75. Jahrestag der Republik Indien
Dr. Andrej Reder, Berlin
Verfassung und Realität
»Wir, das Volk Indiens, feierlich entschlossen, Indien als souveräne, demokratische Republik zu konstituieren und allen seinen Bürgern soziale, wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit, Freiheit des Denkens, der Meinungsäußerung, des Glaubens und der religiösen Verehrung, Gleichheit der rechtlichen Stellung und der Möglichkeiten zu sichern und unter ihnen die Brüderlichkeit zur Wahrung der Würde des Einzelnen und der Einheit der Nation zu fördern, nehmen an, erlassen und geben uns hierdurch in unserer Verfassunggebenden Versammlung am heutigen 26. Tag des Monats November 1949 folgende Verfassung.« [1| Diese Einlassung wird dem opferreichen antiimperialistischen Freiheitskampf des indischen Volkes gegen die Kolonialherrschaft gerecht.
Ein Redaktionsausschuss unter Leitung des bekannten Rechtsanwaltes und Gelehrten B. R. Ambedkar legte bereits im Februar 1948 einen Entwurf der Verfassung vor. Die Verfassunggebende Versammlung (Constituent Assembly of India) unter Leitung des ersten Präsidenten des unabhängigen Indiens Rajendra Prasad verabschiedete den endgültigen Verfassungstext, der nach Unterzeichnung durch Jawaharlal Nehru, den ersten Premierminister, am 26. Januar 1950 in Kraft getreten ist. Mit mehr als 400 Paragrafen ist die indische Verfassung eine der umfangreichsten Grundgesetze der Welt und bildet den Rahmen für das Staatswesen des bedeutendsten Landes Südostasiens. Mit Gesetz vom 18. Dezember 1976 wurde die Formulierung »als souveräne demokratische Republik« durch »souveräne, sozialistische, säkulare, demokratische Republik« ersetzt. [2]
Nach Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit vom britischen Imperialismus am 15. August 1947 begeht das indische Volk seit dem 26. Januar 1950 den Tag der Republik. Der Republic Day gilt als der bedeutendste Feiertag der Inder. In einer föderal gegliederten bürgerlich-parlamentarischen Republik setzen inzwischen 29 regionale Landesregierungen, sieben Unionsterritorien und das Hauptstadtterritorium landesspezifische Entscheidungen durch. Während die Zentralregierung in Neu Delhi u. a. für die Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits-, Verkehrs- und die Steuerpolitik Verantwortung trägt.
Die Gründungsväter der indischen Verfassung hielten bereits in der Präambel den Rahmen und die Grundlagen des künftigen Staatswesens des Landes fest. Dieses Grundgesetz sollte den Übergang der bedeutendsten Kronkolonie des Empires hin zu einem Staat ermöglichen, in dem das Selbstbestimmungsrecht des indischen Volkes zum Tragen kommt. In den vergangenen 75 Jahren wurde unter sehr unterschiedlichen politischen Kräftekonstellationen um die souveräne Einheit der indischen Nation gerungen. Die Einheit der Unionsstaaten in Gestalt der bürgerlich-parlamentarischen Republik ist, ungeachtet der mitunter sehr unterschiedlichen Interessen, im gesamtnationalen Interesse nunmehr weitgehend hergestellt. Indien ist heute nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Welt, sondern eine bedeutende regionale Großmacht, das mächtigste Land Südostasiens, das seine souveränen Rechte in der Weltpolitik erfolgreich wahrnimmt. Die Bezeichnung der Republik Indien als sozialistisch (Socialist Pattern of Society) erfolgte stets bei Betonung des Sozialismus indischer Prägung. Der staatliche Wirtschaftssektor und der private Sektor bestimmten in den ersten Jahrzehnten zunächst im Rahmen von Fünfjahrplänen den wirtschaftlichen Kurs. Der staatliche Sektor sollte die ökonomische Unabhängigkeit stärken und zur Überwindung der Armut beitragen. Im