1921: Kommunisten für Aktionseinheit – gegen bürgerlichen Staatsterrorismus (II)
Prof. Dr. Heinz Karl, Berlin
In ihrem Aufruf vom 24. März 1921 zum Generalstreik forderte die Zentrale der VKPD die Arbeiter, Angestellten und Beamten zur Solidarität mit den vom blutigen Polizeiterror betroffenen Arbeitern auf. Im Unterschied zum Beschluss des Zentralausschusses der VKPD vom 17. März [1] stellte der Aufruf als Kampfziel nicht den Sturz der Regierung, sondern die endliche Durchführung der von der Reichs- und der preußischen Regierung nach Niederschlagung des Kapp-Putsches den Gewerkschaften zugesicherten demokratischen Reformen. [2] Zwei Tage darauf warnte die Zentrale der VKPD im Zentralorgan: »Die Konterrevolution wird versuchen, Euch vor ihre Gewehrläufe zu bringen. Die Parole der Partei lautet: Wer Euch vor die Gewehre der Konterrevolution bringen will, den schüttelt ab.« [3]
Auf Solidaritätsaktionen wurde bereits hingewiesen. [4] Aber es blieben Aktionen von Minderheiten, die Mehrheit der Arbeiter blieb unbeteiligt. SPD, USPD und Gewerkschaftsinstanzen diffamierten nach Kräften den »Kommunistenputsch«. Besonders enttäuschend war die Entwicklung in Berlin, wo die »Linken« um Reuter-Friesland, die am ungeduldigsten auf »revolutionäre Aktionen« gedrängt hatten, sich als völlig einflusslos in den Betrieben erwiesen.
Der Terror des Regimes, vor allem in Preußen, erinnerte an die Blutorgien des Frühjahrs 1919. Wie seinerzeit Leo Jogiches in einer Zelle des Untersuchungsgefängnisses ermordet wurde, so am 31. März 1921 der kommunistische Gewerkschaftsfunktionär Wilhelm Sült – der Reaktion verhasst als Organisator des erfolgreichen Berliner Elektrizitätsarbeiterstreiks vom November 1920 – im Berliner Polizeipräsidium. Zehntausende Berliner gaben ihm am 6. April das letzte Geleit. Allein in Mitteldeutschland wurden über 6.000 Männer, Frauen und Jugendliche verhaftet. Ende März 1921 gebildete außerordentliche Gerichte verurteilten 5 Arbeiter zu lebenslänglichem Zuchthaus, 451 zu mehrjährigen Zuchthausstrafen, 2.752 zu Gefängnis, 48 zu Festungshaft und 96 zu Geldstrafen. [5]
Am 15. April 1921 rief die Zentrale der VKPD dazu auf, die spontan entstandenen Komitees der »Roten Hilfe« zu unterstützen, zu stärken und zu einer umfassenden Organisation auszubauen. Es gelte, »Hilfe den Opfern der Kämpfe zu bringen. Die Familien der Gefangenen und Verwundeten gilt es zu unterstützen. Den Eingekerkerten müssen die Tage der Freiheitsberaubung erleichtert werden durch unser Hilfswerk. Rechtsschutz müssen wir denen bringen, die man noch vor die Gerichte schleifen wird.« [6]
Im Preußischen Landtag nutzte die VKPD-Fraktion – insbesondere Otto Kilian, Max König, Gustav Menzel und Ernst Meyer (mit Bernard Koenen als Zeugen) – den Ausschuss zur Untersuchung der Märzkämpfe zur Aufdeckung der Hintergründe der Provokation. [7]
Versuche einer politischen Bilanz
Am 7./8. April 1921 versuchte eine Tagung des Zentralausschusses der VKPD, eine politische Bilanz der Ereignisse zu ziehen. Im Referat Heinrich Brandlers (mit W. Stoecker Vorsitzender der Zentrale) zur politischen Lage und den Aufgaben wurde die Einschätzung der Lage durch die Zentrale als richtig hingestellt und behauptet: »Was wir durch die Propaganda des ›Offenen Briefes‹ nicht erreichen konnten, hat die Aktion mit einem Schlage nachgeholt.« [8]
