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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Aus den Prozeßberichten des ersten Auschwitz-Prozesses

Rudolf Hirsch und Rosemarie Schuder-Hirsch

"Mit Blick auf den 20. Jahrestag des Mauerfalls und der friedlichen Revolution", so heißt es im Tagesspiegel vom 14.09.2008, "setzt sich die CDU für eine verstärkte Aufklärung über das DDR-Unrechtsregime ein." Sie wendet sich gegen ein Geschichtsbild, "das die DDR als sozialpolitisches Großexperiment und nicht als menschenverachtendes totalitäres System zeichnet." Wir meinen, es ist menschenverachtend, daß in der Alt-BRD 18 Jahre bis zum 1. Auschwitz-Prozeß vergingen, wie diese Prozesse verliefen und mit welchen milden Strafen sie für viele Mörder endeten. Wir dokumentieren in diesem Heft aus den im Jahr 1982 erstmals veröffentlichten Prozeßberichten Rudolf Hirschs "Um die Endlösung"(1) mit einem aktuellen Vorwort von Rosemarie Schuder-Hirsch.

Der bunte Schleier

Ende des Jahres 1963 begann in Frankfurt am Main der Erste Auschwitz-Prozeß. Rudolf Hirsch, bekannt als "Zeuge in dieser Sache" durch seine Gerichtsberichte in der "Wochenpost", nahm an den Verhandlungen teil und schrieb über den Ablauf des Verfahrens, das bis zum Jahr 1965 dauerte, zweiundfünfzig Artikel. Seinem ersten Bericht gab er die Überschrift "Sie weben den Schleier". Er stellte fest: "Es hängt ein Schleier über diesem Prozeß. Kein gnädiger. Der Vorsitzende, der turnusmäßig die Verhandlungen des Schwurgerichts über die 22 Angeklagten führen sollte, wurde abgelehnt und mußte zurücktreten, weil seine Schwägerin Opfer der Nazis wurde." Es hieß, er sei voreingenommen und könne den Angeklagten nicht zugemutet werden. Auch gab es im Vorfeld des Prozesses seitens der Verteidiger von Angeklagten, die als SS-Angehörige ihre Verbrechen in Auschwitz verübt hatten, Einwände gegen die Zulassung von Professor Friedrich Karl Kaul als Nebenkläger; sie fanden belastend, daß der Rechtsanwalt aus der DDR kam. Doch schließlich mußte nach längerem Zögern das Gericht seinem erneuten Antrag auf Zulassung doch stattgeben. Hirsch fragte am Ende seines ersten Artikels über den Auschwitz-Prozeß: "Und warum das alles? Es geht um den Schleier, alles soll gnädig in das Dunkel des Verzeihens und Vergessens gedrängt werden. Es soll ‚weich’ verhandelt werden. Nur nicht zu stark hineinleuchten in die Mord- und Leichenverwertungsindustrie. Der gute Name von westdeutschen Industrieführern. Der gute Name von Bundeswehroffizieren. Der gute Name von Landgerichtsdirektoren. Der gute Name von Polizeidirektoren. Der gute Name von medizinischen Kapazitäten. So viel steht auf dem Spiel. Denn sie haben am Mord verdient. Und sie weben den Schleier."

Hirsch untersuchte in seinen Berichten die Verhaltensweisen der Prozeßbeteiligten. So schilderte er auch den Auftritt eines Zeugen, den er am 13. März 1964, dem 26. Verhandlungstag, erlebte. Der 53-jährige war damals als SS-Hauptsturmführer im Reichskriminalamt, einer Unterabteilung des Reichssicherheitshauptamtes, mit einer Sonderkommission in das Lager Auschwitz gekommen, um Korruptionsvergehen der SS-Führer zu untersuchen, Effektenunterschlagungen. Er behauptete bei seiner Aussage, die er am Ende auch noch bei Gott dem Allmächtigen eidlich beschwor, von den Morden habe er nichts gesehen, das sei eben nicht sein Ressort gewesen. Jedoch habe er dort bei seinem Aufenthalt auch festliche Stunden mit seinen SS-Kameraden verbracht. Hirsch stellte fest: "Sie feierten Weihnachten zusammen unter dem Zyklon-B-Geruch, unter dem Krematoriumsrauch von Auschwitz-Birkenau. Dieser SS-Mann, der von allem nichts gewußt haben will, ist heute Kriminalhauptkommissar in meiner Heimatstadt, in Krefeld." Nachdem sein Bericht "Der Kriminalhauptkommissar von Krefeld" in der "Wochenpost" erschienen war, erfuhr dieser Beamte eine mit seiner Beförderung verbundene Versetzung nach Düsseldorf.

