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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Achtzig Jahre später

Victor Grossman, Berlin

 

»Die Truppen der Alliierten landen in der Normandie!«

 

Wie diese Worte uns in der elften Klasse – vor achtzig Jahren – elektrisierten! Jeden Tag verfolgten wir die Änderungen an den Fronten und konnten darüber jubeln, wie die 1.200.000 Soldaten der Roten Armee bei den Faschisten durchbrachen, seit sechzehn Monaten zogen sie nun westwärts. Wir hörten wieder Ortsnamen wie Orscha, Bobruisk, Minsk: In einer erstaunlichen Offensive waren sie 300 km näher an Deutschland gestürmt! Gewiss, amerikanische, britische, polnische Soldaten waren in Italien bis Rom gekommen, aber auf der italienischen Halbinsel kaum weiter.

Wir in den USA wussten, dass viele unserer Soldaten in England waren; auch mein Cou­sin Jerry war dabei. Doch lange schien dort der Spruch aus dem Ersten Weltkrieg zu gelten: »Im Westen nichts Neues«. Als Hitlers Armeen noch ostwärts vordrangen, hat­ten besonders wir Linken um das Weiterleben des Landes gebangt, das viele von uns mit Hoffnung erfüllte. Seit mehr als zwei Jahren forderten wir in Flugblättern und Kund­gebungen: »Eröffnet eine zweite Front!«

Nun war es geschehen! Von mutigen Fotografen gedrehte Filme zeigten uns, wie die Männer aus den Booten stiegen und am Strand Schutz suchten, um dann weiter zu kommen. Wir holten Karten der Normandie, dann von Frankreich. Wir erfuhren auch von den französischen Partisanen, die aus den Wäldern unsere Truppen gegen die Nazis unterstützten. Also jubelten wir und bewunderten die Tapferen! Endlich würden die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition gemeinsam in Richtung Berlin ziehen. Endlich würde die Hauptlast nicht nur fast allein auf sowjetischen Schultern liegen.

Jahrzehnte später besuchte ich mit meiner Frau die große Festung, die Wilhelm der Eroberer in Caen bauen ließ, bevor er England unterwarf. Wir informierten uns über die langen, harten Kämpfe, die nötig wurden, um Caen im Juli 1944 als erste Stadt zu befreien – von England aus. Ebenfalls viele Jahre später hörte ich das auch von meinem deutschen Schwager Werner von der anderen Seite, denn er hatte in der Wehrmacht kämpfen müssen – bis er von amerikanischen Truppen bei Saint-Malo gefangengenom­men wurde.

Später erfuhr ich auch mehr über die Ardennen-Schlacht, wo mein Cousin Jerry im Dezember 1944 gefangengenommen wurde. Ihm erging es ganz anders als Werner. Jüdische Kriegsgefangene wurden aussortiert und zu Sklavenarbeit in ein Außenlager von Buchenwald transportiert, wo Jerry durch Hunger und Misshandlung gestorben ist. Die Alliierten kamen zu spät, um ihn und so viele andere zu retten. Doch den Elektro­draht um Dachau und Bergen-Belsen konnten sie endlich doch abreißen.

Jubel oder Zukunftssorgen?

Es war ein Triumph für die Menschheit, als, nach den großen Verlusten in den Ardennen und dann weiter östlich, sich schließlich sowjetische und amerikanische Soldaten auf dem Wrack einer Bahnbrücke in Torgau die Hände reichen konnten und keine Woche später eine rote Fahne über dem Reichstag flatterte und in Europa Schluss war.

Das war auch für mich persönlich bedeutungsvoll. Hätte der Krieg in Europa nur wenige Monate länger gedauert, wäre ich in die Armee eingezogen worden, mit ungewissem Schicksal. Ich hatte also allen Grund dankbar zu sein, und ich wurde später immer wie­der erbittert oder wütend darüber, wie zweckdienlich die Wahrheit vergessen, ja unter­schlagen wird, dass ein immens größerer Teil der Last und der ungeheuer tragischen Verluste auf den Schultern der Sowjetbürger lag, wie viele Millionen Söhne, Väter, Ehe­männer und Geliebte im Kampf starben, auch Millionen von Frauen und Kindern. Es gibt ja einige Leute, denen es daran liegt, dass man nicht an sie denkt und sich nicht an sie erinnert.

