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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Auf Spurensuche nach Erich Mühsam (1878-1934)

Heide Hinz, Dresden

 

Es war mühsam, sich dem deutsch-jüdischen Schriftsteller, Publizisten, Mimen, Chronis­ten, Vaganten, Revoluzzer Erich Mühsam zu nähern und ihn zu erschließen. Es wurde mir ein ereignisreiches Unterfangen mit Geschichts-Unterricht.

In der DDR ist wohl einiges an Literatur von ihm verlegt, dieses jedoch nicht im regulären Unterrichtsstoff verortet gewesen. In meinem Bücherregal fand sich nur ein schmales Bändchen mit Bänkelliedern und Gedichten, herausgegeben vom Hentschel Verlag1976. Der Buchhandel erklärte: Es seien keine Titel von Erich Mühsam auf Lager, da die Nachfra­ge fehle. Zufällig geriet ich an einen Band aus der Jetztzeit mit ausgewählten Texten, gesammelt von Karla Dyck, darunter auch politische Verse von Erich Mühsam.

Um mehr über Erich Mühsam zu erfahren, forschte ich im belesenen Freundeskreis nach und hörte von einer Deutschlandfunk-Sendung unter der Schlagzeile »Liebe und Anarchie – eine lange Nacht mit Erich Mühsam«, wahrlich ein Fundus, Aufschlussreiches aus seinem Leben und vielseitigen literarischem Schaffen zu erkunden.

Erich Mühsam, ein umtriebiger Mensch. Seit früher Jugend anarchistisch veranlagt, was sich später ausprägen sollte. Seine Philosophie fußt vor allem auf der von seinem Freund Gustav Landauer, Theoretiker der Anarchismus-Ideologie.

Aber der Reihe nach: Schon als Kind, 11-jährig, dichtete Erich Mühsam Tierfabeln. Früh beobachtete er kritisch sein Umfeld. Zunächst besuchte er das Gymnasium in Parchim (Mecklenburg). Dort glossierte er eine Rede des Gymnasialdirektors, wurde wegen Preis­gabe von Schulinterna an die Sozialdemokratische Zeitung der Schule verwiesen.

Unterwegs im Kabarett auf kleiner Bühne

Auf elterliches Geheiß musste der Sohn bezüglich der Nachfolge für den Vater – ein äußerst strenger Mann – in die Apothekerlehre gehen, die er in Lübeck und Berlin absol­vierte. Seine Liebe jedoch galt dem künstlerischen Fach. Mit Versen und kleiner Prosa, später auch mit dem Drama, wollte er in die Öffentlichkeit. Das gelang, denn Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts war die kleine Kunstform, ausgehend von Paris, Mün­chen, Berlin und Wien populär, in der bereits die Boheme eine Vorreiterrolle innehatte. Die klassische kleine Bühne, zu der sich Mühsam hingezogen fühlte, das waren die »Brettl«, (es gibt sie heute noch in Berlin und Dresden), aber auch Kaffeehäuser und Kneipen, wo sich Künstler unterschiedlicher Genres, vorwiegend Schriftsteller, trafen und zu Vortragskünst­lern machten. Oft amüsierten sie sich aus dem Stand heraus selbst mit Liedern, Balladen, Gedichten und rezitierten diese auch für das sie umgebende bürgerliche Publikum. Zu den Akteuren zählten mit Erich Mühsam bekannte Schriftsteller wie Frank Wedekind, Else Las­ker-Schüler, Gustav Landauer, Ringelnatz, Alfred Kerr, Christian Morgenstern, Tucholsky, Brecht, Becher, Weinert. Die Manns schauten ebenfalls vorbei. Es gründeten sich bald namhafte Kabaretts, so das »Berliner Cabarett zum Peter Hille« und der »Hungrige Pega­sus« oder in München der »Simplizissimus«, »Simpl« genannt, und die »Elf Scharfrichter«. Dort kursierte unter den geistvollsten und beliebtesten Interpreten der bissige Kollegen­witz: »Was ist der Unterschied zwischen Mühsam und (Ludwig) Scharf? – Scharf dichtet mühsam und Mühsam dichtet scharf!« Ja, seine Lyrik war expressiv, sozial akzentuiert, darunter sein »Revoluzzer-Song«, ausdrucksstark interpretiert von Ernst Busch. Der »Oktoberklub« hatte das Lied wiederentdeckt.