Gegenwärtig, nach dem Ende der DDR vor fast 20 Jahren, scheint es, als sei der Schleier bunter geworden. Mit einem neu eingearbeiteten Gleichsetzungsmuster wirken Webmeisterinnen und Webmeister abermals für das Verdrängen der Schuld aus der Nazizeit. Sie benutzen für ihren Schleier die Schablone mit den zwei unterschiedslos übereinstimmenden Diktaturen. Aber es gilt auch für heutige Betrachter der Zeitumstände die Mahnung von Leopold Zunz (1794–1886), dem Begründer der Wissenschaft des Judentums: "Denn die Sprache ist die erste Freundin, die, sich herablassend, uns in die Stege der Wissenschaft leitet, und die letzte, zu der wir sehnend zurückkehren. Sie allein kann der Vergangenheit den Schleier abreißen. Sie allein kann die Gemüter für die Zukunft vorbereiten." In unserer Gegenwart, 45 Jahre nach dem Beginn des Ersten Auschwitz-Prozesses, wird dringender denn je die Hilfe der ersten Freundin, der Sprache, gebraucht: Für das Abreißen des bunten Schleiers. Und für das Aufstehen gegen Dummheit und Gewalt und gegen das Versinken in Geschichtslosigkeit.

Rosemarie Schuder-Hirsch, September 2008

Blätter eines vergrabenen Buches

Dr. Otto Wolken ist klein und schmal, sein Haar fahl-blond, eine dicke Brille überspannt seine etwas müden, schwachen Augen. Seine Stimme klingt weich und liebenswürdig mit starkem Wiener Akzent. Der heute Sechzigjährige erscheint als erster der dreihundert Zeugen, die im Frankfurter Auschwitz-Prozeß vernommen werden sollen.

Er hat viel gesehen, er hat viel aufgeschrieben. Dr. Wolken war als Häftling in Auschwitz. Zur Nummer geworden: 128.828.

"In Auschwitz", so sagt er, "geschahen Wunder. Und nur durch ein Wunder habe ich überlebt." Er ist einer der wenigen von den Millionen Menschen, die durch das Höllentor, in den Vorhof zum Industrietod gerieten und verschont blieben. An zwei Tagen, am 24. und am 27. Februar 1964, gibt Dr. Wolken Antwort vor dem Schwurgericht im "Römer".

"Mir sind die Angeklagten hier völlig gleichgültig. Ihr Schicksal interessiert mich nicht. Mir geht es um die geschichtliche Wahrheit, und deswegen werde ich all das sagen, was ich erlebt habe. Ich war bei der Selektion, ich war schon durch die Daumenbewegung des SS-Arztes auf die Seite überstellt worden, wo die standen, die sofort vergast werden sollten. Da trat ein Mann auf mich zu; er hatte mich sprechen hören. ‚Woher bist du?’ – ‚Aus Wien’, sagte ich. ‚Also ein Landsmann, ich bin nämlich aus Linz. – Was bist du von Beruf?’ – ‚Arzt’. Der Mann versprach, mich herauszuholen und holte mich heraus."

Das war das erste Wunder nach der Meinung Dr. Wolkens; denn für ihn war der Tod geplant. Er ist Jude, Mitglied der Sozialistischen Partei Österreichs, aktiver Kämpfer des Republikanischen Schutzbundes gewesen, Ausbilder bei den Arbeitersamaritern.

Dr. Wolken wurde als Häftlingsarzt in die sogenannte Ambulanz im Quarantäne-Männerlager Auschwitz-Birkenau eingeteilt.

Auschwitz-Birkenau, das Konzentrationslager, das mit mehr als hunderttausend Häftlingen belegt war. Dort lag auch jene Todesrampe, an der Tag und Nacht Eisenbahnzüge mit Menschenfracht ankamen, wo SS-Ärzte Selektionen machten und die Alten, Schwachen, die Kinder, sofort in die danebenstehenden Gaskammern schickten. Das übrige war ein riesiges Arbeitslager. Von hier aus wurde das Nebenlager Auschwitz-Monowitz mit Menschenmaterial beliefert, mit arbeitsfähigen Menschen, für die Buna-Fabriken der IG-Farben und anderer Rüstungswerke, die sich wie Geier um das Todeslager angesiedelt hatten. Auch die Firma Friedrich Krupp in Essen hatte wegen des so billigen Menschenmaterials ein Werk bei Auschwitz errichtet.