Viele Jahre später bekam auch ich ein volleres Bild von den verschiedenen Kräften, die damals hinter den Kulissen agierten. Drei Jahre vor der Normandie-Landung, als die Wehrmacht in der Sowjetunion ihren erhofften Blitzkrieg begann, sagte ein prominenter US-Senator: »Wenn wir sehen, dass Deutschland gewinnt, sollten wir Russland helfen, und wenn wir sehen, dass Russland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen, und auf diesem Wege lassen wir sie so viele wie möglich töten, wobei ich unter keinen Umständen Hitler triumphieren sehen will.«

Das war Harry Truman. Im April 1945 nach dem Tod von Roosevelt wurde er Präsident. Er blieb so lange entschlossen gegen den Faschismus wie der Krieg andauerte – ein Monat in Europa, fünf Monate in Asien, und so lange galt die UdSSR offiziell als Partner. Das galt auch für Churchill, der zwar alles, was nach Sozialismus duftete, immer gehasst hatte, doch klug genug war, gegen die gefährlichere, unmittelbare Gefahr Nazi-Deutschland im Bündnis zu bleiben und sogar um Hilfe zu bitten.

Während der Ardennenschlacht, am 6. Januar 1944, schrieb er persönlich an Josef Stalin: »Der Kampf im Westen ist sehr schwer, und das Oberkommando kann jederzeit große Entscheidungen verlangen. Sie wissen selbst aus eigener Erfahrung, wie beängs­tigend die Lage ist, wenn nach zeitweiligem Verlust der Initiative eine sehr breite Front verteidigt werden muss … Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, ob wir im Januar mit einer großen russischen Offensive an der Weichselfront oder anderswo rechnen können ... Es ist General Eisenhowers großer Wunsch und Bedürfnis, in groben Zügen zu wissen, was Sie zu tun gedenken, da dies offensichtlich alle seine und unsere wichtigen Entscheidungen beeinflusst …«

Am nächsten Tag antwortete Stalin: »Wir starten eine Offensive, aber im Moment ist das Wetter ungünstig. Dennoch hat das Hauptquartier des Oberkommandos angesichts der Stellung unserer Verbündeten an der Westfront beschlossen, die Vorbereitungen rasch abzuschließen und ohne Rücksicht auf das Wetter spätestens in der zweiten Januarhälfte große Offensivoperationen entlang der gesamten Zentralfront zu beginnen. Seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um die tap­feren Streitkräfte unserer Verbündeten zu unterstützen.«

Nur vier Wochen bevor Churchill Stalin um Hilfe bat und sie bekam, zogen britische Truppen in Athen ein, nicht etwa um Wehrmachttruppen zu bekämpfen – denn die von Kommunisten geführte Partisanenarmee hatte sie gerade in die Flucht geschlagen –, sondern um gerade diese Partisanen zu schlagen, um mit dem zurückgeholten König eine reaktionäre Herrschaft über Griechenland zu etablieren und Süd- und Osteuropa vom Süden her gegen sowjetischen Einfluss zu verbarrikardieren.

Also, während in den Ardennen britische Panzer und Flieger gegen die Nazis kämpften zielten andere auf 60.000 Anti-Nazi-Demonstranten – Republikaner, Sozialisten und Kommunisten – die friedlich zum zentralen Syntagma-Platz zogen. Am nächsten Tag griffen Flugzeuge ihre Häuser an.

Ja, hinter den Kulissen gab es ganz andere Überlegungen. Am 22. Mai 1945, zwei Wochen nach der deutschen Kapitulation, bekam Churchill einen teuflischen Plan vom britischem Stabschef General Ismay: Am 1. Juli könnten ca. 47 Divisionen britischer und US-Truppen, von ca. 100.000 wiederbewaffneten deutschen Soldaten unterstützt, gegen die Rote Armee im Bereich Dresden ziehen, mit der Hilfe von deutschen Kriegs­schiffen in der Ostsee.

Solche Pläne wurden als »reine Fantasterei« ohne jede »Aussicht auf Erfolg« gleich ver­worfen. Die kriegsmüden westlichen Soldaten, die oft die Roten Armisten als Verbünde­te und Kameraden ansahen, im Geist vom Treffen an der Elbe Ende April, hätten nicht mitgemacht.

Aber angesichts solcher späten Entdeckungen entsteht wieder die Frage: War unsere Begeisterung als 16-Jährige über den 6. Juni 1944 irreal? Hätten wir nicht eher Zukunftssorgen haben müssen?

O nein, auch im Rückblick nein! Denn trotz der Verluste von so vielen jungen Männern war das ein wichtiger Schlag gegen die Faschisten und führte in den folgenden Mona­ten mit zur Befreiung von Dachau, von Bergen-Belsen, gemeinsam mit den Partisanen von Frankreich, Italien, Jugoslawien und den anderen besetzten Ländern – und vor allem mit der Roten Armee – am Ende zur Befreiung Deutschlands von dem mörderi­schen Regime von zwölf Jahren. Damals spielte die Politik von Franklin Roosevelt, der trotz aller Widersprüche im Wesentlichen antifaschistisch war, noch eine Rolle.