Zuge der Liberalisierungs-Privatisierungspolitik, die nach der Ermordung Indira Gandhis 1984 verstärkt einsetzte, erhielt die indische Bourgeoisie im 21. Jahrhundert neuen Auftrieb. Das führte dazu, dass Indien zwar ökonomisch zur fünftstärksten Macht der Welt geworden ist, aber die Schere zwischen Reichtum und Armut wie nie zuvor weit auseinanderklafft. Der Reprivatisierungskurs hat einheimischen und ausländischen Monopolen genutzt und zur ungleichen Verteilung des Reichtums geführt. Nur ein Prozent der Bevölkerung verfügt über 40 Prozent des Reichtums. Die Anzahl der Milliardäre erhöhte sich von 102 im Jahre 2020 auf 169 im Jahre 2023. [3] Demgegenüber konnten sich 74,1 Prozent, etwa 1.043 Milliarden Menschen, 2021 nicht vollwertig gesund ernähren. Die Arbeitslosigkeit betrug im August 2023 8,1 Prozent, bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren 23,22 Prozent, bei Hochschulabsolventen 42 Prozent. [4]
Die Marktwirtschaft hat zwar die kapitalistische Entwicklung befördert, aber kaum »Sozialistisches«, d.h. »soziale, wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit« für das Milliardenvolk bewirkt. Der bekannten indischen Schriftstellerin Arundhati Roy ist zuzustimmen, wenn sie feststellt: »Unsere Verfassung ist praktisch inoffiziell außer Kraft gesetzt.« [5]
Teile und herrsche und BJP
Die indische Verfassung verspricht eine säkulare demokratische Republik. Sie garantiert ihren Bürgern »die Freiheit des Denkens, der Meinungsäußerung, des Glaubens und der religiösen Verehrung«. Der Geburtsstunde eines eigenständigen Indiens und Pakistans lag der kolonial-imperialistische Ansatz »teile und herrsche« (oder spalte die Hindus und Moslems im Hindustan) zugrunde. Dieser religiöse Spaltpilz begleitet die Entwicklung des Subkontinents und seiner sechs Staaten bis in die Gegenwart.
Seit Jahren gilt Indien als die größte Demokratie der Welt. Seit 1951/52 finden turnusgemäß alle fünf Jahre Parlamentswahlen zum Unterhaus (Lok Sabha) und Oberhaus (Rajya Sabha) sowie zu Staatenparlamenten in den Unionsstaaten statt.
Zwischen 2014 und 2024 siegte die Indische Volkspartei (Bharatiya Janata Party-BJP, die ihre Mitgliederzahl mit 170 Millionen angibt [6]) unter Führung von Narendra Modi dreimal hintereinander bei den Parlamentswahlen. Damit vollzog sie eine dramatische innenpolitische Wende hin zu religiös-chauvinistischen, prohinduistischen, z.T. faschistoiden Tendenzen.
Während die Philosophie der Kongressbewegung darin bestand, dass Hindus und Moslems sowie Menschen anderer Religionen in Frieden und Harmonie leben können müssen, gipfelt die Politik der BJP in Islamophobie und degradiert Muslime zu Bürgern zweiter Klasse.
So erleichterte die Modi-Regierung 2019 die Einbürgerung von Hindus, Sikhs, Jains, Buddhisten, Christen und Parsen, die aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan kamen. Die Moslems waren dabei aber nicht erfasst. Der Premierminister bezeichnete die 200-Millionen-Minderheit der Muslime als Eindringlinge im Lande.
Die Hindu-Leitkultur (Hindutva) bildet den gesellschaftspolitischen Rahmen für Regierung, Organisationen, Medien mit dem Ziel, das Land am Fluss Indus als eine jahrtausendalte Zivilisation zu achten und weiter zu entwickeln. Seit 2023 strebt die BJP-Regierung die Landesbezeichnung Bharat statt Indien an. Diese Sanskritbezeichnung gilt dem mächtigsten Imperator, dem Eroberer und Herrscher des Subkontinentes, der der Legende nach um 3000 v. Chr. gelebt haben muss. Diese Umdeutung soll zum einen der Blütezeit der Zivilisation am Indus Ausdruck verleihen und zum anderen angeblich die Hinterlassenschaften der kolonialen Sklaverei tilgen.