In Wien gastierte Mühsam im »Nachtlicht« und in Paris im »Le Chat Noir«. Über zehn Jahre war er im literarisch-satirischen Kabarett unterwegs. Er beherrschte das aphoristische Gedicht wie kaum ein anderer. Nicht zu verschweigen, ihn trieb auch chronischer Geld­mangel dorthin, was selbst das Geldpumpen einschloss. Und er machte kein Geheimnis daraus, mit kleinen Leuten in Arbeiterzirkeln zu verkehren, »Zettel« zu verteilen und sich mit Hauspropaganda in Kleinarbeit für die Arbeiterbewegung zu betätigen. In seinem Gedicht »Lampenputzer« kritisierte er die Sozialdemokratie, die er verabscheute, weil sie sich nur für geringe Verbesserungen, nicht aber für den Streik, einsetzte und Burgfrieden schloss. Mit seinem »Lumpenlied« schockierte er das vornehme Publikum. Nicht zuletzt wegen der Honorarvergütung publizierte Erich Mühsam in einer Serie »Unpolitische Erinne­rungen« zwei Dutzend Lebensbilder von einigen der zuvor genannten Autoren in der Vossischen Zeitung, geschehen in liebenswerter, schräger Weise. Eigenständig gab er eine Zeit lang eine anarchistische Monatszeitschrift namens »Kain« heraus, in der er für »Gerechtigkeit und menschlichen Anstand« warb, ein ewiger Traum der Menschheit. Spä­ter, für nur kurze Zeit, war es »Fanal« mit politischen Analysen. Die Freiheit des Denkens ließ sich Mühsam von niemandem einschränken. Seine Grundsatzkritik richtete sich gegen Marx, dessen Lehre er in Kern und Wesen als bürgerliche Lehre bezeichnet. Er meinte, sie mag hinsichtlich der kapitalistischen Ökonomie richtig sein, er bleibe jedoch die Rebellion des Geistes ohne ideologische Bindung schuldig.

Revolutionär für kollektive Selbstverwaltung und herrschaftsfreies Leben

Eindeutig war die Haltung von Erich Mühsam gegen Nationalismus, Imperialismus und den Ersten Weltkrieg, lange bevor sich auch andere angesehene, einst im Vaterlandstaumel kriegsbegeisterte Schriftstellerkollegen zu Kriegsgegnern erklärten. Mühsam konnte sich dem aktiven Kriegsdienst entziehen, indem er seine Apothekerdienste anbot.

1917 vertrat Erich Mühsam die Auffassung, den Krieg mit der Revolution zu beenden. Als sich die Ereignisse mit der Novemberrevolution überschlugen, plädierte er auf einer Frie­denskundgebung in Bayern (seit 1909 in München ansässig) für die Ausrufung der Räte­republik. Er beriet sich mit Karl Liebknecht und den Bremer Linken zu entsprechenden Kampfmaßnahmen. Mit seiner »Räte-Marseillaise« forderte er: »Auf Arbeitsmann, Soldat und Bauer! Schafft Räte aus den eigenen Reihen«. Diese sollten sich von unten nach oben aufbauen. Als repräsentativer Mitbegründer am 7. April 1919 war Erich Mühsam Mitglied des Zentralrates der Räterepublik in Bayern. Bald darauf zerschlugen Freikorpsverbände die junge Republik, und im selben Jahr stand Erich Mühsam vor Gericht, sich mit der Aus­sage verteidigend: »Ich fühle mich nicht verantwortlich vor Ihnen, meine Herren, ich ver­antworte mich vor dem Volk.« Gemeinsam mit Ernst Toller wurde er wegen Hochverrats zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt. Infolge der Schikanen, denen er hier ausgesetzt war, ertaubte er auf einem Ohr.

Mit der sogenannten Hindenburg-Amnestie – auch Hitler-Amnestie genannt – kam Erich Mühsam 1924 auf Bewährung frei. Mit »Frei!« endet sein Tagebuch. Einen Tag danach, am 21. Dezember abends, wurde er bei seiner Ankunft auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin von einer Volksmenge, vorwiegend aus dem Arbeitermilieu, mit der »Internationale« empfan­gen. Er erklärte ihnen, Bewährung spreche er allein dem Proletariat zu.

