Auschwitzprozesse
Rudolf Hirsch, Rosemarie Schuder
Vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main begannen am 20. Dezember 1963 die Auschwitzprozesse. Da lag das Ende des Faschismus siebzehneinhalb Jahre zurück. Noch immer gibt es Mitglieder der SS-Wachmannschaften von Auschwitz und aus anderen Vernichtungslagern, die bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.
Schon seinerzeit hätten Justiz und Staatsanwaltschaft es vorgezogen, viele kleinere Einzelprozesse zu führen. Dass dies nicht geschah, ist vor allem ein Verdienst des früheren hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, Sozialdemokrat, Jude und KZ-Häftling, sowie des damaligen Generalsekretärs des Internationalen Auschwitz-Komitees Hermann Langbein. Sie bewirkten maßgeblich die Entscheidung des Bundesgerichtshofes von 1959, die Anklagen gegen Einzelpersonen in Frankfurt zusammenzuführen. Das gewährleistete nicht zuletzt internationale Öffentlichkeit.
Für die Zeugen, die Auschwitz überlebt hatten, waren die Aussagen emotional äußerst belastend. Die angeklagten SS-Bestien schützten sich gegenseitig, und deren Verteidiger zweifelten die Aussagen der Opfer mit blankem Zynismus an.
Die ausgesprochenen Strafen waren größtenteils milde. Es ist nicht erstaunlich, dass in Wikipedia im Kontext mit dem in der DDR 1966 gefällten Todesurteil über den Auschwitz-KZ-Arzt Horst Fischer von einem Schauprozess die Rede ist[1]. Wären solche SS-Bestien nicht in ihrer übergroßen Mehrheit in den Westen geflohen - sie hätten in der DDR alle ihren "Schauprozess" bekommen.
Rudolf Hirsch, der gemeinsam mit seiner Frau Rosemarie Schuder das Buch "Der gelbe Fleck" verfasste, berichtete als Gerichtsreporter der Wochenpost über die Auschwitzprozesse. Nachfolgend ein entsprechender Auszug aus "Der gelbe Fleck" (S. 717-722):
Doktor Fritz ter Meer war auch der Hauptinitiator der Kooperation mit der SS. Sie arbeiteten eng zusammen bei der Gründung des Konzentrationslager-Komplexes Auschwitz. Die Reichsregierung plante den Angriffskrieg gegen die Sowjetunion. Sie wußte, wie schwach die Rohstoffdecke war. Man brauchte die Abstimmung mit der I. G. Farbenindustrie. So rief das Reichswirtschaftsministerium Doktor Fritz ter Meer und Otto Ambros zu einer geheimen Sitzung, und man berichtete den Herren, die Reichsregierung brauche dringend eine höhere und größere Buna-Kapazität. Es müßten neue Buna-Fabriken gebaut werden. [...]
Sehr bald hatte Otto Ambros den geeigneten Standort gefunden, bei der Stadt Auschwitz, polnisch Oświęcim, in der heutigen Wojewodschaft Krakow, fünfzig Kilometer westlich von Krakow. Im Jahre 1900 wohnten dort sechstausendachthundert Einwohner, davon waren dreitausendsiebenhundert Polen jüdischer Religion.
Aber bereits am 18. April 1940 hatte der Schutzlagerführer Rudolf Höss - schon in Sachsenhausen als brutaler Schläger gefürchtet - das gleiche Gelände auf seine Brauchbarkeit für ein weiteres Konzentrationslager geprüft.
Am 27. April befahl Himmler, auf Grund der Empfehlungen von Höss, hier ein Konzentrationslager zu errichten, das sich an alte österreichisch-ungarische Kasernen anschließen sollte. Das Lager Auschwitz I, das sogenannte Stammlager. [...]
Schon am 1. März 1941 kam Himmler nach Auschwitz. Und gab neue Befehle. Das Stammlager sollte soweit vergrößert werden, daß dort dreißigtausend Häftlinge aufgenommen werden könnten. Sechs Kilometer weiter wurde ein neues Gebiet um das Dorf Birkenau abgesteckt. Hier sollte Höss ein riesiges Konzentrationslager für einhunderttausend Häftlinge und Kriegsgefangene errichten. Er gab auch den Befehl: Zehntausend dieser Häftlinge sind der Bauleitung der I. G. Farben zu überstellen, zum Aufbau des Buna-Werks im Lager Auschwitz III‚ Monowitz.
