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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

91 Atombomben auf Ost-Berlin!

Dr. Reiner Zilkenat, Hoppegarten

 

Die Planungen der USA für einen Nuklearkrieg  gegen den »sino-sowjetischen Block«

 

Mit dem erfolgreichen Test einer Atombombe am 29. August 1949 war es der UdSSR gelungen, das Kernwaffen-Monopol der USA zu brechen. Sie hatte damit die Voraussetzungen geschaffen, sich als zweite Nuklearmacht zu etablieren. Dieser Test traf die Militärs in den Vereinigten Staaten vollkommen überraschend. Sie waren davon überzeugt, dass die Sowjetunion frühestens in der Mitte der fünfziger Jahre imstande sein könnte, eine Kernwaffenexplosion durchzuführen.

»Atom-Diplomatie« und Atomkriegspläne der USA

Bekanntlich waren auf Befehl von Präsident Harry S. Truman die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. bzw. 9. August 1945 durch den Abwurf von Atombomben dem Erdboden gleichgemacht worden. Diese Demonstration militärischer Stärke hatte sich weniger gegen den bereits geschlagenen japanischen Militarismus als vielmehr gegen die UdSSR gerichtet, die von den maßgeblichen Kreisen des US-Imperialismus als der entscheidende Widerpart beim Versuch der Errichtung einer globalen politischen, ökonomischen und militärischen Hegemonie der Vereinigten Staaten angesehen wurde. Doch vor allem das große Ansehen der UdSSR in bedeutenden Teilen der Bevölkerung der USA wie in der gesamten Weltöffentlichkeit ermöglichte keinen abrupten Übergang zu einer von Feindschaft geprägten Politik gegenüber dem ersten sozialistischen Staat. Der Weg von der Kooperation im Kampf gegen den deutschen Faschismus zu einer globalen Konfrontation mit der Sowjetunion, die den entscheidenden Beitrag zur Niederwerfung von Nazideutschland geleistet hatte, war deshalb nach dem Tod von Präsident Franklin D. Roosevelt am 12. April 1945 zwar begonnen, aber erst im Jahre 1947 weitgehend vollendet worden. Von nun an war der Kalte Krieg, den der ehemalige britische Kriegspremier Winston Churchill am 5. März 1946 mit einer Ansprache in Fulton/Missouri [1] und der US-Präsident Harry S. Truman mit einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses am 12. März 1947 [2] öffentlichkeitswirksam eingeläutet hatten, die dominierende Tendenz in den internationalen Beziehungen. [3] Das »Wandeln am Rande des Abgrundes« (brinkmanship), die »Eindämmung des Kommunismus« (containment), ja selbst die Orientierung auf eine auch militärisch zu planende »Zurückdrängung« (roll back) und »Befreiung« (liberation) der sozialistischen und volksdemokratischen Länder in Europa und Asien standen zukünftig in Washington an vorderster Stelle der politischen Agenda.

Es galt in diesem Zusammenhang die Frage zu beantworten, in welcher Weise die exklusive Verfügung über Atomwaffen für die Durchsetzung der US-amerikanischen Interessen nutzbar gemacht werden könnte. Jetzt schlug die Stunde der »Atomdiplomatie«. [4] So machten z. B. die auf den zahlreichen Außenministerkonferenzen der vier alliierten Siegermächte agierenden Chefdiplomaten der USA den Vertretern der UdSSR in ihrem Auftreten unmissverständlich deutlich, dass sie »in ihrer Tasche die Atombombe« trugen. [5] Denn mit der neuen Massenvernichtungswaffe in der Hinterhand, so lautete die vorherrschende Denkungsart in Washington, verfügten die USA über ein wirksames Droh- und Erpressungsinstrument, um der UdSSR jederzeit ihren Willen aufzwingen zu können. Der prominente Bürgerrechtler und Pazifist A. J. Muste brachte im Juli 1946 die Folgen eines solchen Verhaltens in einem Brief an den späteren Außenminister John Foster Dulles präzise zum Ausdruck: »Ist es nicht so, dass wir von den Russen die Aufhebung des ›Eisernen Vorhangs‹ in Europa verlangen, während wir zugleich einen festen atomaren ›Eisernen Vorhang‹ errichten?« [6]