Die Verantwortlichen beider Großkonzerne und aller Rüstungswerke wußten, was in Auschwitz geschah. Sie hatten ihre Generaldirektoren hingeschickt und alles für gut befunden.

Es liegt ein Durchschlag einer Rechnung über einen Betrag von 466.850 RM vor, zahlbar auf das Konto des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes Amt D IV Oranienburg bei der Reichsbankstelle Berlin-Charlottenburg oder auf das Postscheckkonto Berlin Nr. 11.156. Gemäß dieser Aufstellung waren zu entrichten für 37.080 Facharbeiter 4 RM pro Tag und für 98.220 Hilfsarbeiter 3 RM pro Tag, daneben noch Zahlungen für sogenannte Halbtagsarbeit. Die Rechnung ging an die IG-Farben Frankfurt am Main. Elf Stunden Arbeit täglich wurden geleistet bei den Buna-Werken in Monowitz. Es gab keine Sonntage, keine freien Tage. Waren die Arbeiter nach wenigen Monaten ausgepumpt, kam ein SS-Arzt und machte eine Selektion, und die Geschwächten – im SS-Jargon die Muselmänner – kamen in die Gaskammer, deren Gas von einer Tochtergesellschaft der IG-Farben geliefert wurde. Und die SS fing in ganz Europa Widerstandskämpfer, Juden, Roma und Sinti, Zigeuner genannt, Polen, Jugoslawen, Russen, Ukrainer.

Auschwitz, das war kein Wahnsinn; Auschwitz hatte System. Niemals in der Geschichte der kapitalistischen Industrie wurde so "rentabel" gearbeitet, wurden solche Gewinne erzielt. Es gibt eine genaue Kennzeichnung: "Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; zwanzig Prozent, es wird lebhaft; fünfzig Prozent, positiv waghalsig; für hundert Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; dreihundert Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens." Karl Marx hatte dieses Wort des englischen Gewerkschaftlers P. J. Dunning zur Bestätigung seiner Erkenntnisse über das Wesen des Kapitals angeführt.

Das muß man wissen, wenn man die Aussagen Dr. Wolkens begreifen will.

Er erklärt als Zeuge: "In der Ambulanz hatte ich auch die Funktion eines Schreibers. Ich hatte die Totenbücher zu führen und das Buch, in dem die Überweisungen in den Häftlingskrankenbau festgehalten wurden. Und Listen über die von mir vorgenommenen Schutzimpfungen. Auf diesen machte ich auf eigene Faust bestimmte Zeichen und Abkürzungen, wie viele Häftlinge von jedem Transport vergast worden waren. Für den SS-Lagerarzt mußte ich einen täglichen, einen Wochen-, einen Monats-, einen Vierteljahres- und einen Jahresbericht zusammenstellen. Bei der Liquidierung des Quarantänelagers wurde der Befehl gegeben, alle schriftlichen Unterlagen der Schreibstube abzuliefern. Nachdem ich gesehen hatte, daß die Bücher ins Feuer geworfen wurden, beschloß ich, die Bücher und alle anderen Aufzeichnungen, die ich noch besaß, in eine Blechdose zu verpacken und beim Türpfosten meines Blocks zu vergraben. Da ich Auschwitz überlebte, konnte ich später die Aufzeichnungen wieder ausgraben."

Aus diesen Blättern las er viele Stunden vor.

Der hundertste Tag

Er war ein Gezeichneter, mit dem Tintenstift war die Nummer auf die Brust geschrieben. Er war schon von einem SS-Arzt selektiert, zusammen mit sechzig Kameraden, bestimmt für die Gaskammer. "Wir wußten alle, das war die Selektion. Ich war in möglichst strammer Haltung vor dem Arzt angetreten." Es hatte ihm nichts genutzt, der Arzt hatte ihn mit dem Daumen zum Tode verurteilt.

Das berichtet Max Kasner, in Teplice geboren, deutsch sprechend, jüdischen Glaubens. Er wohnt heute noch in Teplice, ist fünfzig Jahre alt, ein schmaler Herr mit blondem, etwas borstigem Haar, der erste Zeuge am hundertsten Tag des Prozesses, am 15. Oktober 1964.

