Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der unsterbliche Mahatma

Dr. Andrej Reder, Berlin

 

Vor 75 Jahren, am 30. Januar 1948, nur wenige Monate nach Erringung der Unabhängig­keit Indiens vom britischen Kolonialjoch, wurde Mahatma [1] Gandhi von einem militanten Hindu ermordet. Die »Seele« des nationalen Befreiungskampfes fiel seinem unermüdlichen Einsatz für die Schwächsten zum Opfer. Ohne die Erfahrungen seines Jurastudiums in London und insbesondere ohne die bitteren Erfahrungen mit dem rassistischen Unrecht in Südafrika hätte Gandhi nicht die Rolle im nationalen Befreiungskampf des indischen Volkes spielen, nicht die herausragende Persönlichkeit in der Geschichte werden können. Sein Kampf gegen Apartheid in Südafrika, gegen das Unrecht gegenüber der indischen Minderheit versetzte ihn später in die Lage, zum Führer im Widerstand gegen das Kolonialregime auf dem indischen Subkontinent zu werden. Als Gandhi 1915 aus Südafrika nach Indien zurückkehrte, nannte Rabindranath Tagore ihn als erster Mahatma.

Kraft einer Persönlichkeit

Will man Leben und rastloses Wirken dieser Galionsfigur mit wenigen Worten erfassen, so sind es Swaraj, Satyagraha, Ahimsa. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und unter dem Einfluss der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Russland verfolgte der Indische Nationalkongress (INK) seit 1920/21 Gandhis Plan der gewaltfreien Bewegung der Nichtzusammenarbeit mit den Kolonialherren. Sie strebte eine unabhängige politische Selbstverwaltung (Swaraj) an. Die Bewegung des friedlichen zivilen Ungehorsams (Satyagraha) im gesamtindischen Rahmen führte letztlich 1947 zur nationalen Befreiung Indiens vom Kolonialismus. Die Verweigerung der Zusammenarbeit richtete sich gegen Institutionen, die von der britischen Verwaltung eingerichtet wurden, z.B. gegen Gerichte, Universitäten, Colleges, aber auch auf Boykott gegen aus England importierte Waren.

Die Philosophie Gandhis, der Gandhismus (er selbst lehnte alle »Ismen« ab, weil sie dem Dogmatismus Vorschub leisten würden) und sein Wirken liefen auf eine Absage hinaus, die gängige Gewalt mit der ebenfalls üblichen Gegengewalt bekämpfen zu wollen. Gandhi appellierte an das Gute im Menschen, an den Verstand und das Gewissen und mobilisierte Millionen Inder unterschiedlicher Religionen gegen Unterdrückung und Willkür mit Metho­den, die bis dato keine Massenwirksamkeit erlangen konnten, mit dem zivilen, friedlichen (Ahimsa) Ungehorsam. Mut, Opferbereitschaft, Schmerz und Leid zu ertragen, Ausdauer, Überzeugungskraft waren erforderlich, um damit erfolgreich zu sein. Und die »Große Seele« verkörperte all das, war tief verwurzelt in der Seele des indischen Volkes und galt zu Recht als Vater (Bapu) der Nation.

Wie kein anderer Inder verkörperte Gandhi die mobilisierende Kraft einer Persönlichkeit in der Geschichte eines Volkes. Seine magnetische Wirkung auf Menschen erreichte er durch sein Charisma. Er lebte äußerst bescheiden und wirkte vorwiegend auf dem Lande, kleide­te sich einfach mit einem Dhoti, war Veganer (»Der Mensch lebt nicht, um zu essen, son­dern er isst, um zu leben«), pflegte die Sprache der einfachen Leute. Der ehemalige Bot­schafter der DDR in Indien, der zehn Jahre (1936-1946) an der Seite Gandhis verbracht hatte, schrieb 2003 für seine Familie in den »Erinnerungen« zu dieser Zeit: »Für alle hatte er (Gandhi) ein offenes Ohr, selbst wenn es sich um Kleinigkeiten handelte. So erschien er vielen als sorgender Vater. Machtstreben war ihm fremd. Jasager und Lobhudeleien hatte er gar nicht gern. Im Gegenteil, er liebte offenen Meinungsstreit mit seinen Mitstreitern und schätzte deren selbständige Gedankengänge. Er sagte einmal: ›Einzelne, so hohe Stel­lungen sie auch innehaben mögen, zählen nicht, außer insofern, als sie die vielen Millionen vertreten.‹« [2] Wort und Tat stimmten bei ihm überein. Er wurde vergöttert und geachtet. Und dennoch waren seine Philosophie und Praxis bereits damals in der Kongresspartei, in der kommunistischen Bewegung Indiens, aber auch in der kommunistischen Weltbewe­gung nicht unumstritten.