Um Monowitz wurden weitere Rüstungsbetriebe angesiedelt, die mit der Arbeitskraft von Häftlingen arbeiten sollten. Das wurde das große Geschäft der SS und der Industriekonzerne. Die Häftlinge wurden wie Sklaven vermietet.
Aus dieser Zeit gibt es einen Brief des Otto Ambros, vom 12. April 1942, den er aus Ludwigshafen an die Zentrale nach Frankfurt am Main schickte. Er berichtete dem Direktorium:
"Sehr geehrte Herren! In Anlage übersende ich Ihnen die Berichte über unsere Baubesprechungen‚ die regelmäßig wöchentlich einmal unter meiner Leitung stattfinden.
Sie entnehmen daraus die organisatorische Regelung und vor allem den Beginn unserer Tätigkeit im Osten.
Inzwischen fand auch am 7. April die konstituierende Gründungssitzung in Kattowitz statt, die im großen und ganzen befriedigend verlief. Gewisse Widerstände von kleinen Amtsschimmeln konnten schnell beseitigt werden.
Dr. Eckell (ein I. G. Farben-Techniker, der von der Zentrale für die Buna-Produktion an Görings Planungsstab überstellt wurde d. A.) hat sich dabei sehr bewährt, und außerdem wirkt sich unsere neue Freundschaft mit der SS sehr segensreich aus.
Anläßlich eines Abendessens‚ das uns die Leitung des Konzentrationslagers gab, haben wir weiterhin alle Maßnahmen festgelegt, welche die Einschaltung des wirklich hervorragenden Betriebs des KZ-Lagers zu Gunsten der Buna-Werke betreffen. Ich verbleibe mit den besten Grüßen, Ihr Otto Ambros."
Es gab eine Konferenz der Kommandantur mit den I. G. Farben-Ingenieuren Faust, Flöter, Murr und Doktor Dürrfeld. Man vereinbarte, im nächsten Jahr sollte die Zahl der zu vermietenden Häftlinge auf dreitausend steigen, bei Anforderung könnten der I. G. Farben auch noch mehr Häftlinge überstellt werden.
Die Arbeitszeit betrug im Sommer zehn bis elf, im Winter neun Stunden. Der Konzern zahlte an die SS pro Tag vier Reichsmark für jeden Facharbeiter, drei Mark für jeden Hilfsarbeiter. Später wurde der Preis für arbeitende Kinder festgelegt: Eine Mark und fünfzig Pfennige pro Tag.
Das also waren die Vereinbarungen, die Doktor Otto Ambros als sehr segensreich bezeichnete. Hatte er Kenntnis, daß am 23. April 1942 der Lagerkommandant Höss befahl, als Rache für die Flucht eines Häftlings zehn andere Kameraden ohne Nahrung in den Bunker zu stecken? Wußte er, daß sie alle bis zum 26. Mai dort verhungerten?
Ein solcher Mann, der den Bunker beaufsichtigte‚ in dem die Häftlinge verhungern mußten, ist mir bekannt. Er war angeklagt im ersten Auschwitz-Prozeß in Frankfurt am Main 1965. Er ging jeden Montag, Donnerstag und Freitag mit Aktentasche und Butterbrotpaket zu seinem Prozeß wie zu einer geregelten Bürotätigkeit und beteiligte sich schläfrig an der Verhandlung. Er hieß Schlage und war Arrestführer im Strafbunker in Auschwitz gewesen. Ein holländischer Leutnant der niederländischen Marineinfanterie, Van Velsen, hatte ihn erkannt und ausgesagt, daß auch er bei ihm im Bunker gesessen habe. Und er wußte, nebenan gab es einen Stehbunker, da wurden Häftlinge eingesperrt, ihnen wurden keine Lebensmittel gegeben, sie sind dort unter Qualen verhungert und verdurstet. Der Zeuge van Velsen hatte den Todeskampf eines der Verhungerten selbst gehört. Er war dabei, als der zu Tode Gequälte mit Haken aus dem Bunker herausgezerrt wurde.
Der Vorsitzende des Schwurgerichts fragte diesen Herrn Schlage: "Gab es im Arrestbau im Block 10, dort, wo Sie Arrestführer waren, einen Stehbunker?"
"Ich kann mich nicht daran erinnern."