"Ich weiß heute nicht mehr, warum ich es tat – ich war in ebenso strammer Haltung zu meinen todgeweihten Kameraden hinübergegangen auf die rechte Seite der Baracke. Zufällig hatte das der SS-Arzt gesehen: ‚Halt, der Mann kann ja noch arbeiten.’ Und so kam ich als einziger meiner Gruppe mit dem Leben davon."

Er wurde zum Krankenblock zurückgeschickt, von dort war er gekommen, und hier sagte ihm ein Pfleger: "Schau durchs Fenster, jetzt siehst du etwas, was du noch nie gesehen hast!" Und er sah die Leichen seiner Kameraden, alle, mit denen er noch vor wenigen Stunden angetreten war. Sie waren vergast, ermordet auf die Lastwagen geworfen.

Danach wurde Herr Kasner gezwungen, selber Leichen aufzuladen. Das Schaurigste, was er in Auschwitz erlebt hat: Er mußte eines Tages aus den Hof des Bunkerblocks Leichen wegschaffen, etwa siebzig ermordete Frauen lagen dort. Noch im Tode, so sagt der Zeuge, waren sie schön. Es war, als hätte sich die SS die jüngsten und anmutigsten Frauen ausgesucht. Aber sie waren gräßlich verstümmelt. Grosse Stücke Fleisch waren aus ihnen herausgeschnitten. Der Hof, so berichtet Max Kasner, war schräg, die Kanalisation war verstopft, die Leichenträger mußten im Blut waten. "Meine Kehle war zugeschnürt. Ich war schon lange in Auschwitz. Ich hatte Hunger gelitten. An diesem schrecklichen Tag konnte ich kein Stückchen Brot herunterwürgen."

Was geschehen war, dafür hat Herr Kasner heute noch keine Erklärung. Aber bei den Akten liegt ein Bericht, der diese grauenvolle Begebenheit schildert. Die SS hatte in Auschwitz-Birkenau ein bakteriologisches Laboratorium; dort wurden Pilzkulturen auf Rind- und Pferdefleisch angesetzt. Aber die SS-Wachmannschaft wollte dieses Rind- und Pferdefleisch fressen, und deshalb belieferte sie das Laboratorium mit Menschenfleisch.

Wer hier in Auschwitz der SS angehörte oder ihr nur den kleinsten Handlangerdienst tat, der darf nicht mehr den Namen Mensch tragen. Auch ihre Nutznießer nicht. "Halt, der Mann kann ja noch arbeiten", diese Worte retteten Max Kasner. Der SS-Arzt hielt es noch für möglich, daß diese Arbeitskraft für drei RM von der SS an den IG-Farbenkonzern vermietet und dort verwertet werden konnte.

Nach seiner Tätigkeit als Leichentäger mußte Herr Kasner die Zementfundamente für das Buna-Werk der IG-Farben in Auschwitz-Monowitz legen. Dann kam er in eine Kohlengrube, ein Bergwerk der IG-Farben; Bunagummi wird aus Kohle und Kalk gewonnen.

"Es waren unmenschliche Bedingungen", berichtet Max Kasner auf die Frage von Rechtsanwalt Kaul, "denn die meisten Häftlinge waren vorher nie in einem Bergwerk gewesen. Ihnen wurden die schwersten Arbeiten zugewiesen. Zehn Stunden lang standen sie im Wasser. Es gab Unfälle", wie der Zeuge wörtlich sagt, "am laufenden Band." Einem seiner Kameraden wurde vom Förderband ein Fuß weggerissen. Er war für das Bergwerk der IG untauglich und kam, verstümmelt, sofort ins Gas.

Wie jeder aufmerksame Beobachter des Auschwitz-Prozesses erwartet hat, springt jetzt Rechtsanwalt Laternser auf. "Ich protestiere gegen eine weitere Befragung des Zeugen, denn diese Dinge haben nichts mit dem Eröffnungsbeschluß zu tun." Wichtiger als die Verteidigung der SS-Angehörigen ist für Herrn Laternser die Verteidigung der westdeutschen Großchemie. Wird an ihre Mitschuld, an ihre Mitverantwortung gerührt, dann weist Laternser das Gericht darauf hin, die Herren Krauch, Bütefisch, Ambros, ter Meer aus dem Spiel zu lassen. Laternser, das ist das schlechte Gewissen. Wann immer er schreit: "Das gehört nicht hierher", dann wird an die Untaten der Herren der Großchemie erinnert.

(1) Rudolf Hirsch: Um die Endlösung, Dietz-Verlag Berlin: 2001, ISBN: 978-3320020200, 320 S., ca. 10 € .