Aber es blieb nicht allein bei der »Atomdiplomatie«. Denn bereits 1945 begannen die Vereinigten Stabschefs der US-Streitkräfte, konkrete Atomkriegspläne gegen die Sowjetunion zu schmieden. Am Anfang stand eine Ausarbeitung vom 3. November 1945 mit der »Empfehlung«, im Kriegsfalle 20 Städte in der UdSSR atomar zu zerstören. [7] Es folgten unter anderem am 1. Mai 1947 die »Leitlinien für die strategische Planung«, in denen die Stabschefs der US-Streitkräfte zusätzlich die atomare Vernichtung der Ölfördergebiete und Industriezentren im Ural sowie im Kaukasus planten. Die dafür vorgesehenen Bomber sollten von Großbritannien, »im Gebiet Kairo-Suez« und von Stützpunkten in Indien starten. [8] Am 19. Dezember 1949 verabschiedeten die Vereinigten Stabschefs ihren Kriegsplan »Dropshot«, der unter anderem diesen ebenso interessanten wie die Kriegsziele der USA entlarvenden Gedanken enthielt: »Obwohl die anfängliche alliierte Strategie gegen die UdSSR das Schwergewicht auf die Durchführung schwerer atomarer und konventioneller Bombenangriffe gegen ausgewählte und ausschlaggebende Ziele sowie auf eine Fortsetzung der Luftoffensive bis zur sowjetischen Kapitulation legen sollte, ist es unklug anzunehmen, dass der vollständige Sieg allein durch die Luftoffensive errungen werden kann. Die Verwirklichung unserer Kriegsziele wird unzweifelhaft die Besetzung bestimmter strategisch wichtiger Gebiete mit größeren alliierten Landstreitkräften erfordern und könnte einen größeren Landfeldzug notwendig machen.« Und weiter: »Eine frühe Kapitulation der UdSSR könnte möglicherweise das Ergebnis eines atomaren Bombardements von solch durchschlagender Wirkung sein, dass die gesamte Nation dadurch gelähmt wird. Wenn dieser Fall eintritt, dann sollten Schritte unternommen werden, um eine Kapitulation der sowjetischen Truppen zu erreichen, sie zu entwaffnen und ein Kontrollsystem zu errichten, bevor das Land Zeit hatte, sich von dem Schock zu erholen.« [9] Diese und ähnlich formulierte Kriegsplanungen beinhalteten als Ausgangspunkt die absurde Annahme einer Aggression sowjetischer Truppen gegenüber den Staaten Westeuropas und den USA. Die sowjetischen Streitkräfte verfügten jedoch nach der Brechung des Atomwaffen-Monopols der USA noch für einen längeren Zeitraum über keine relevante Anzahl einsatzbereiter Kernwaffen. Vor allem mangelte es an geeigneten Trägermitteln. Verständlicherweise wird von vielen bürgerlichen Historikern vollkommen außer Acht gelassen, dass die UdSSR wenige Jahre nach dem Ende der faschistischen Okkupation mit ihren schrecklichen Folgen nicht annähernd über die ökonomischen Ressourcen verfügen konnte, um einen Angriffskrieg zu beginnen. Die Kriegsplanungen der USA müssen deshalb als das angesehen werden, was sie von Anfang an waren: Planspiele für einen Überraschungsangriff auf die UdSSR.

91 atomare Ziele in Ost-Berlin

In den 1950er Jahren war die Strategie der USA im Falle eines Krieges gegen die Sowjetunion von der so genannten »massiven Vergeltung« (massive retaliation) bestimmt. Das bedeutete, dass bereits zu Beginn von Kampfhandlungen alle verfügbaren Atomwaffen gegen die UdSSR und ihre Verbündeten, einschließlich der Volksrepublik China, eingesetzt werden sollten. Als Ziel wurde die völlige Zerstörung der »feindlichen« Staaten des »sino-sowjetischen Blocks«, ihrer militärischen, wirtschaftlichen, politisch-administrativen und wissenschaftlichen Zentren ebenso angestrebt wie die Erzielung größtmöglicher Verluste der Zivilbevölkerung durch vernichtende Atomschläge. Durch jüngst veröffentlichte Dokumente aus dem Jahr 1956 [10] wissen wir, welche Ziele in der Sowjetunion und in den Staaten des Warschauer Vertrages, darunter in der DDR, mit Hilfe von wie vielen Atombomben ausgelöscht werden sollten. Dabei gilt es, folgenden Gesichtspunkt zu beachten. Die Auswahl und die Anzahl der identifizierten Ziele war ursprünglich vom Strategic Air Command (SAC) vorgenommen worden. Die von der U.S. Army abgefeuerten Raketen, die mit ihren Kernsprengköpfen ebenfalls Ziele in der UdSSR, China oder anderen sozialistischen Ländern anfliegen sollten, sind bei den genannten Zielen in den jetzt frei gegebenen Dokumenten nicht in jedem Falle berücksichtigt worden. Gleiches galt für die Jagdbomber der U.S. Air Force sowie für die auf Flugzeugträgern stationierten Kampfjets.

