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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

25. April 1945: Treffen an der Elbe – Reflexionen eines alten Kommunisten

Victor Grossman, Berlin

 

Am 8. Mai 1945 strömte ich mit vielen Tausenden zum Times Square in New York um zu feiern: Das Morden in Europa war zu Ende. Bald konnte mein Bruder von seinen gefährlichen Atlantik-Fahrten zurückkehren. Für mich, 17-jährig, war die Möglichkeit, in die Armee zu müssen, noch nicht vorbei, denn in Asien ging der Krieg noch vier Monate weiter: Tausende US-Soldaten und noch viel, viel mehr japanische sollten noch auf Okinawa sterben. Und dann am Schluss sollten noch in Hiroshima und Nagasaki zwei teuflische Blitze binnen Sekunden an die Hunderttausend Zivilisten ermorden – und sehr viel mehr zu langen Qualen verurteilen. Aber das kam erst später, noch waren wir voller Freude.

Unser neuer Präsident, Harry S. Truman, wusste wohl, was er bald befehlen würde. Am 12. April war Franklin D. Roosevelt verstorben – ein widerspruchsvoller Präsident, der ein Ohr fürs Volk hatte und den Faschismus hasste. Wie wird Truman sein?

Zwei Wochen zuvor bewegte ein Foto viele Herzen – meins sicher mit am meisten. Die Soldaten der Roten Armee und der USA reichten sich an der kaputten Brücke in Torgau die Hände. War das ein schönes Omen? Auch für die gerade entstehende UNO, die Kriege für immer verhindern sollte? Manche meinten entschieden Ja! Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Earl Browder, vom Anblick des freundlichen Fotos von Roosevelt, Churchill und Stalin in Teheran im Dezember 1943 beeindruckt, auch angesichts der von Kommunisten im Kriege stets unterstützten Vereinbarung gegen das Streiken, schlussfolgerte, dass »Kapitalismus und Sozialismus begonnen haben, ihren Weg zur friedlichen Koexistenz und Zusammenarbeit in der gleichen Welt zu finden«. Unter seinem Einfluss hatte sich die KP im Mai 1944 aufgelöst und sich in eine Communist Political Association umgewandelt, um vor allem auf den Bildungsweg den Arbeitern für einen zukünftigen Sozialismus friedlich aufzuklären. Aber Ende Juli 1945, unter dem Einfluss eines kritischen Briefs von einem führenden französischen Kommunisten, Jacques Duclos, leitete der schon legendäre Arbeiterführer William Z. Foster die Wiedergeburt einer kämpferischen Partei ein.

Wenig friedlich, fast sofort nach Kriegsende, rebellierten Hunderttausende, die an Vereinbarungen zum Einfrieren der Löhne und einer rapiden Inflation hart litten. Eine Streikwelle reichte rasch von den Kohlengruben und der Bahn bis zu Textilarbeiterinnen und Autoherstellern, und die USA waren näher an einem Generalstreik als jemals in ihrer Geschichte. Zu dieser Zeit, ich war nun Harvard-Student, kam mein linker Freund aus Chicago mit einem Papier in der Hand auf mich zu und sagte: »Du bist doch ein Roter, nicht wahr?« »Klar!«, antwortete ich, denn so sah ich mich seit der ersten Schulklasse. Ich war das, was man ein »Rote-Windeln-Baby« nennt, doch weniger der Eltern wegen als durch die ganze linke Atmosphäre in unserem New Yorker Milieu in den Jahren davor. »Aber wieso?«, fragte ich. »Dann unterschreibe hier!«, war die Antwort. »Was ist das!?« Es war ein Antrag auf Mitgliedschaft in der wiederentstandenen Partei. Mir ging vieles durch den Kopf: Muss man auch Mitglied werden? Wie könnte sich das später auf meinen Werdegang auswirken, falls es bekannt würde? In den paar Monaten seit Torgau, wegen der neuen Konflikte in Europa und der großen Arbeiterkämpfe entsprach die Linie des neuen Präsidenten den Worten eines der wichtigsten Männer im Lande, Charles E. Wilson, Chef der riesigen General Electric. Er fasste die Probleme der USA ganz knapp: »Im Ausland Russland, zu Hause die Arbeiter« (»Russia abroad, labor at home.«). In beiden Hinsichten waren Kommunisten im Wege, was sie härter und härter in den folgenden Jahren zu spüren bekommen sollten. Nur etwas konnte ich davon ahnen. Als mein Freund drängte: »Bist du einer oder bist du keiner?« – da unterschrieb ich, zahlte 50 Cents und war nun drin.