Die von der Zentrale vorgelegten »Leitsätze über die Märzaktion« bekräftigten noch: Die VKPD »war vermöge ihrer Stärke verpflichtet, über die bloße Propaganda und Agitation hinauszugehen. Sie mußte ... den Versuch machen, gestützt auf die eigene Kraft, die Massen mitzureißen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie vorerst nur einen engen Kreis der Arbeiterschaft mit sich in den Kampf riß.« [9] Sie »kann nicht warten, bis die Kampfunlust und Passivität der ökonomisch noch bessergestellten und ideologisch rückständigen Arbeiterschichten durch bloße revolutionäre Propaganda durchbrochen sind.« [10] Man kam nicht um das Eingeständnis herum: »Diese revolutionäre Offensive hat, äußerlich gesehen (?! H.K.), mit einer Niederlage der VKPD geendet. Die VKPD ist vorübergehend von breiten Teilen der Arbeiterschaft isoliert.« [11] Aber die – keineswegs logische – Schlussfolgerung lautete: »festhalten an der Linie der revolutionären Offensive, die der Märzaktion zugrunde liegt, und ... entschlossen und sicher auf diesem Wege fortschreiten«. [12]
Als Korreferentin unterzog Clara Zetkin diese Positionen einer grundsätzlichen Kritik. Sie wertete sie als Bruch mit der Politik des Offenen Briefes vom Januar 1921. Ausgangspunkt für sie war: »Die Aktion der Partei darf nicht nur Aktion der Partei, der VKPD, sein, sie sollte eine Massenaktion werden.« Deshalb dürfe man nur »solche Ziele für unseren Kampf wählen, die nicht bloße Propagandawirkung ausüben auf die breiten Massen, sondern die so konkrete Lebensnotwendigkeiten der proletarischen Massen betreffen, daß sie sie eben aufrütteln und uns zuführen konnten.« [13] Und in der von ihr eingebrachten Resolution gegen die von der Zentrale vorgelegten Leitsätze betonte sie: »Die Parteiaktion kann Massenaktion vorbereiten, kann ihr Ziel und Leitung geben, ist aber außerstande, Massenaktion zu ersetzen.« [14]
Die Leitsätze der Zentrale wurden mit 26 gegen 14 Stimmen angenommen. Die Auseinandersetzungen komplizierten sich weiter, als Paul Levi (der im Februar 1921 als Parteivorsitzender zurückgetreten war) [15], am 12. April mit einer tendenziösen Broschüre »Unser Weg. Wider den Putschismus« den diffamierten und verfolgten Kommunisten in den Rücken fiel und die antikommunistischen Lügenküchen belieferte [16], zugleich durch sein Auftreten von der Gefährlichkeit der »Offensivtheorie« ablenkte. Diese war blind für die Realitäten, etwa wenn Ruth Fischer behauptete, dass in Deutschland »kein Proletarier, und sei es auch der indifferenteste, mehr an die Demokratie oder an den Sozialismus durch die Demokratie glaubt«. [17] Und Arcady Maslow bekannte: »Fragt man, was eigentlich an der Märzaktion neuartig war, so muß man antworten: Gerade das, was unsere Gegner tadeln: daß nämlich die Partei in den Kampf ging, ohne sich darum zu kümmern, wer ihr folgen würde.« [18]
Auf der Tagung des Zentralausschusses der VKPD vom 3.-5. Mai 1921 sprach August Thalheimer im Referat über die politische Lage und die Aufgaben der Partei noch von der »Fortführung der Aktion, Fortführung der Linie«, aber sein Korreferent Fritz Heckert trat nicht nur nachdrücklich gegen die Flucht aus den Gewerkschaften auf, sondern auch für eine sachliche Haltung gegenüber den reformistischen Gewerkschaftsfunktionären und eine Konzentration auf die Arbeit in den Betrieben. Viele Diskussionsredner sprachen sich dafür aus, wieder an den Offenen Brief vom Januar 1921 anzuknüpfen. Der Zentralausschuss ermächtigte die Zentrale zu Verhandlungen mit den Gewerkschaften und den beiden sozialdemokratischen Parteien über gemeinsame Aktionen und zu entsprechenden Einheitsfrontangeboten.
