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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

1921: Kommunisten für Aktionseinheit – gegen bürgerlichen Staatsterrorismus (I)

Prof. Dr. Heinz Karl, Berlin

 

Die gegenwärtige Situation in der Welt und in Deutschland ist durch tiefe Widersprüche gekennzeichnet. Sie eröffnen verschiedene, ja gegensätzliche Perspektiven. Zu konstatieren sind jähe und weittragende – und sich offenbar beschleunigende – Veränderungen im Kräfteverhältnis zwischen dem imperialistischen Kapitalismus und seinem Antipoden, den nach dem Sozialismus strebenden und ihn gestaltenden Kräften und ihren Staaten. Krise und Zusammenbruch des europäischen Frühsozialismus Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts erweckten auf imperialistischer Seite die Erwartung, den sozialistischen Konkurrenten los zu sein und neuer Blüte entgegenzugehen. Der atemberaubende Aufstieg der Volksrepublik China – als Hauptfaktor der den Sozialismus erstrebenden und aufbauenden Kräfte – seit den 90er Jahren erwies dies als kapitalistische Fehlspekulation. Imperialistische Konsequenz war die neoliberale Offensive. Einerseits gedeckt durch die preiswerte Unterstützung von Seiten des sozialdemokratischen und kleinbürgerlichen Reformismus. Andererseits abgesichert durch die systematische Rechtsentwicklung in Staat, Kultur und Medien und die Förderung der diversen revanchistischen, militaristischen und offen neofaschistischen Kräfte. Betrieben wird die Konsolidierung des Aggressionsbündnisses NATO und eine verstärkte Aufrüstung; die Welt steht an der Schwelle eines neuen nuklearen Wettrüstens. [1]

Problematisch ist, dass in den kapitalistischen Ländern, vor allem in Europa und gerade in der BRD, die Mehrheit der Bevölkerung, auch der Arbeiterklasse und der werktätigen Mittelschichten, sich des gefährlichen Kurses der imperialistischen Bourgeoisie nicht bewusst  ist, Teile, mitunter bedeutende, ihn sogar unterstützen. Passivität ist vor allem auf sozialreformistische Beeinflussungen und »grüne« Illusionen zurückzuführen.

Die antikapitalistische Linke ist zersplittert und in nicht unbedeutenden Teilen desorientiert, in unrealistischen Anschauungen befangen.

Eine solche Situation ist keineswegs historisch einmalig. Ein »Griff in die Geschichte« lohnt sich, ja ist zwingend notwendig. Das heutige Geschehen ähnelt in Vielem dem, das in der Welt und in Deutschland vor einem Jahrhundert ablief, und dieses kann uns Heutigen wichtige Lehren vermitteln.

Deutschland 1921

Deutschland litt an den Folgen des imperialistischen Weltkrieges und daran, dass die Revolution 1918/19 in Arbeiterblut ertränkt wurde. Mehr als das: Die über den Kapp-Putsch im März 1920 siegenden, weil vereint handelnden, Arbeitermassen wurden durch die sozialdemokratische Koalitionspolitik um die Früchte ihres Sieges geprellt – und Deutschland hatte seit Juni 1920 wieder eine rein bürgerliche Regierung! Diese wälzte die Lasten einer Weltwirtschaftskrise und der fortschreitenden Inflation auf die Massen ab, bürdete ihnen immer neue Steuerlasten auf und griff rigoros den Achtstundentag an. Die Reallöhne lagen Ende 1920 bis zu einem Drittel unter dem Vorkriegsstand. Das Großkapital nutzte Lohnverfall und Inflation zu beispiellosen Gewinnsteigerungen und formierte Riesenkonzerne wie den von Hugo Stinnes.