"Und waren Sie als Arrestführer verantwortlich, daß die Gefangenen Essen bekamen?"
Der kleine, so unscheinbar aussehende Mann neben mir sagte: "Ich habe mich nicht darum gekümmert."
Das war selbst dem sehr zurückhaltenden Vorsitzenden, Landgerichtsdirektor Dr. Hofmeyer, zu viel. "Aber das war doch als Arrestführer Ihre Aufgabe."
"Nein", sagte Schlage, "darum habe ich mich nicht gekümmert." Um das Essen habe sich nur ein Häftling Jakob gekümmert, der soll früher einmal Trainingspartner von Max Schmeling gewesen sein, er ist verschollen, und Schlage versuchte, alle Verantwortung nach unten abzuschieben.
"Aber Sie haben doch gehört, daß in Ihrem Arrestbau, den Sie zu beaufsichtigen hatten, Menschen verhungert sind."
Da sagte dieser jämmerliche Mensch, direkt neben mir, etwas, und das ganze grelle Tageslicht des westdeutschen Alltags schien in den verdunkelten Saal. Er sagte: "Anscheinend hat ein Befehl vorgelegen."
Und in der Mittagspause verließ Schlage das Rathaus am Römerberg, dort, wo im Anfang der erste Auschwitz-Prozeß geführt wurde, ging in eine nahe gelegene Bierstube und packte sein Butterbrot aus.
Wie es wirklich in Auschwitz zugegangen war, hätte ein so erfahrener Mann wie Dr. Otto Ambros sehen müssen, sehen können, wenn er hätte sehen wollen. Er aber sah nur die Rechnung, den Pachtpreis für die gelieferten Konzentrationslager-Häftlinge‚ Facharbeiter vier Mark, Ungelernte drei Mark. Der hochgebildete Chemiker bezeichnete es: "der wirklich hervorragende Betrieb des KZ-Lagers". Aber er fügte auch an: "Zu Gunsten der Buna-Werke". Es wurde bei der günstigen Arbeitsmarktlage ein weiteres Werk geplant, das Treibstoff durch Kohleverflüssigung herstellen sollte. Diese großartigen Bedingungen für gewinnbringende Produktion mußten ausgenutzt werden.
Es spielte für Doktor Ambros keine Rolle, daß die im Buna-Werk beschäftigten Häftlinge aus dem sieben Kilometer entfernten Stammlager Auschwitz zu Fuß zur Arbeit kommen mußten. Er bemerkte wohl, im Winter 1941/42, daß der Zustand dieser Häftlinge erbärmlich war.
Am 22. Juni 1941 wurde die Sowjetunion überfallen.
Höss wurde zu Himmler bestellt. Der Tag im Juni ist nicht mehr genau auszumachen. Aber im Juni war es. Er bekam den Auftrag, die massenweise
Im Juli bestimmte Himmler die Einrichtung eines weiteren Vernichtungslagers in Majdanek, in der Nähe von Lublin. Und in diesem Monat wurden einige hundert sowjetische Kriegsgefangene in Auschwitz in einer Kiesgrube mit Kleinkalibergewehren erschossen und mit Hacke und Schaufel erschlagen.
Im August ging man zum chemischen Mord über. Kranke und arbeitsunfähige Häftlinge wurden durch Phenol-Spritzen ermordet. Der Haupttäter dieser grausigen Methode, der SS-Mann Klehr, stand später in Frankfurt am Main vor Gericht.
Am 5. September wurde ein Produkt der I. G. Farben zum erstenmal verwendet, geliefert von der I. G. Farben - Tochtergesellschaft Degesch‚ der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung: das hochgiftige Gas Zyklon B. Es wurde in Kristallen in den Bunker geschüttet. Am Tag darauf mußte die SS feststellen, das Quantum hatte nicht ausgereicht. Einige der Opfer atmeten noch. Man schüttete weiteres Zyklon B in den Bunker.
Die "Mitteilungen" dokumentierten im Heft 10/2008, S. 10-14, einen Auszug aus den Prozessberichten des ersten Auschwitz-Prozesses von Rudolf Hirsch ("Um die Endlösung", 1982), mit einem aktuellen Vorwort von Rosemarie Schuder-Hirsch.
Anmerkung
[1] de.wikipedia.org/wiki/Horst_Fischer_(Arzt), zuletzt geändert am 21. Oktober 2013, 16:39 Uhr.