War meine Entscheidung, gewiss unter Druck, der größte Fehler meines Lebens? Jedenfalls hat sie dessen Lauf gründlich bestimmt. Nach dem Diplom hatte ich keinen »Weißen Kragen« Beruf angestrebt, sondern wurde Transportarbeiter in einer fernen Stadt. Meine Bemühungen in der Arbeiterbewegung blieben zwar ineffektiv, doch lernte ich für mich Entscheidendes darüber, wie »das System« sich für arbeitende Amerikaner auswirkt. Ich bekam auch lehrreiche Einblicke in das Leben im schwarzen Ghetto, viele harte Seiten – und etliche wunderbare Genossinnen und Genossen.

Bald waren die Hoffnungen auf ewigen Frieden verflüchtigt, es ging schon 1950 in Korea verheerend los. Diesmal wurde auch ich eingezogen, und weil ich dabei verängstigt meine Unterschrift von 1945 unterschlug, sah ich mich, um womöglich fünf Jahren Haft zu entgehen und in Bayern stationiert, gezwungen, zu verschwinden und in ein Land zu kommen, wo der von mir erträumte Sozialismus versucht wurde.

In all den Jahren seit dem 8. Mai 1945 gab es große politische Freuden – Kuba 1959, Vietnam 1975, Südafrika 1994 –, auch viele persönliche und, nicht zu vergessen, kulturelle; Brechts Stücke im Berliner Ensemble und Felsensteins Produktionen in der Komischen Oper blieben lebenslang Höhepunkte. Doch wie viele bittere Enttäuschungen gab es auch! Schon der 17. Juni war eine. Noch ernster: die Enthüllungen von Chruschtschow im Jahr 1956 und die folgenden Rückschläge in Polen und weitaus ernster in Ungarn. Diese bitteren Ereignisse bewiesen unzweideutig, dass die lange von uns Kommunisten geleugneten Anklagen (wenn auch zunehmend mit Zweifeln begleitet) über den Gulag oder den Antisemitismus in der UdSSR doch auf horrender Wahrheit basierten. Das Jahr 1956 hat meiner alten KP-USA einen großen Anteil seiner noch verbliebenen Mitgliedschaft gekostet. Zwölf Jahre später kamen die Ereignisse in Prag hinzu. Beim allergrößten Schlag, von 1989 bis 1991, brach unsere Welt von Wladiwostok bis zum Checkpoint Charlie zusammen. Unser Traum, meinten nun viele, wäre doch ein Irrlicht, eine Unmöglichkeit; die Menschen seien zu konsumgierig, zu egoistisch, zu leicht irrezuführen. Die Führenden hätten sie irregeführt! Schaut nur! Ulbricht! Honecker! Und über allen das Hauptsymbol des Übels, der Bosheit in persona: Josef Stalin.