Ganz anders die Deutung durch Nehru, als er seinerzeit darauf aufmerksam machte, wie Menschen ihn im ganzen Land willkommen hießen »Bharat Mata ki Jai« (»Sieg für Mutter Indien!«) und er ihnen antwortete: »entscheidend war letzten Endes das Volk Indiens, Menschen wie sie und ich … Bharat Mata, Mutter Indien, das waren im Grunde genommen diese Millionen Menschen und ihr Sieg bedeutete den Sieg dieser Menschen … dass sie in gewisser Beziehung selbst die Bharat Mata seien.« [7]
Seit einem Jahrzehnt verletzt die BJP als Regierungspartei und deren bewaffneter Selbsthilfe-Stoßtrupp RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) den Verfassungsgrundsatz »säkulare und demokratische« Republik. Wie nie zuvor in den 75 Jahren praktiziert die Partei hindunationalistische Politik gegenüber Andersgläubigen, insbesondere gegenüber Moslems. Sie propagiert das Reich der Hindus (Hindu Rashtra) und erwartet von den »minderwertigen« Moslems, Sikhs und Christen, dass sie zum Hinduismus konvertieren. Das hat verheerende Auswirkungen in der Innenpolitik und führt zu Spannungen in Außenbeziehungen Indiens nicht nur gegenüber Pakistan und Bangladesch.
Außenpolitik
In Zeiten des nationalen Befreiungskampfes warb Nehru: »Wir wollten keinen Wechsel der Herren von Weiß zu Braun, sondern eine wahre Volksherrschaft durch das Volk und für das Volk und ein Ende unserer Armut und unseres Elends.« [8]
Als bedeutendes Gründungsmitglied der Bewegung nichtpaktgebundener Staaten verfolgte Indien anfangs eine Außenpolitik im nationalen Interesse des Volkes, eine Politik der Blockfreiheit, des Friedens und der friedlichen Koexistenz und genoss hohes Ansehen in der Welt.
In dem Maße, wie die indische Monopolbourgeoisie, Fürstenhäuser und andere Großgrundbesitzer sowie Finanzmagnaten an wirtschaftlicher Macht und politischem Einfluss gewannen, unterlag die Außenpolitik auffälligen Schwankungen. Indien habe (laut dem Wahl-Manifest der KPI (M) von 2024) seine Führungsrolle in der Bewegung der Nichtpaktgebundenen aufgegeben. Modi habe kein einziges Mal an Gipfeltreffen dieser Bewegung mehr teilgenommen. Seine Regierung habe sich den strategischen, politischen und sicherheitspolitischen Prämissen der USA gefügt. Sie lehne die Forderung einer bedingungslosen Feuereinstellung des Völkermords am Palästinensischen Volk ab. Erstmals habe der Premierminister zum Staatsbesuch in Israel geweilt, ohne Palästina zu besuchen. Die QUAD-Staatengruppe habe sich in ein aktives Militärbündnis im indopazifischen Raum gegen China verwandelt [9],dem Indien beigetreten ist.
RIC – Russland, Indien, China
Große Unruhe setzte im Westen ein, als die Staatsoberhäupter Russlands und Chinas darangingen, ihre besondere strategische Partnerschaft zu konsolidieren. Bei allen Schwankungen offenbarte Indien sein Interesse, die traditionellen Beziehungen zu Russland auszubauen und gegenüber China zu normalisieren. Ihre gemeinsamen Interessen schienen schwerer zu wiegen als die ungelösten Probleme und die Widersprüche, sodass Fortschritte in den trilateralen Beziehungen möglich wurden. Spätestens die Auseinandersetzung um die Ukraine, die Zuspitzung um Taiwan und an der indisch-chinesischen Grenze haben die Bereitschaft der drei Großmächte gestärkt, das 16. BRICS-Gipfeltreffen erfolgreich zu gestalten.
Nach zweihundert Jahren kolonialer Demütigung war Indien in seinen Außenbeziehungen nunmehr bedacht, die nationalen Interessen als souveräner Staat wahrzunehmen und verwahrte sich konsequenter gegen innere Einmischungsversuche des »regelbasierten« Westens. Eine klug austarierte Außenpolitik nutzte Widersprüche zwischen den Großmächten aus, vermied unnötige Komplikationen in Beziehungen zu sehr unterschiedlichen Ländern und festigte seine internationale Position auf wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gebieten. In den Jahrzehnten der bipolaren Konfrontation lavierte Indien zwischen der Sowjetunion und den USA und wurde aktiv in der Bewegung nichtpaktgebundener Staaten. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft wurden die Beziehungen zur verbliebenen Supermacht zwar intensiviert, aber ohne die Zusammenarbeit mit Russland zu vernachlässigen.