Aber das Jahr 1920 schloss mit einem für die werktätigen Massen und Deutschlands Zukunft bedeutenden Erfolg. Auf einem Parteitag vom 4.-7. Dezember 1920 in Berlin vereinigten sich die KPD (Spartakusbund) und die linke Mehrheit der USPD zur Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD), als deutsche Sektion der Kommunistischen Internationale. Damit war der größte Teil der politischen Kräfte links der SPD in einer revolutionären marxistischen Partei vereinigt, einer Partei mit etwa 300.000 Mitgliedern, beachtlichen Positionen in den Betriebsräten und den Freien Gewerkschaften, in Parlamenten und Kommunalvertretungen. Bei den preußischen Landtagswahlen am 20. Februar 1921 erzielte die VKPD 1,2 Millionen Stimmen (7,4 Prozent), das war etwa ein Fünftel der für alle drei Arbeiterparteien abgegebenen Stimmen – in einigen Industriegebieten lag ihr Anteil aber erheblich höher. Im mitteldeutschen Wahlkreis Merseburg (entspricht der südlichen Hälfte des heutigen Landes Sachsen-Anhalt) wurde sie mit 29,8 Prozent wählerstärkste Partei, während SPD und rechte USPD zusammen nur auf knapp 22 Prozent kamen.   

Die erkennbare Tendenz der Klärung und Sammlung auf der Linken beunruhigte zunehmend die an der Festigung der gegebenen Machtverhältnisse interessierten Kräfte – von Kreisen des Großkapitals und der Militärclique über die Staatsbürokratie bis zu den rechts- sozialdemokratischen Koalitionspolitikern. Das gebar Überlegungen und Projekte, dieser Entwicklung durch spürbaren Gegendruck, wenn nicht sogar durch einen erneuten Aderlass Einhalt zu gebieten. Dabei wurde nach den Erfahrungen der Jahre 1918-1920 der mitteldeutsche Raum als Schwerpunkt gesehen.

Die Initiative ging vom militärischen Sektor aus, und das war typisch für dessen enormes politisches Gewicht. Schon Mitte Mai 1920 gab der Chef des Truppenamtes [2] »Richtlinien für die militärischen Operationen beim Ausbruch großer bewaffneter Aufstände im Reich« heraus, die auch von diesem räumlichen Ansatz ausgingen. [3] Bereits im Juni 1920 verschickte die Reichswehrführung an zentrale Zivilbehörden »Richtlinien für eine eventuell erforderliche Säuberungsaktion in Mitteldeutschland« [4]. Die konkreteren Planungen erfolgten durch das (den östlichen Wehrkreisen vorgesetzte) Reichswehrgruppenkommando 1 und das (für den vorgesehenen Operationsraum zuständige) Wehrkreiskommando IV im Zusammenwirken mit dem preußischen Innenminister Severing und dem Oberpräsidenten der Provinz Sachsen, Hörsing. [5] Es  wurde davon ausgegangen, die Operation im wesentlichen mit der preußischen Schutzpolizei auszuführen, die Reichswehr möglichst im Hintergrund zu halten und nur im Notfall einzusetzen. Dies sollte einerseits Teile der Linken zu gewaltsamen Gegenaktionen provozieren, andererseits einer geschlossenen Abwehrfront wie beim Kapp-Putsch vorbeugen.

Mit einer vom sozialdemokratischen Oberpräsidenten der Provinz Sachsen, Otto Hörsing, einberufenen Konferenz am 12. Februar 1921 in Merseburg traten die Vorbereitungen der Provokation in ein akutes Stadium ein. An der Konferenz nahmen sowohl Landräte, Oberbürgermeister und Polizeioffiziere als auch Betriebsdirektoren, Unternehmer und Gutsbesitzer teil. Sie beschloss, im mitteldeutschen Industriegebiet eine »Polizeiaktion zur Herstellung der Staatsautorität« durchzuführen. Weitere Konferenzen am 28. Februar in Magdeburg und am 14. März in Merseburg konkretisierten die Planung der Provokation. [6]