In der DDR existierte eine Vielzahl von Zielen, von denen hier nur einige beispielhaft genannt werden sollen: In Bautzen wurden 7, in Kamenz, Bernau, Oranienburg, Borna und Velten jeweils 3, in Bernburg, Bad Schandau und Hennigsdorf jeweils 4, in Potsdam 8 und in Altenburg 5 Ziele für Atombomben identifiziert. Die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Die mit Abstand zahlreichsten Ziele wurden in Ost-Berlin ausgemacht. Nicht weniger als 91 Ziele in der Stadt und ihren Vororten waren vom SAC ausgewählt worden. Angesichts der bereits erwähnten Strategie, bereits am Beginn von Kampfhandlungen alle Kernwaffen einzusetzen, wären die Folgen für die DDR katastrophal gewesen. Nichts als eine auf unabsehbare lange Zeit atomar verseuchte Mondlandschaft wäre vom ersten sozialistischen deutschen Staat übrig geblieben, zumal jede einzelne der detonierten Atombomben über ein Vielfaches der Vernichtungskraft der Bomben von Hiroshima und Nagasaki verfügte. Selbstverständlich hätte die Perspektive vollkommener Zerstörung auch für das Schicksal Westberlins und für die dort stationierten Angehörigen der westalliierten Garnisonen gegolten. Die Detonationswellen, der Feuersturm und der radioaktive fall out hätten auch hier verheerende Folgen verursacht. Die Zielplanung des SAC sah neben militärischen Zielen wie Flugplätzen und Kasernen ausdrücklich vor, einen möglichst großen Anteil der Bevölkerung zu töten. Selbst Fabrikationsstätten von Penicillin wurden in die Zielplanung einbezogen. Wes Geistes Kind die Zielplaner und die Politiker in höchsten Regierungsämtern waren, vermag das folgende Zitat zu verdeutlichen: William Moore, Verbindungsoffizier der U.S. Navy beim SAC, notierte nach einem »Kriegsspiel« im Jahre 1954, bei dem der Abwurf von 600 bis 750 Atombomben über der UdSSR geplant wurde: »Mein Eindruck war schließlich, dass Russland innerhalb von zwei Stunden so gut wie nichts anderes als eine rauchende, verstrahlte Ruine sein würde.« [11]

Und die Potenziale der Sowjetunion?

Die UdSSR verfügte zum Zeitpunkt des soeben skizzierten Kriegsplanes des Strategic Air Command über ein nur geringes Arsenal von Atomwaffen und weit reichenden Trägermitteln. [12] Zwar wurde in Washington mit großem propagandistischen Aufwand eine »Bomber«- und eine »Raketen-Lücke« im Vergleich zu den Potenzialen der Sowjetunion behauptet. Diese angeblichen »Lücken« waren jedoch frei erfunden. Die Ergebnisse der Spionageflüge von U-2-Aufklärungsmaschinen sowie Informationen aus anderen Quellen bewiesen die Absurdität solcher Behauptungen. Am 21. September 1961 informierte der Geheimdienst CIA die Regierung der USA, dass die UdSSR lediglich über 10 bis 25 einsatzbereite Interkontinentalraketen verfüge und in den kommenden Monaten keine weiteren Raketen, die US-amerikanisches Territorium erreichen könnten, hinzukommen würden. Bislang war die Zahl dieser Waffensysteme von Washington jedoch mit 1.000 angegeben worden! 1956 wurde mit Verweis auf die »Bomberlücke« ein Großauftrag für die Produktion von Boeing-B-52-Langstreckenbombern ausgelöst, im darauf folgenden Jahr war der Hinweis auf die »Raketenlücke« der vorgeschobene Grund für den Start eines aufwendigen Programms zum Bau von Interkontinentalraketen. Dies alles geschah, obwohl bekannt war, dass die UdSSR erst 1956 damit begonnen hatte, die ersten Langstreckenbomber vom Typ TU-95 »Bear« in Dienst zu stellen und die wenigen Interkontinentalraketen bei einem Angriff außerordentlich verwundbar waren. Wegen ihrer Größe konnten sie nicht aus unterirdischen Silos abgefeuert werden. Außerdem mussten sie vor ihrem Start mit Flüssigtreibstoff betankt werden. Diese Betankung nahm längere Zeit in Anspruch, so dass sie bei einem überraschenden Erstschlag der USA ausgeschaltet werden konnten.