Mühsam hatte sich trotz tiefer Krisensituation der Partei für die Mitgliedschaft in der KPD entschieden und engagierte sich zeitweise in der »Roten Hilfe«. Er war einer der leiden­schaftlichen Redner mit großer Zuhörerschaft. 1931 zeigt ihn ein Foto mit Wilhelm Pieck auf einer Berliner Kundgebung, die vor dem Faschismus warnte. Mühsam meinte, wenn die Arbeiterschaft die faschistische Gefahr nicht in letzter Stunde erkennt, sei sie verloren.

Das Agieren für die Kommunisten wurde ihm in anarchistischen Kreisen als Bruch vorge­worfen. Es war aber nicht der alleinige Grund, sich von der Partei wieder abzuwenden. Struktur und zentralistische Organisation, Orientierung auf das Beispiel Sowjetrussland widersprachen seiner Auffassung von einer anarchistischen Basisdemokratie. Den Einflüs­sen des russischen Anarchisten Bakunin, der nicht ohne ein gewisses Lager von Anhän­gern in der Kommunistischen Internationale eine Rolle spielte, und der die Diktatur des Proletariats ablehnte, folgte Erich Mühsam. Mühsam lehnte den Staat generell ab wie auch Wahlen und den Parlamentarismus, und zur Justiz meinte er, niemand habe das Recht, über einen anderen zu Gericht zu sitzen. Das entsprach seiner, der anarchistischen, Grund­idee von Gewaltlosigkeit, die schließlich mit Kant korrespondiert, dessen Theorie da lautet: Anarchie ist »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«. Immanuel Kant hielt Anarchie nicht für erstrebenswert. Mühsam, bei seiner Auffassung bleibend, gab das Ziel Sozialismus nicht auf. Er plädierte für den Weg von kollektiver Selbstverwaltung und sozialer Verantwortung für die Gemeinschaft. Es solle ein herrschaftsfreies Leben in Kommunen, Sozialen Gemein­schaften, wie in Siedlergemeinschaften, Konsumgenossenschaften, Sängervereinen, Sport- und Wandervereinen, Gemeinschaftsgärten etc. geben. Das verfolgten in gewisser Weise auch die »Freidenker«, bei denen sich Zwanzigtausend Anhänger versammelten.

Die KPD beförderte, unabhängig von Richtungsstreitigkeiten und -kämpfen in den 20er Jah­ren bis Anfang der 30er Jahre, das kulturelle Leben für die Arbeiterschaft mit der Bücher­gilde, mit Verlagen – darunter waren die vom roten Medienmacher Münzenberg, dieser gab die vielgelesene »Arbeiter-Illustrierten-Zeitung« heraus und publizierte für die »Rote Fahne« –, mit dem Malik-Verlag, mit dem avantgardistischen Arbeitertheater (Volksbühne). Für kurze Zeit zog Alltagskultur in die arbeitenden Massen ein, woran auch die Sozialdemokra­tie und die Gewerkschaften Anteile hatten. Familien konnten in freier Natur Kaffee kochen, politische Agitatoren mit ihnen Gespräche führen; Arbeiterbildungsvereine luden vor allem Jugendliche zu Schulungen, Vorträgen, Diskussionen ein.

»Anarchist, Sozialist und Kommunist«

Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg gab Erich Mühsam Spott und leichte Ironie in seiner Dichtkunst auf. Der Justizmord 1927 an den Anarchisten Sacco und Vanzetti, linke Einwan­derer nach Amerika, veranlasste ihn zum Drama »Staatsräson (Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti)«, uraufgeführt 1929 im »Novemberstudio« Berlin mit Ernst Busch in der Rolle von Vanzetti. Zuvor entstand 1921 in der Haft »Judas – Ein Arbeiterdrama«.

Die Weggefährten von Erich Mühsam charakterisierten ihn als gütig, selbstlos und unbe­stechlich. Sie meinten: »… Du hast mehr erlebt als die meisten: du solltest … deine Memoi­ren schreiben.« Er stellt das zunächst in Frage. »Welche meiner Erlebnisse gehen andere Leute an?« und urteilt dann: »… diejenigen, die nicht meine Erlebnisse alleine sind, sondern in Beziehung zur Zeitgeschichte, zur Kultur und zur Kennzeichnung der Gegenwart stehen.« Aktuell auch heute (Siehe die DDR-Geschichtsschreibung von Egon Krenz in drei Bänden: »Aufbruch und Aufstieg«, »Gestaltung und Veränderung«; erwartet wird der dritte Band).