Offener Brief ruft zur Aktionseinheit

Wie der Vereinigungsparteitag Anfang Dezember 1920 in seinen Diskussionen und Beschlüssen bekundete, wollte die VKPD, »verbunden mit den leidenden Massen, ... jede Bewegung, die auf die Linderung der Not abzielt, mit aller Kraft unterstützen« [7]. Sie betrachtete es als erstrangige Aufgabe, für den gemeinsamen Kampf der Arbeitenden und der Arbeitslosen – und die Verfechtung der Interessen letzterer durch die Gewerkschaften –, der Industrie- und Landarbeiter, der Arbeiter und Angestellten, der gewerkschaftlich organisierten und unorganisierten Arbeiter und Betriebsräte zu wirken. [8]

Enorme Bedeutung erlangte eine Entwicklung, die ihren Ausgangspunkt im Herbst 1920 in Stuttgart hatte. Nach Beratungen der KPD-Bezirksleitung Württemberg, vertreten durch Ihren Pol(itischen)-Leiter Hans Tittel, mit Heinrich Brandler und Jacob Walcher von der Zentrale der KPD [9] erarbeitete sie einen Aufruf mit fünf elementaren wirtschaftlichen und politischen Forderungen [10] und dem Verlangen, dass der Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbands (DMV) vom Vorstand des ADGB die Einleitung entsprechender Kampfaktionen fordere. Diese »Stuttgarter Forderungen« wurden von der Delegiertenversammlung des DMV Stuttgart angenommen und von der Ortsverwaltung des DMV am 2. Dezember 1920 in der Presse veröffentlicht (u.a. im Zentralorgan der KPD »Die Rote Fahne«). Sie fanden ein außerordentlich starkes Echo, besonders in Berlin, Rheinland-Westfalen, Südwestdeutschland und an der Wasserkante. [11]

Anknüpfend an die »Stuttgarter Forderungen« und ihre Wirkung beschloss die Zentrale der VKPD in einer ihrer ersten Sitzungen, am 29. Dezember 1920, auf Anregung von Karl Radek [12], sich mit einem Offenen Brief an die anderen in der Arbeiterbewegung wirkenden Parteien und die mit ihnen politisch verbundenen freien und syndikalistischen Gewerkschaften zu wenden. Der »Offene Brief an Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände, Allgemeine Arbeiterunion, Freie Arbeiterunion (Syndikalisten), Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands« [13] wurde am 7. Januar 1921 von einer Konferenz der Zentrale der VKPD mit den Bezirkssekretären beraten und verabschiedet und am 8. Januar im Zentralorgan »Die Rote Fahne« veröffentlicht. Darin schlug die VKPD »sämtlichen sozialistischen Parteien und Gewerkschaftsorganisationen vor, sich ... zu ... im einzelnen noch näher zu besprechenden Aktionen zusammenzufinden« [14] für Anliegen, die allen auf den Nägeln brannten.

Dabei ging es vor allem um die Einleitung von einheitlichen Lohnkämpfen der Arbeiter, Angestellten und Beamten, deren Verbindung zur geschlossenen Aktion; dem Kampf für die Erhöhung der Renten und Arbeitslosenbezüge »unter ausschließlicher Heranziehung des Kapitals für diese Zwecke« [15]. Gefordert wurde die Abgabe verbilligter Lebensmittel an alle Lohn-, niedere Gehalts- und Unterstützungsempfänger unter Heranziehung der Konsumvereine und unter Kontrolle der Gewerkschaften und Betriebsräte; ferner Maßnahmen gegen die Wohnungsnot zu Lasten der Reichen; »Kontrolle der Bestellung, der Ernte und des Verkaufs aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse durch Guts- und Kleinbauernräte in Verbindung mit den Landarbeiterorganisationen« [16];  Entwaffnung und Auflösung aller bürgerlichen Selbstschutzorganisationen und Bildung proletarischer Selbstschutzorganisationen in allen Ländern und Gemeinden; Freilassung aller politischen Gefangenen; Aufhebung der bestehenden Streikverbote; Aufnahme von Handels- und diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland.

Während in der Zentrale der VKPD der »Offene Brief« erarbeitet wurde, hatte sich Georg Ledebour, einer der gewichtigsten zentristischen USPD-Politiker, in der gleichen Richtung geäußert. [17] Das stimmte optimistisch, aber war leider nicht typisch für die Führungsriegen der beiden sozialdemokratischen Parteien und der von ihnen dominierten Gewerkschaften und ihre Presseorgane. [18] Diese stigmatisierten das kommunistische Verständigungsangebot als taktisches Manöver, Wahlschwindel oder »einen Haufen teilweise völlig unsinniger Forderungen« [19].