Die Weltherrschafts-Ambitionen der Vereinigten Staaten konnten sich ungeachtet aller Versuche, die UdSSR und ihre Verbündeten zu erpressen, in dem untersuchten Zeitraum nicht durchsetzen. Auch die von gewissen Militärs, darunter dem Befehlshaber des SAC und späteren Chef des Stabes der U.S. Air Force, General Curtis LeMay, vorgeschlagenen Pläne für einen Erstschlag gegen die Sowjetunion fanden kein hinreichendes Echo. Ihre Argumentation, man müsse die Sowjetunion militärisch besiegen, so lange es noch gelingen könnte, den größten Teil ihres Kernwaffenpotenzials durch einen Überraschungsangriff auszuschalten, blieb allerdings eine Konstante in den militärstrategischen Gedankenspielen und Planungen besonders aggressiver Exponenten des US-Imperialismus.

Es erhebt sich die Frage: Existieren auch in der Gegenwart derartig abenteuerliche Dokumente? Müssen wir befürchten, dass im Pentagon und vielleicht auch im Weißen Haus nach wie vor nicht nur in den Kategorien des Kalten Krieges gedacht, sondern auch geplant wird?

 

Anmerkungen:

[1]  Siehe Siegfried Prokop: Die Churchill-Rede in Fulton und der Ausbruch des Kalten Krieges, in: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE, Heft 3/2006, S. 25 ff.; Reiner Zilkenat: Die Ouvertüre zum Kalten Krieg – Churchills Fulton-Rede vom 5. März 1946, in: ebenda, Heft 3/2016, S. 8 ff.

[2]  Siehe David Horowitz: Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, Bd. 1, (West-) Berlin 1973, S. 61 ff.; Bernd Greiner: Amerikanische Außenpolitik von Truman bis heute. Grundsatzdebatten und Strategiediskussionen, 2. Aufl., Köln 1982, S. 21 ff.

[3]  Siehe Gerhard Keiderling: Der Mythos von der »sowjetischen Gefahr« und die Gründung der NATO, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 24. Jg., 1976, H. 10, S. 1093: »Das Jahr 1947 brachte eine grundlegende Wende in den internationalen Beziehungen der Nachkriegszeit.« Siehe vor allem zur historischen Bedeutung des »Wende-Jahres« 1947 die Arbeit von Rolf Badstübner: Clash. Entscheidungsjahr 1947, Berlin 2007.

[4]  Die nach wie vor am meisten anregende Studie zu dieser Thematik ist das Buch von Gregg Herken: The Winning Weapon. The Atomic Bomb and the Cold War, 1945-1950, New York 1980, bes. S. 69 ff.

[5]  Siehe ebenda, S. 45 ff. u. Helmut Wolfgang Kahn: Der Kalte Krieg. Bd. 1: Spaltung und Wahn der Stärke 1945-1955, Köln 1986, S. 55 f.

[6]  Zitiert nach ebenda, S. 149, Übersetzung von mir – R.Z.; Im Original lauteten die Zeilen: »Are we not asking Russia to raise the ›iron curtain‹ /in Europe/ at the same time that we keep the atomic curtain down tight?«

[7]  Siehe Bernd Greiner u. Kurt Steinhaus: Auf dem Weg zum 3. Weltkrieg? Amerikanische Kriegspläne gegen die USA – Eine Dokumentation, 2. Aufl., Köln 1981, Dok. 3, S. 74 ff.

[8]  Siehe ebenda, Dok. 10, S. 109 ff., bes. 111 u. 114 f.

[9]  Ebenda, Dok. 25, S. 191 ff. Zitate: S. 207 u. 209.

[10]  Siehe nsarchive.gwu.edu/nukevault/ebb538-Cold-War-Nuclear-Target-List-Declassified-First-Ever/ (letzter Abruf: 18. 3. 2017).

[11]  Zitiert nach: Barbara Moran: The Day We Lost The H-Bomb. Cold War, Hot Nukes, and the Worst Nuclear Weapons Disaster In History, New York 2009, S. 18. Übersetzung von mir – R.Z.; Im Original: »The final impression was that virtually all of Russia would be nothing but a smoking, radiating ruin at the end of two hours.« Allein in Moskau sollten 149 Ziele atomar angegriffen werden!

[12]  Das Folgende nach: Helmut Wolfgang Kahn: Der Kalte Krieg. Bd. 2: Alibi für das Rüstungsgeschäft 1955 bis 1973, Köln 1987, S. 66 ff.; Rolf Steininger: Der Kalte Krieg, Frankfurt a. M. 2003, S. 108 f.; The Cold War 1945-1991. Edited by Benjamin Frankel, Vol.3, Detroit-Washington, D.C.-London 1992, S. 200.

 

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2017-03:  KZ-Häftlinge als billige Arbeitssklaven

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