Obwohl Erich Mühsam den Frauen zugetan war, heiratete er spät, 1915 Kreszentia Elfinger, Zenzl genannt, Kinder hatten sie nicht. Sie stand bis zuletzt an seiner Seite, gepeinigt von seinem und dem eigenen Schicksal. Zenzl behauptet, noch in der Nacht des Reichstags­brandes am 27./28. Februar 1933 sei Erich mit der Fahrkarte nach Prag in der Tasche ver­haftet worden. Er musste Gefängnisse durchlaufen und ist am 10. Juli 1934 im KZ Oranien­burg ermordet worden. [1] Das sei von Goebbels persönlich verfügt gewesen, der ihm die Räterepublik München nicht verzieh und gesagt habe: Dieses rote Juden-Aas muss krepie­ren. Am Tag zuvor, so die Erzählung, war Erich Mühsam in die Wachstube bestellt worden, wo ihm ein SS-Sturmbannführer befahl, bis morgen früh haben Sie sich aufzuhängen, sonst tun wir es. Seinen Leidensgefährten vermeldete Erich Mühsam, den Gefallen tue ich ihnen nicht. Am anderen Tag, fand man ihn gehängt, einen Selbstmord vortäuschend, auf der Latrine. Beim letzten Besuch ihres Mannes im KZ, er war arg zugerichtet, die blutige Wäsche hatte man ihr zum Waschen geschickt, sagte er: »Eins merke dir Zenzl, ich werde ganz bestimmt niemals feige sein«.

Kreszentia Mühsam emigrierte 1934 mit dem Nachlass ihres Mannes nach Prag, von dort 1935 nach Moskau, weil man ihr versprach, das Werk von Erich Mühsam herauszugeben. Jedoch, die Literatur wurde beschlagnahmt, Zenzl 1936 als angebliche Trotzkistin verhaftet und zu Zwangsarbeit in Arbeitslagern verurteilt. Erst 1954 konnte sie in die DDR ausreisen. Das literarische Erbe ihres Mannes wurde 1956 an die DDR ausgehändigt, allerdings blie­ben wichtige Teile zu ihren Lebzeiten verschollen. Eine Werkausgabe 1978 von »Volk und Welt« erlebte Zenzl nicht mehr.

Zu den bereits genannten Arbeiten von Erich Mühsam zählen Lesebücher: »Sich fügen heißt lügen«, »Das seid ihr Hunde nicht wert«, Gedichte und Aufsätze: »Trotz allem – Mensch sein«, »Sammlung 1898 bis 1928 – Gedichte, Prosa, Stücke«, verzeichnet in: Die Deutsche Nationalbibliothek.

Seit 1989 bemüht sich die Lübecker Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V. mit Literaturwissen­schaftlern und Historikern darum, das Leben, Werk und Wirken eines großen Dichters ins Heute zu holen.

In seiner Autobiografie schreibt Erich Mühsam: »Ich war Anarchist, Sozialist und Kommu­nist.«

Verwendete Quellen: Deutschlandfunk-Medienwiedergabe »Liebe und Anarchie – Eine lange Nacht mit Erich Mühsam«, 19. April 2018. – Dyck, Karla: Privatdruck. – Scheer, Regina: »Bittere Brunnen«, Peymann Verlag 2023. – Hösch, Rudolf: »Kabarett von gestern«, Hentschel Verlag. – Mühsam, Erich: »Es war einmal ein Revoluzzer«, Hentschel Verlag 1970. – Mühsam, Erich: »Soll man Memoiren schreiben?«, Essays, Limbus Verlag 2022. – Mühsam, Erich: »Der Loreleykasten«, Eulenspiegelverlag 1984. – Serke, Jürgen: »Die verbrannten Dichter«, Fischer TB Verlag 1980. – Mühsam, Erich: »Gesammelte politische Werke«, e-artnow 2022.

 

Anmerkung:

[1] Das KZ Oranienburg wurde 1934 in das KZ Sachsenhausen überführt. Wie das »nd« im März 2024 vermeldete, soll da, wo einst das KZ Oranienburg war, 2026 ein Wohnheim für 400 Polizeischüler fertig werden – makaber!

 

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