Umso ermutigender war die Resonanz des »Offenen Briefes« an der Basis. Schon am 9. Januar begrüßte die Generalversammlung des DMV Halle »aufs lebhafteste den ›Offenen Brief‹ der VKPD« und die Generalversammlung des freigewerkschaftlichen Verbandes der Maschinisten und Heizer Breslau ersuchte ihre Organisation, »dahin zu wirken, daß der Offene Brief der VKPD« beschleunigte Annahme findet. Am 10. Januar wurde der »Offene Brief« von der Mitgliederversammlung des DMV München bei nur 8 Gegenstimmen angenommen. Am 11. Januar forderten alle Gewerkschaftsmitglieder der Stettiner Vulkan-Werft »eine einheitliche Aktion gleich dem Vorschlag der VKPD« und am nächsten Tage stimmte der Stettiner Ortsausschuss des ADGB dem »Offenen Brief« zu. [20] Im gesamtdeutschen Maßstab fand der »Offene Brief« ein besonders starkes Echo in Berlin, Leipzig, Stuttgart, im thüringischen Industriegebiet und im Ruhrgebiet. [21]

Diese Resonanz des »Offenen Briefes« erklärt sich vor allem daraus, dass es der VKPD mit dieser Initiative gelungen war, die elementarsten Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt zu stellen, von den täglichen Erfahrungen aller Arbeiter auszugehen, an vielfache lokale und betriebliche Erfahrungen anzuknüpfen. Diese Initiative rief für Millionen sofort den erst vor wenigen Monaten durch ihre gemeinsame Aktion errungenen grandiosen Erfolg der Niederschlagung des Kapp-Putsches in Erinnerung, aber auch viele konkrete Beispiele erfolgreichen gemeinsamen Kampfes. Zudem konnten die Kommunisten daran anknüpfen, dass Sozialdemokraten und Reformisten sich doch selbst ausgiebig der Einheitsparole bedienten. Die Kommunisten bestritten nicht die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten, aber sie rückten sie in den Hintergrund und konzentrierten sich auf die nächsten, gemeinsamen Schritte.     

Sehr schnell fand die neue politische Idee ihre prägnante, bleibende Formulierung. Im »Offenen Brief« vom 8. Januar 1921 wurde sein politisches Anliegen, seine Tendenz noch nicht in einen bestimmten Begriff gefasst. Im nächsten Aufruf der Zentrale der VKPD, eine Woche danach, geht es um »die gemeinsame Front des Proletariats« [22] und die »einheitliche Front des Proletariats« [23]; in einer weiteren Stellungnahme der Zentrale vom 20. Januar 1921 ist die Rede von der »Einheitsfront aller notleidenden Proletarier« [24] und der »Einheitsfront des Proletariats« [25]; seit Anfang Februar 1921 ist die »proletarische Einheitsfront« [26] der feststehende Begriff.   

Mit der Orientierung auf die proletarische Einheitsfront hatte die VKPD als erste Sektion der Kommunistischen Internationale einen neuen Weg beschritten, der schließlich zur Entwicklung der Einheitsfrontpolitik als eines zentralen Bestandteils der Strategie und Taktik der kommunistischen Bewegung führen sollte.

Wie wirkungsvoll der Offene Brief der VKPD war, zeigte sich daran, dass der Vorstand des ADGB schließlich nicht mehr umhin konnte, auf die in der gewerkschaftlichen Basis um sich greifenden Debatten zu reagieren. Am 26. Februar veröffentlichte er 10 Forderungen an die Reichsregierung, die auf eine Verbesserung der Lage der Arbeitslosen und die Zurückdrängung der ansteigenden Massenerwerbslosigkeit gerichtet waren, u.a. nach sofortiger »Inangriffnahme öffentlicher Arbeiten in weitestem Umfange« [27]; bei Vergabe öffentlicher Aufträge die Unternehmer zur Einstellung von Arbeitslosen zu verpflichten und den Unternehmergewinn zu begrenzen; neben den besonders dringenden Erneuerungsarbeiten im Verkehrswesen vor allem den öffentlichen Wohnungsbau zu fördern sowie die Arbeitslosenunterstützung zu erhöhen.