Schwieriges Verhältnis von nationaler Befreiung und Kampf gegen Ausbeutung

Strittig unter Linken im INK und in der KPI waren sowohl Ziele der nationalen Befreiungs­bewegung als auch die von Gandhi verfolgten Methoden, die Befreiung vom Kolonialjoch zu erreichen. Die Bewegung des strikt friedlichen zivilen Ungehorsams offenbarte von Anfang an »den Widerspruch zwischen den objektiven Umständen, in denen die Massen unter dem Einfluss der politischen Losungen und dem Aufruf der Bewegung agieren und dem subjektiven Wunsch und Handlungen von Gandhi und der Kongressführung sie zu kontrol­lieren ... Das ist der Grundwiderspruch der Methodologie und Ideologie der Bewegung der Nichtzusammenarbeit, die wir später im Zusammenhang mit der Doppelrolle der nationa­len Bourgeoisie im Unabhängigkeitskampf erkannt haben« [3] Der Widerspruch zwischen dem unsäglichen Unrecht seitens des britischen Imperialismus einerseits und der von Gandhi proklamierten strikt friedlichen Form des zivilen Ungehorsams sollte in der Auseinander­setzung mit der indischen Bourgeoisie seine Fortsetzung auch nach Erringung der Unab­hängigkeit erfahren. Beide Hauptkontrahenten, die revolutionär-demokratischen Kräfte (KPI, KPI (M) u.a.), die grundsätzliche Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse in Indien anstreben, einerseits und andererseits jene, die auf Reformen (INK) der kapitalistischen Entwicklung setzten, spielen derzeit im gesamtindischen politischen Leben keine nennens­werte Rolle mehr. Radikal hindunationalistische Kräfte (BJP – »Indische Volkspartei«) haben seit 2014 die Oberhand erlangt.

Der nationalen Befreiung widmete Gandhi sein Hauptaugenmerk, der soziale Aspekt fußte nicht auf einer Klassenanalyse mit erforderlichen Schlussfolgerungen für den Kampf der Ausgebeuteten. Marxisten des Landes kritisierten ihn, weil er nicht konsequent gegen die indischen Ausbeuter Stellung bezogen hat, von diesen wiederum wurde er angegangen, weil er zu radikal war. Zudem blieben Gandhis Vorstellungen über die kapitalistische Gesellschaft hinaus unterbelichtet.

Die Positionen von Marxisten und anderen revolutionären Linken Indiens zu Gandhi wur­den bestimmt durch ihre Ablehnung der kolonialen Fremdherrschaft, ihre Opposition gegen die nationale Bourgeoisie und die Feudalkräfte des Landes. Sie standen außerdem unter starkem Einfluss der Kommunistischen Internationale (KI). Der VI. Weltkongress der KI orientierte 1928 auf einen revolutionären bewaffneten Kampf gegen die Kolonialherren und lehnte grundsätzlich jegliches Zusammenwirken mit Gandhi ab: »Die Kommunisten müssen den Nationalreformismus des indischen Nationalkongresses entlarven und allen Phrasen der Swaradjisten, Gandhisten usw. über den passiven Widerstand unversöhnliche Losung des bewaffneten Kampfes für die Befreiung des Landes und die Vertreibung der Imperialisten entgegenstellen.« [4]

Grundlegende Korrektur

1935 war ein Wendejahr. Marxisten Indiens begannen die Gefahr ihres dogmatischen Herangehens zu erkennen, als sie Gandhi als einen »Agenten des Imperialismus« brand­markten. [5] Angesichts des aufkommenden Faschismus und der damit einhergehenden Kriegsgefahr sowie der gesammelten Erfahrungen im Befreiungskampf der kolonial unter­drückten Völker korrigierte auch der Weltkongress der KI seine Position grundlegend:

»In Indien müssen die Kommunisten alle antiimperialistischen Massenaktionen unterstüt­zen, verbreitern und sich an ihnen beteiligen, auch jene Aktionen nicht ausgenommen, an deren Spitze Nationalreformisten stehen. Sie müssen unter Wahrung ihrer politischen und organisatorischen Selbständigkeit aktive Arbeit innerhalb der dem Nationalkongreß Indiens angehörenden Organisationen leisten und die Herauskristallisierung eines nationalrevolu­tionären Flügels in diesen Organisationen fördern, um die nationale Befreiungsbewegung der Völker Indiens gegen den britischen Imperialismus weiter zu entfalten.« [6]

In diesem Spannungsfeld divergierender politischer Orientierungen der KI in den Jahren 1928 bis 1935 waren die indischen Kommunisten bestrebt, ihre Strategie und Taktik im nationalen Befreiungskampf, in ihrem Verhältnis zum INK und zu Gandhi zu bestimmen. Nationale Befreiung einte sie mit Mahatma. Seine Methode des friedlichen Kampfes lehn­ten sie nicht mehr grundsätzlich ab. Sie wandten sich allerdings auch weiterhin gegen das Friedliche als Grundsatz um jeden Preis und verwiesen darauf, dass die nationale Befrei­ung eine revolutionär-demokratische Fortsetzung erfahren müsse und somit die Kampf­form nicht zuletzt von Klassengegner bestimmt werde. Gandhis Festhalten am Friedlichen widerspiegelte den Doppelcharakter der nationalen Bourgeoisie Indiens, die einerseits gegen die fremdländische Bourgeoisie eintrat, aber gleichzeitig bestrebt war, ihre eigene Herrschaft zu sichern. Der Streit entzündete sich nicht zuletzt an der Frage, ob die Gandhi-Bewegung von der Großbourgeoisie angeführt wird, die zu Kompromissen mit dem Impe­rialismus neigt. EMS Namboodiripad, einer der bedeutendsten Führungspersönlichkeiten der kommunistischen Bewegung Indiens und erster (1957) kommunistischer Ministerpräsi­dent Keralas, gab erstmals eine treffende Charakterisierung Gandhis: »Gandhi war der typi­sche ideologisch politische Führer der indischen Bourgeoisie« und er war »der herausra­gendste Führer der antiimperialistischen und demokratischen Bewegung unseres Lan­des.« [7]