Als ich in der Oberschule schon politisch aktiv war, fragte mich ein Mitschüler: »Sag mal, Du hast Dich an einer festen Idee verschworen, einer Ideologie! Was wirst Du denken, wenn Du mit 65 vielleicht feststellen musst: ›Oh Gott, ich habe die falsche Richtung gewählt! Ich habe mein ganzes Leben vergeudet.‹ Was dann?« Ich weiß nicht, ob ich damals antwortete: »Besser, so entscheiden, als gar keine feste Prinzipien oder Richtung auswählen und das Leben nur ums eigene Wohl zu führen, um vorwärts zu kommen. Da wäre es wirklich vergeudet!« (Mein Gesprächspartner hat übrigens den anderen Weg genommen.) Jetzt bin ich mehr als zwei Jahrzehnte älter als 65, ich habe die ganzen Tragödien miterlebt – und lese zahllose Worte von jenen, die enttäuscht alles als vergeudet aufgeben oder von jenen, verärgert oder gar wütend, die alles denunzieren. War denn alles nutzlos oder gar falsch? Soll man nicht jene schmale, felsige Wege verlassen, die so oft, für manche endgültig, nur in den Abgrund führten? Nein, sage ich! Verklären will ich nichts, gar nichts. Ich gestehe, ich sah vieles in der DDR und erfuhr auch von allzu viel in der Sowjetunion – Unrecht, dem wir »Rote« zu oft und zu lange blind gegenüber blieben, und wenn nicht blind, dann ängstlich passiv. Dennoch: Der Weg, den ich und den wir lange betraten, war – um Angela Merkel zu zitieren – insgesamt alternativlos.

Ich bin nie und nimmer deshalb Kommunist geworden, weil ich Stalin, Ulbricht oder Honecker bewunderte. Sondern weil ich Ausbeutung hasste, weil ich sah, dass es Kommunisten waren, die trotz vielen Irrwegen, auch Deformierungen, immer wieder gegen Armut, den Rassismus und den Chauvinismus standen. Vor allem waren es Kommunisten aus allen Ländern (auch, mit Waffen, aus der UdSSR), die in Spanien ihr Leben gegen den Faschismus einsetzten und um den Krieg zu verhindern. Ihre Feinde waren nicht nur in Berlin und Rom, sondern in London, Paris und Washington. Daran hat sich bis heute wenig verändert. Im Krieg waren Kommunisten, in Uniform oder als Partisanen und im Untergrund in den ersten Reihen und litten die meisten Opfer. Bei den Befreiungskämpfen auf anderen Kontinenten waren es die Sowjetunion, auch die DDR, die einen starken Rückenwind boten – für den ANC und die SWAPO, in Algerien, Vietnam, Chile, Nicaragua. Die Feinde sind geblieben, stärker denn je: Krupp, Maffei, die Deutsche Bank in Deutschland, in den USA Erdöl-, Waffen-, Pharma- und andere Riesen, auch die Verblender in Hollywood. Sie haben vor 25 Jahren einen riesigen Sieg gewonnen. Dennoch, wie in Pete Seegers Lied, immer wieder wächst das Gras verkrümelnd durch die Betondecke. Sie stehen wieder auf – gegen Walmart, McDonalds, schießwütige Polizisten, fanatische Gegner der Frauenrechte und der Umwelt. In Deutschland stehen Pegida-Gegner und Blockupy-Marschierer auf. Nein, ich sehe für Menschen mit Herzen und Geist keine echte Alternativen. Wenn auch weniger deutlich, scharf auszumachen, aber das Ziel bleibt im Grunde alternativlos. Daher freute ich mich, die Worte von Margaret Fuller zu finden, einer Mitbegründerin der Frauenbewegung, die 1843 schrieb:

Ich stehe im sonnigen Mittag des Lebens. Die Gegenstände glitzern nicht mehr im Morgentau, noch sind sie schon durch den Abendschatten gemildert. Jeder Fleck ist sichtbar, jeder Abgrund aufgedeckt. Beim Erklettern des staubigen Hangs sind manche schöne Abbilder gebrochen, die einst als Symbole des Menschenschicksals galten; jene, die ich immer noch bei mir habe, zeigen im hellen Tageslicht Defekte. Dennoch bleibt genug, auch durch die Erfahrung, um deutlich auf die Herrlichkeiten jenes Schicksals hinzudeuten; schwache, doch unverkennbare Strahlen des künftigen Tages. Ich kann mit dem Barden Shakespeare sagen, »Wenn auch viele Schiffbruch erlitten haben, es schlagen immer noch edle Herzen.«

 

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