Alle Funken kann man nie austreten

Erst nach seinem Tod im April 1945 kam die finstere Seite der westlichen Politik zur Geltung und zur vollen Macht. Vor allem: Die Rote Armee darf gar nicht zu viel befreien! Auch die Bewunderung so vieler Europäer für sie muss gebremst und umgedreht wer­den! Die Richtung galt erst recht dem wichtigsten Apfel, Deutschland! Wenn das nicht gelingt, wer weiß, was dann aus Europa werden kann! Harry Truman war sich mit Churchill und dann mit seinen Nachfolgern von der Labour Party darüber einig. Nach­dem der eine gefährliche Rivale beseitigt war und kurz danach der zweite, Japan, galt es, gegen den ganz anderen vorzugehen, der mit seiner Botschaft von einer profitfreien Gesellschaft besonders bedrohlich war – für England noch mehr durch seine Anregung und Unterstützung von Freiheitsbestrebungen in Indien, Burma, Malaysia, in Ostafrika, Westafrika, der Karibik. Das muss gestoppt werden! Und ähnlich sahen die führenden Amerikaner ihre Pläne zur ökonomischen Kontrolle und politischen Dominanz in Europa gefährdet, vielleicht gar auch in Lateinamerika.

Diese Politiker, Generale und Profiteure erblickten in den sonnenhellen Explosionen über Hiroshima und Nagasaki Hoffnungsstrahlen für ihre Ziele. Damals, nun Student an der Harvard-Universität, marschierte ich mit unserer linken Gruppe durch den Harvard-Campus, als wir gegen die Ehrung von Churchill, das Drohen mit der Bombe – damals noch ein Monopol – und gegen die Aufnahme des Faschisten Francisco Franco de­monstrierten. Doch wir Gegner dieser Politik wurden damals weniger; es zeigte sich schnell, dass die anderen stärker waren.

Zwar konnten sie nicht verhindern, dass viele Länder ihre Unabhängigkeit erkämpfen konnten. Und das baldige Ende des Atom-Monopols stellte eine Barriere für ihre unge­hemmte Expansion dar. Für etwa fünfundvierzig Jahre.

Doch dann, durch eine Kombination von geographischen und historischen Nachteilen, smart eingesetzter Strategie der alten und reihenweisen Fehlern der eigenen Kräfte, ist es ihnen gelungen, uns einen KO-Schlag zu versetzen, oder eigentlich mehrere. Eine seiner Nebenwirkungen war der Versuch, die Geschichte völlig zu verfälschen, damit Millionen glauben, nur sie allein, die Anhänger des freien Markts, die »Freien Unterneh­mertümler«, hätten damals als die Tapferen am Normandie-Strand gekämpft und gesiegt. Manche wurden soweit verwirrt, dass sie die Seiten vermengten – und wissen nicht, dass die USA, Großbritannien und die Partisanen damals nicht nur mit der Roten Armee verbündet waren, sondern von ihr auch Hoffnung und Inspiration holten – wie auch gelegentlich Hilfe bekamen.

Es ist für Linke eine lange Zeit von Enttäuschungen, von Defätismus, von Hoffnungs­losigkeit geworden – auch von Fehden unter den verbliebenen Oppositionellen. Nun. Ich denke zurück an eine Zeit vor der Strandstürmung, als es um jeden einzelnen der Kellerräume in den Resten der Stadt an der Wolga ging und als so viele im Rückzug von Manila und Singapur starben, um die kleinsten Funken am Leben zu bewahren.

Heute sehe ich an der Columbia- oder gar meiner alten Harvard-Universität, aber auch an der TU und der Humboldt-Universität in Berlin, wie Studenten tapfer Widerstand leisten und für die Rechte von Unterdrückten den Polizisten trotzen. Wie Auto-Arbeiter im südli­chen Tennessee den Herren von VW trotzen, wie die Baristas bei Starbucks oder die Gehetzten bei Amazon endlich Widerstand leisten, und wie Menschen im Sub-Sahel-Afri­ka die eigene Kraft entdecken. Ich bleibe stur dabei: Alle Funken kann man nie austreten, den menschlichen Weg niemals für immer verbauen. Wenn es darauf ankommt, können Menschen Mut, Solidarität und Zukunftsideale immer wieder entdecken. Das ist aller­dings jetzt dringender denn je, weil Klima-Tod, neue Faschisten und vor allem die Gefahr von Horrorwaffen zur Eile drängen. Es kommt darauf an, schnellstens zusammenzukom­men, um immer mehr Widerstand zu leisten. Hoffen wir, dass es gelingt!

 

Mehr von Victor Grossman in den »Mitteilungen«: 

2022-10: Meine siebzig Jahre und die vergangene DDR

2022-03: Guadalajara und heute

2021-01: Georgia – Martin Luther King, Biden und andere