen oder schlicht schweigen, trifft dies in ähnlicher Weise zu, und dafür gibt es Gründe, die auch im deutschen Patriachat, in der Reaktion zu suchen und zu finden sind, verhärtet dann in den Freikorps der Weimarer Republik, verfestigt im Nazifaschismus und konserviert im postfaschistischen Nachkriegsdeutschland, neben dem die DDR tatsächlich eine rühmliche Ausnahme bot. »Tickende Zeitbomben« nennt Cihat Genç, der seine Schwestern nie kennenlernen konnte, solche Typen zutreffend. »Solange man so etwas nicht aktiv verhindern möchte, wird es immer geschehen«. Auch Fadime und Bekir Genç, deren Neffe Cihat ist, bekräftigen: »So etwas sollte sich nie mehr wiederholen«.

Hier gleicht der Appell der Angehörigen demjenigen der Naziverfolgten an die Jugend [3], die Verantwortung – aber an Solingen tragen wir auch Mitschuld! – zu übernehmen, damit es endlich ende. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!

»Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.«

Die Polizeien müssen dringend demokratisiert und entrassifiziert werden, um Faschisie­rungsprozessen in der Breite wie aber auch insbesondere in Eliteeinheiten wirksam begeg­nen zu können; dasselbe gilt für das Militär.

Die bundesdeutschen Geheimdienste sind unverzüglich aufzulösen! Deren Arbeit erfüllen bereits heute wissenschaftliche Forschungsinstitute und antifaschistische Recherchegrup­pen, die nicht in Kapitalverbrechen verstrickt sind, besser.

Die rassistischen Asyl- und Aufenthaltsgesetze müssen abgeschafft, das Asylrecht wieder­hergestellt werden.

Den antifaschistischen Grundkonsens kulturhegemonial zu leben, bedeutet auch, Rassis­mus und die Kämpfe dagegen in den schulischen Bildungskanon aufzunehmen; antirassisti­sche Bildungspolitik muss über die historische Unterrichtsvermittlung auch die Migrations­geschichte der sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter*innen erzählen. Begreifen, dass Rassismus tötet – von Staat und Nazis Hand in Hand. Deshalb kann es kein Vertrauen mehr in diesen Staat geben; fast überflüssig darauf hinzuweisen, dass die staatlicherseits sowohl nach der sogenannten (Selbst-)Enttarnung des »NSU« als auch nach dem Anschlag in Hanau mit genauso vielen Gemordeten (jeweils zehn!) versprochene lückenlose Aufklä­rung dieser Großverbrechen ausblieb – wie beim Oktoberfestattentat – wie immer, wenn die Dienste involviert sind. So wird die Strategie der Spannung fortgesetzt. Bestehen die »Stay-behind«-NATO-Truppen fort?

Dies beinhaltet und setzt eine andere, selbstbestimmte Erinnerungskultur voraus. Gebro­chen werden muss das ritualisierte Staatsgedenken, in dem den Betroffenen keine Teilha­be eingeräumt wird, und auch dies für sie den Anschlag nach dem Anschlag bedeutet. Wir alle hätten ihnen zuhören können, schon lange, und sie dabei solidarisch unterstützen, in ihrem Sinne, von ihnen lernend. Ihnen geht es in erster Linie um Selbstermächtigung, sich das gestohlene Leben zurückholen; erst danach kann es um ein »inklusives Wir« (Hacı Halil Uslucan) gehen. Oder wie es İbrahim Arslan in seiner Idee der Vielstimmigkeit der »Sym­phonie der Solidarität« beschrieben hat: »Mit uns, aber nie wieder ohne uns«.

Auch darin stimmen sie mit den Naziverfolgten überein: Wir müssen davon berichten, »im­mer und immer wieder« (Bejarano), denn das »Gedenken ist die reinste Form des Erinnerns« (H. K. Cholia / K. Jänicke).

Wenn es eingreifendes Erinnern gibt oder geben soll, dann jedenfalls ist das derzeit in Düs­seldorf und Solingen spielende Theaterstück »Solingen 1993« von Bassam Ghazi und Birgit Lengers (Düsseldorfer Schauspielhaus) als überaus gelungener Anfang zu sehen. [4]

»Ich weiß nicht, was genug ist, aber ich weiß auch, dass wir über den Preis reden müssen. Immer wieder, immer wieder« (Schauspielerin Rudayana Hussein).

 

Literatur zu Teil II:

analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, »Keine Sprache der Welt kann unsere Verluste beschreiben« – 30 Jahre nach dem rassistischen Brandanschlag in Solingen spricht Hatice Genç mit Birgül Demirtaş darüber, wie sie ihre Kinder verlor und warum das Erinnern für sie so wichtig ist, Nr. 693, 16.05.2023, S. 27 f., Hamburg (https://www.akweb.de/gesellschaft/keine-sprache-der-welt-kann-unsere-verluste-beschreiben – abgerufen am 22.05.2023).

Antifa-AG der Interventionistischen Linken Berlin (Hrsg.), Fünfundfünfzigzigtausend Schuss. – Nazis und rechte Netzwerke in den deutschen Sicherheitsbehörden, Berlin 2023: »Der Administrator des terroristischen Netzwerks Nordkreuz, Marco Groß, hortete 55.000 Schuss Munition. Das Netzwerk plante einen faschistischen Putsch.«

Esther Bejarano m. Sascha Hellen, Nie schweigen, Paderborn 2022.

Harpreet Kaur Cholia / Kristin Jänicke (Hrsg.), Unentbehrlich – Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, Münster 2021.

Birgül Demirtaş, »Da war doch was!« – Der Brandanschlag in Solingen 1993 – Hintergrundwissen und rassismuskritische Materialien für die pädagogische Praxis, Weinheim 2023; siehe hierzu auch: brandanschlag-solingen-1993.de.

Birgül Demirtaş, Adelheit Schmitz, Derya Gür-Şeker, Çağrı Kahveci (Hrsg.), Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag – Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung, Bielefeld 2023.

Semra Ertan, Mein Name ist Ausländer – Benim Adım Yabancı, Gedichte, Münster 2023.

Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern – Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1977, 2023.

Ingrid Müller-Münch, Biedermänner und Brandstifter – Fremdenfeindlichkeit vor Gericht, Bonn 1998.

Klaus Theweleit, Männerphantasien, Berlin 2019.

Ders., Das Lachen der Täter: Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust, Wien 2015/2021.

 

Anmerkungen:

[1] ZDF, 30.08.2022: www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/extremisten-im-staatsauftrag-102.html – ab Min. 30:35 – 11.04.2023.

[2NDR, 19.04. bzw. 07.06.2022: www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama_die_reporter/Der-V-Mann-Ein-linker-Spitzel-packt-aus,panorama17676.html bzw. www.ardmediathek.de/video/strg_f/v-mann-packt-aus-10-jahre-freunde-bespitzelt-oder-strg_f/funk/Y3JpZDovL2Z1bmsubmV0LzExMzg0L3ZpZGVvLzE3OTgyMzg – ab Min. 16:25 bzw. 16:35 – dto.

[3] http://mainz.vvn-bda.de/Artikel-Appell.php.

[4] www.dhaus.de/programm/a-z/solingen-1993 – am 22. April 2023.

 

Mehr von Tim Engels in den »Mitteilungen«: 

2023-05: Biedermeier und Brandstifter (I)

2020-12: Freiheit für Julian Assange!

2018-09: Konzern des Verbrechens