Die VKPD kritisierte, dass die 10 Forderungen dazu verleiten konnten, unbegründete Hoffnungen in die Regierung zu setzen, dass sie vor allem nicht auf Aktionen orientierten.

Aber im Interesse des gemeinsamen Kampfes, erklärte sie am 3. März, würde sie ihre eigenen, weitergehenden Forderungen zurückstellen: »Wir erklären auch hier wieder, daß die VKPD alles tun wird, um die Forderungen des ADGB zu unterstützen und [ihnen] zum Siege zu verhelfen.« [28] In diesem Sinne wurde die »unter der Federführung« [29] der Gewerkschaftsabteilung der Zentrale der KPD entwickelte Kampagne für den Offenen Brief, »die in Mitteldeutschland beginnen sollte« [30], geführt.

Eine blutige Provokation

In die Einheitsfront-Kampagne hinein platzte am 16. März ein provokatorischer Aufruf Oberpräsident Hörsings, in dem er die Verlegung starker Polizeikräfte in »das Industrierevier im Regierungsbezirk Merseburg« ankündigte, um dort einem von ihm an die Wand gemalten Chaos ein Ende zu bereiten. Besonders provozierend wirkte, dass von Hörsing in beispielloser Frechheit seit Generationen übliche, nie beanstandete Handlungen wie Ährenlesen, Mitnahme von Bruchholz von Baustellen usw. in »Raub und Plünderungen ..., Banden-, Einzeldiebstähle, Terror, Sachbeschädigungen, Erpressungen und Körperverletzungen« [31] umgelogen wurden, um den Einsatz massierter und brutaler Polizeigewalt zu rechtfertigen. Am 19. März, einem Sonnabend (also am Wochenende, als der relativ geringste Widerstand möglich war), besetzten Schutzpolizei-Verbände Hettstedt und Eisleben im Mansfelder Land sowie Positionen im Leunarevier. Insgesamt waren über 2.500 Mann Schutzpolizei im Einsatz, die am 20. März noch durch fast 400 Mann aus Berlin verstärkt wurden, und die nicht nur über Pistolen und Karabiner, sondern auch über Maschinengewehre und Maschinenpistolen verfügten. [32]

Am 17. März – an diesem Tage ging der provokatorische Aufruf Hörsings durch die Presse – tagte der Zentralausschuss der VKPD. Heinrich Brandler (seit Februar 1921 mit Walter Stoecker Vorsitzender der Zentrale) referierte über die politische Lage und die Aufgaben der VKPD. Er ging von einer unrealistisch übertriebenen Sicht auf die Zuspitzung der internationalen und inneren Konflikte aus und rechnete mit dem Eintreten einer Situation, »die Ereignisse wie vor einem Jahr oder ähnlich auszulösen imstande« [33] wäre. Daraus zog er die Schlussfolgerung: »Wir müssen unsere Tätigkeit in den Organisationen unmittelbar auf die Aktion einstellen« [34]. Das war verbunden mit einer gefährlichen Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses: der Übermacht der gut organisierten und bis an die Zähne bewaffneten Reaktion (Reichswehr, Polizei, Einwohnerwehren) über die gespaltene und weitestgehend entwaffnete Arbeiterschaft sowie eine übertriebene Darstellung von Masseneinfluss, organisatorischer Stärke und Aktionsfähigkeit der VKPD. [35]