Clara Zetkin schlug ein Programm von Kampfmaßnahmen vor, die von der Reichstagsfraktion vertreten werden und sich an den Forderungen des Offenen Briefes orientieren sollten. [19]
Hingegen waren die von der Zentrale vorgelegten »Leitsätze zur Taktik der KI während der Revolution«, die dem III. Weltkongress der KI unterbreitet werden sollten, noch von der »Offensivtheorie« durchtränkt, wurden aber dennoch einstimmig angenommen. [20] Angesichts des Konflikts um Oberschlesien wurde die Parole ausgegeben: »Zusammenschluß aller oberschlesischer Arbeiter (deutscher und polnischer) und gemeinsamer Kampf gegen die deutsche und polnische Bourgeoisie« [21]
Wieder auf dem Kurs des »Offenen Briefes«
Schon am 29. April 1921 hatte die Reichsgewerkschaftszentrale der VKPD die Gewerkschaftsmitglieder dazu aufgerufen, gemeinsam den Kampf für die 10 Forderungen des ADGB [22] zur Unterstützung der Arbeitslosen und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu führen.
Die Mobilisierung der Massen in den Betrieben und Gewerkschaften wurde umso dringlicher, als die Annahme der ultimativen Reparationsforderungen der Entente-Mächte (132 Milliarden Goldmark!) am 11. Mai zu weiteren katastrophalen Einkommensverlusten und Senkungen des Lebensstandards der Arbeiterklasse und der Mittelschichten führen musste. Die Zentrale der VKPD reagierte darauf am 21. Mai mit einem Aufruf »An das deutsche Proletariat! An die Mitglieder der Gewerkschaften und der sozialistischen Parteien!« Gewandt »an die breitesten Proletariermassen, an die Arbeiter, Angestellten, Beamten, Kleinbauern und Handwerker, an alle Frauen und Männer des arbeitenden Volkes ohne Unterschied von politischen Anschauungen und Parteizugehörigkeit« legte sie diese Problematik dar und wies nach, dass es nur eine reale Alternative zur Politik des Großkapitals und der bürgerlich-junkerlichen Reaktion gab: »eine feste, geschlossene Kampffront des gesamten Proletariats ohne Unterschied der Richtungen«. [23]
Dieser Aufruf löste eine Versammlungskampagne aus. »In Stuttgart und Danzig wurden die Versammlungen von allen Arbeiterorganisationen gemeinsam abgehalten, und die Berliner Ortsverwaltung des Deutschen Eisenbahnerverbandes berief eine gemeinsame Sitzung der drei Arbeiterparteien mit den Spitzen der Gewerkschaftsorganisationen gegen die Waffentransporte nach Oberschlesien ein.« [24] Auch eine Reichskonferenz kommunistischer Landarbeiter und Kleinbauern am 5. Juni und eine Reichskonferenz kommunistischer Genossenschaftler am 12. Juni 1921 zeugten von einer Belebung der Massenarbeit.
Wie lebendig die junge Einheitsfrontpolitik war, bewiesen Ereignisse in Bayern, die aber weit über Bayern hinaus von Bedeutung waren. Am 9. Juni 1921 wurde in München der Vorsitzende der USPD-Fraktion im bayrischen Landtag, Karl Gareis, von Reaktionären ermordet. USPD, SPD und KPD riefen zum Proteststreik auf; vom 10.-12. Juni kam es in München zum Generalstreik. Die Zentrale der VKPD rief am 11. Juni zur Unterstützung der Protestbewegung auf, arbeitete die besondere Bedeutung des reaktionären Regimes in Bayern für die deutsche und europäische Reaktion heraus und konstatierte: »In Bayern ist endlich die Einheitsfront des Proletariats im Kampf erstanden!« [25]
Soviel zur Auseinandersetzung zwischen imperialistischer Reaktion und kommunistischer Bewegung in Deutschland von Ende 1920 bis Mitte 1921 und ihrem (neugeborenen) »Kind« – der Einheitsfrontpolitik. Ihren nächsten Schritten wird ein weiterer Artikel gewidmet sein.
Ist das alles nur Geschichte?