Überzeugend zeugt davon die Gemeinsame Erklärung vom 9. Juli 2024, die nach dem offiziellen Besuch Premierminister Modis in Moskau verabschiedet wurde. In dem umfangreichen Dokument wird auf die fortgesetzte Festigung und Erweiterung der besonders privilegierten strategischen Partnerschaft zwischen beiden Ländern verwiesen. Eine besonders hohe Bewertung erfuhren die durch die Jahrzehnte bewährten Beziehungen, die auf Vertrauen, gegenseitigem Verständnis und strategischer Annäherung beruhen. Diese Beziehungen bleiben in der derzeitigen komplizierten und unberechenbaren geopolitischen Situation stabil. In dem 81-Punkte-Programm sind konkrete weitreichende Entwicklungen bis 2030 abgesteckt worden. Die militärische und militär-technische Zusammenarbeit sei das Wesen der russisch-indischen besonders privilegierten strategischen Partnerschaft. [10]
Bei der Begrüßung der indischen Delegation in Kazan am 22. Oktober 2024 hob Präsident Putin diese Partnerschaft hervor, die sich kontinuierlich weiterentwickelt. In Erwiderung verwies PremierministerModi auf seinen zweiten Besuch in Russland innerhalb von drei Monaten, was von einer engen Koordination und starken Freundschaft zwischen unseren Ländern zeuge. [11]
Die indisch-chinesischen Beziehungen haben infolge des Grenzkrieges 1962 eine dramatische Zuspitzung erfahren. Ungeklärte Territorialprobleme führten wiederholt zu militärischen Konflikten, beide Länder betrachteten sich in Südostasien und im indopazifischen Raum als Konkurrenten. Angesichts eines großen Handelsdefizits befürchtet Indien, wirtschaftlich in Abhängigkeit von China zu geraten. Beide Nachbarstaaten gehen aber offensichtlich davon aus, dass ihre Widersprüche nicht antagonistischer Natur sind und früher oder später einer einvernehmlichen friedlichen Lösung bedürfen. Darauf deuteten neuerdings erste Signale in Kazan, als sich nach fünfjähriger Unterbrechung der Präsident der VR China und der Premierminister Indiens zu einer offiziellen Unterredung trafen. Im Mittelpunkt standen dabei der Ausbau der bilateralen Beziehungen, die Durchsetzung der Interessen des Globalen Südens und andere globale Probleme. Xi betonte, beide Länder sollten Partner und nicht Konkurrenten sein. Modi rief zum gegenseitigen Vertrauen, gegenseitigen Respekt und zur gegenseitigen Sensibilität zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Nationen der Welt auf.
Das 16. Gipfeltreffen der BRICS-Staaten vom 22. bis 24. Oktober 2024 im russischen Kazan offenbarte, dass Indien
- gewillt ist, mit einer hochrangigen Delegation unter Leitung des Premierministers Modi am Aufbau einer multipolaren Weltordnung vollumfänglich teilzunehmen,
- gewillt ist, an der Seite Chinas, Russlands und gemeinsam mit Schwellenländern seine geostrategischen Interessen wirksamer zu verwirklichen,
- durch die feste Verankerung im BRICS-Format seine Stellung im Verhältnis zur westlichen Welt souveräner durchsetzen kann.
Indien hat 200 Jahre bittere koloniale Unterdrückung und Ausbeutung, schmerzliche imperialistische Drangsalierungen neokolonialer Dominanz erfahren und hat sich in 75 Jahren erfolgreich zu einem wichtigen Globalplayer für Frieden und eine neue Weltordnung emanzipiert.
Berlin, 15. November 2024
Anmerkungen:
[1] Bipan Chandra, Mridula Mukherjee, Aditya Mukherjee »India Since Independence« by Penguin Books India 2008, page 54.
[2] Ebenda, page 59.
[3] Communist Party of India (Marxist), Election Manifesto 18th Lok Sabha 2024, page 5.
[4] Ebenda, page 6.
[5] junge Welt, 23. Oktober 2024, Beilage, Seite 4.
[6] Siehe de.wikipedia.org/wiki/Narendra_Modi.
[7] Jawaharlal Nehru »Entdeckung Indiens«, Rütten&Loening Berlin 1959, Seite 68.
[8] Ebenda, Seite 75/76.
[9] Election Manifesto 18th Lok Sabha 2024, page 11/12.
[10] Совместное заявление по итогам …: kremlin.ru/supplement/6168.
[11] Meeting with Prime Minister of India Narendra Modi:
en.kremlin.ru/catalog/keywords/82/events/75368.
Mehr von Andrej Reder in den »Mitteilungen«:
2024-10: Frieden und Armutsbekämpfung – Indira Gandhis bleibende Spur
2023-01: Der unsterbliche Mahatma