Aber es gab auch Bedenken und Widerspruch. Insbesondere Emil Höllein (Thüringen) warnte vor einer Überschätzung des Wirkens der außen- und innenpolitischen Konflikte und vor allem der eigenen Kräfte. [36] Letztere Sorge bewegte auch Edwin Hoernle, Alfred Oelßner (Halle-Merseburg) und Hans Tittel (Württemberg) und ließ sie vor voreiligen Aktionen warnen. [37] Eduard Alexander (Ludwig) verlangte rigoros, »bei der alten Taktik« (des Offenen Briefes) »zu bleiben, diese Taktik in die Praxis umzusetzen und nicht eine neue Taktik einzuschlagen«. [38]

Massiv unterstützt wurde Brandlers Offensivkurs durch Vertreter der »linken« Parteiströmung wie den Berliner Ernst Friesland (bekannter unter seinem Klarnamen Ernst Reuter) und den Hamburger Hugo Urbahns. [39]

Der Zentralausschuss nahm einen Beschluss an, der im wesentlichen der von Brandler entwickelten Linie und nicht der realen Situation entsprach. Als Kampfziele stellte er zuerst den Sturz der reaktionären Koalitionsregierung, des weiteren ein Schutz- und Trutzbündnis mit Sowjetrussland sowie die Entwaffnung der Konterrevolution und Bewaffnung der Arbeiter. Erst danach wurden die allen Werktätigen gemeinsamen elementaren sozialpolitischen Forderungen – die im Vordergrund und Mittelpunkt des Offenen Briefes vom 7./8. Januar 1921 standen – gestellt. Es unterblieb der wichtige Appell an die anderen in der Arbeiterklasse wirkenden Parteien und Organisationen. [40] Dieser Beschluss war nicht geeignet, die VKPD in der durch die Polizeiprovokation noch komplizierter werdenden Situation zu orientieren. Dass er bei nur einer Gegenstimme angenommen wurde, ist offenbar darauf zurückzuführen, dass zur neuen Linie kritisch Eingestellte nicht Zweifel an der Einheit der Partei aufkommen lassen wollten.

Der provokatorischen Polizeiaktion schlug von Anfang an Widerstand entgegen. Die VKPD war bemüht, die blutige Rechnung der Severing-Hörsing nicht aufgehen zu lassen. Severing hat es selbst eingestanden: Wäre die Provokation nicht gelungen, dann »wäre das Gewitter nicht zur Entladung gekommen, die Schwüle aber geblieben. Das aber war ja der Zweck der Polizeiaktion, ... durch eine gründliche Entwaffnungsaktion das Gebiet zu befrieden.« [41] Noch am 19. März fanden in Eisleben, Halle, Leuna und anderen Orten Mitteldeutschlands Protestversammlungen statt; spontane Proteststreiks brachen aus, denen sich in Mitteldeutschland etwa 150.000 Arbeiter, Landarbeiter und Angestellte anschlossen. Angesichts der Empörung wandte sich die VKPD-Bezirksleitung Halle-Merseburg, um gewaltsamen Gegenaktionen und Blutvergießen vorzubeugen, am 19. März mit einem Aufruf »An die Arbeiterschaft Mitteldeutschlands!«, in dem es hieß: »Verweigert eure Arbeitskraft überall dort, wo man eure Arbeitsstätte durch Militär oder Si[cherheits]po[lizei] besetzt! Duldet nicht, daß eure friedliche Wohnstätte ein Aufmarschgelände der Konterrevolution wird!« [42]

Die Lage eskalierte, als am 22. März die in Eisleben einmarschierte Polizei mit Waffengewalt gegen die Teilnehmer einer soeben beendeten Protestversammlung vorging, einen der Protestierenden tötete und mehrere verletzte. [43] Nun bildeten sich in Eisleben und anderen Orten des Mansfelder Landes mehrere bewaffnete Arbeitergruppen, die in der Nacht zum 23. März gegen die Stützpunkte der drei in Eisleben stationierten Polizeikompanien vorgingen und sie für einige Tage blockierten, verbunden mit der Aufforderung, Eisleben zu verlassen. Ähnliches spielte sich in Hettstedt ab. [44] Es bedurfte des Einsatzes von rd. 2.000 Mann Schutzpolizei und einer Haubitzen-Batterie der Reichswehr, um bis zum 27. März die Kontrolle über das Mansfelder Land zurückzugewinnen. [45]