Keineswegs. Kernfrage der Entwicklung des Klassenkampfes in Deutschland 1920/1921 war die Formierung und Entwicklung einer marxistischen Partei Leninschen Typs als wichtigstes Element des subjektiven Faktors – ein Prozess vieler Jahre, ja Jahrzehnte; kein geradliniger, häufig widerspruchsvoller Prozess. Völlig klar wurde schon damals – und heute mehr denn je! –, dass diese Partei eine Massenpartei sein muss. Polit-Sekten wie die damalige KAPD, die »linke« Opposition gegen die Einheitsfront oder Anarchosyndikalisten, haben keine Perspektive – sie desorientieren, spalten, lassen Bewegungen ins Leere laufen.
Kernfrage ist immer: Die (wirkliche, nicht bloß beanspruchte oder deklarierte) Mehrheit zu gewinnen. Darin liegt die fundamentale Bedeutung der Einheitsfrontpolitik. Nur über sie führt der Weg zur Macht. Einheitsfrontpolitik erfordert gleichermaßen einen realistischen, illusionslosen Blick auf die angestrebten Partner und einen differenzierten, taktvollen Umgang mit ihnen.
Eine entscheidende Frage ist die reale Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse. Keine Vermengung von Endziel und Teilzielen! Kein isoliertes Vorpreschen (»Avantgardis- mus«)! Und: Keine Initiativen bzw. Aktionen, die zu Konflikten zwischen Streikenden und Arbeitenden, Kämpfenden bzw. aktiv Teilnehmenden und (noch) Abseitsstehenden führen können.
Dies alles sind Probleme aus der Geschichte (vor 100 Jahren!), die auch heute und in der Zukunft noch auf der Tagesordnung stehen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Mitteilungen der KPF, H. 3/2021, S. 25/26.
[2] Vgl. Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VII, 1. Halbbd., Berlin 1966 (im Folgenden: DuM VII/1), S. 446.
[3] Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 142, 26. März 1921.
[4] Vgl. Mitteilungen, H. 3/2021, S. 28.
[5] Vgl. D. Dreetz/K. Gessner, H. Sperling: Bewaffnete Kämpfe in Deutschland 1918-1923, (Berlin 1988), S. 256.
[6] DuM VII/1, S. 459.
[7] K.-H. Leidigkeit/J. Hermann: Auf leninistischem Kurs. Geschichte der KPD-Bezirksorganisation Halle-Merseburg bis 1933, (Halle 1979), S. 150.
[8] Reisberg, Arnold: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik. Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921-1922. Ein Beitrag zur Erforschung der Hilfe W.I. Lenins und der Komintern für die KPD, Berlin 1971 (im Folgenden: Reisberg, Einheitsfrontpolitik), S. 121.
[9] DuM VII/1, S. 452.
[10] Ebenda, S. 454.
[11] Ebenda.
[12] Ebenda, S. 456.
[13] Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 123.
[14] Ebenda, S. 125.
[15] Levi hatte auf dem Parteitag der Italienischen Sozialistischen Partei in Livorno im Januar 1921 die VKPD vertreten und die zentristische Position Serratis unterstützt, der eine Trennung von der rechten Parteiminderheit ablehnte. Als die Kommunistische Internationale zu Recht diese Haltung kritisierte, legte Levi seine Funktionen als Parteivorsitzender und Mitglied der Zentrale nieder.
[16] Vgl. Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 127/128 u. 716, Anm. 22 u. 28.
[17] Die Internationale, 1921, H. 5, S. 168.
[18] Ebenda, H. 7, S. 254.
[19] Vgl. Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 141/142 u. 145.
[20] Vgl. ebenda, S. 142/143.
[21] Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 199, 4. Mai 1921.
[22] Vgl. Mitteilungen, H. 3/2021, S. 25, u. DuM VII/1, S. 438-440.
[23] DuM VII/1, S. 486.
[24] Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 140.
[25] DuM VII/1, S. 494.
Mehr von Heinz Karl in den »Mitteilungen«:
2021-03: 1921: Kommunisten für Aktionseinheit – gegen bürgerlichen Staatsterrorismus (I)
2020-03: Vor 100 Jahren retteten Arbeiter die Republik und »Demokraten« die Reaktion