Die Sarvodaya-Bewgung (Fortschritt und Wohlstand für alle) Gandhis versetzte Massen in Bewegung gegen die koloniale Unterdrückung und ausländische Ausbeutung. Da Gandhi aus Prinzip gegen Gewaltanwendung, gegen Waffengewalt war, sondern die Suche nach Kompromissen zum Grundprinzip erhob, konnte mit ihm die Überleitung des antiimperialis­tischen Kampfes in eine Auseinandersetzung mit den nationalen Ausbeuterklassen nicht erreicht werden. Gandhi meinte »auch ich bin ein Sozialist« und meinte damit eine Art Gleichheit im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung. Nach Erringung der natio­nalen Befreiung war Gandhis Seele belastet, als er erkennen musste, dass viele seiner Vor­sätze nicht in Erfüllung gegangen sind. Über die Spaltung der Nation auf religiöser Grund­lage in drei Teile war er besonders verbittert.

Fazit:

Mahatma Gandhi spielte im antiimperialistischen Befreiungskampf der Völker Indiens und in der wechselvollen Geschichte der Menschheit eine herausragende Rolle. Seine zutiefst humanistischen Auffassungen und sein unermüdlicher Einsatz für die Schwächsten in die­ser Welt sind für die Gegenwart und Zukunft von großer Relevanz:

- Im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen, da die Existenz der Menschheit bedroht ist, ist Frieden durch Verzicht auf Gewalt das Gebot der Stunde. Frieden darf nicht im Krieg herbeigesiegt werden. Gandhi hat bewiesen, dass die Kunst des Möglichen in der Politik im Interessenausgleich in Verhandlungen statt auf Schlachtfeldern erreicht werden muss;

- Folgen wir Gandhis Auffassung, dass Armut die schlimmste Form von Gewalt ist, dann kann nur eine friedliche multipolare Weltordnung eine gerechte Weltwirtschaftsordnung ermöglichen, die das Menschenrecht auf ein Leben in Würde für alle gewährleistet;

- Aus einer streng religiös hinduistischen Familie stammend, setzte sich Gandhi für ein säkulares Indien ein, in dem nicht die Religion das Maß allen Tuns war, sondern Demokra­tie, Freiheit und Grundrechte von Menschen. Die von Gandhi angestrebte Sarvodaya Gesellschaft, eine Art Bauernsozialismus, die auf dem Prinzip der Gleichheit und Freiwillig­keit ihrer Mitglieder basiert, war damals und noch mehr heute eine gut gemeinte Utopie.

Dr. Andrej Reder, Jahrgang 1936, war tätig im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Schwerpunkt Indien. – Er ist Autor des Buches »Dienstreise. Leben und Leiden meiner Eltern in der Sowjetunion 1935 bis 1955«, Verlag Neues Leben 2015, ISBN 978-3-355-01824-1, 255 Seiten.

 

Anmerkungen:

[1]  Setzt sich zusammen aus Maha - groß, gewaltig - und Atma - Seele - zu Mahatma.

[2]  Herbert Fischer, »Erinnerungen zweier Menschen«, Seite 88.

[3]  S.A. Dange’s »Gandhi vs Lenin« in Documents of the history of the Communist Party of India, volume one 1917-1922, People’s Publishing House 1971, page 269.

[4]  Thesen des VI. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, 1928 »Über die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und Halbkolonien« Punkt 34, Seiten 126-127, in: Die Kommunistische Internationale (Auswahl von Dokumenten und Reden vom VI. Weltkongreß bis zur Auflösung der Kommunistischen Internationale, 1928-1943) Berlin, Januar 1956.

[5]  Prof. Narahari Kaviraj, »Gandhi-Nehru Through Marxist Eyes«, 1988 published by Manisha Granthalaya, page 6.

[6]  »Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. (Bericht des Genossen Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, 1935)«, Seite 410-411.

[7]  Zitiert nach Fn. 5, page 10.

 

Mehr von Andrej Reder in den »Mitteilungen«: 

2022-08: 75. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens

2021-09: Nie wieder Krieg von deutschem Boden!

2015-05: Vom Tag der Befreiung zum Tag der Besinnung und des gemeinsamen Handelns