Den anderen Schwerpunkt des Widerstandes in Mitteldeutschland bildete das Leuna-Revier. Alarmiert durch die Vorgänge in Eisleben, beschloss am 23. März eine Protestkundgebung von mehr als 10.000 Arbeitern, in den Generalstreik zu treten und sich zu bewaffnen, wozu ein Kampfausschuss gebildet wurde. Dieser organisierte die Entwaffnung des Werkschutzes, übernahm die Kontrolle über das Werk und stellte 11 Schützenkompanien und eine Radfahrkompanie auf, konnte allerdings den Mangel an Waffen (nur 200-300 Gewehre) nicht beheben. Beachtlich war die Herstellung eines provisorischen Panzerzuges, der mit vier Maschinengewehren armiert war, zahlreiche Kontrollfahrten unternahm und am 25. März einen Polizeivorstoß zum Stehen brachte. [46]

Nachdem Versuche des Kampfausschusses und des Betriebsrates, eine unblutige Lösung zu erzielen, brüsk zurückgewiesen worden waren, gingen am 29. März weit über 2.000 Mann Schutzpolizei und eine Haubitzen-Batterie der Reichswehr zum Angriff auf das Werk über, beginnend mit einer Artilleriekanonade. Die größtenteils unbewaffneten Arbeiter hatten keine Chance. Viele waffenlose Arbeiter (die Angaben schwanken zwischen 30 und 70) wurden ermordet – die Polizei hatte einen Toten und mehrere Verwundete zu beklagen. Etwa 1.700 Arbeiter wurden von der Polizei festgenommen und in zwei fensterlose Silos mit Betonfußboden gesperrt, schikaniert und gefoltert. [47]

Bewaffnete Kämpfe von Arbeitern mit Polizei und Reichswehr fanden auch in anderen Teilen Mitteldeutschlands statt, so am 29. März in Gröbers bei Halle, wo eine aus Bitterfeld heranziehende Arbeiterkolonne eine Technische Hundertschaft mit zwei Maschinengewehren und einem Minenwerfer zerschlug. [48] Solidaritätsaktionen gab es auch in der Lausitz, im Ruhrgebiet, in Mannheim und in Thüringen. In Hamburg beschloss die VKPD-Bezirksleitung am 22. März, die Besetzung der Betriebe durch die Erwerbslosen zu organisieren. Am 23. März besetzten Erwerbslose und revolutionäre Arbeiter die größten Hamburger Werften. Eine Massenversammlung am Nachmittag auf dem Heiligengeistfeld wurde durch ein vom sozialdemokratischen Polizeisenator eingesetztes Polizeiaufgebot zusammengeschossen – 24 Tote und 30 Verwundete waren die Bilanz. [49]

Daraufhin rief die Zentrale der VKPD am 24. März zum Generalstreik auf. [50]

(Fortsetzung und Schluss im nächsten Heft)

 

Anmerkungen:

[1]  Interessante und wichtige Äußerungen zu dieser Problematik brachten die Mitteilungen in ihrer Berichterstattung von der letzten Bundeskonferenz (Heft 12/2020, S. 1-13) sowie im Oktoberheft (10/2020, S. 2-14).

[2]  Im Versailler Vertrag hatte sich Deutschland verpflichtet, den Generalstab aufzulösen. Diese Auflage wurde dadurch umgangen, dass die meisten seiner Bereiche im Rahmen anderer Institutionen weitergeführt wurden. Seine wichtigsten, die operativen Bereiche wurden im Truppenamt der Heeresleitung zusammengefasst. Es war faktisch der Generalstab der Reichwehr.

[3]  Nuß, Karl: Militär und Wiederaufrüstung in der Weimarer Republik (Berlin 1977), S. 102.

[4]  Dieter Dreetz/Klaus Gessner/Heinz Sperling: Bewaffnete Kämpfe in Deutschland 1918-1923 (Berlin 1988), S. 217.

[5]  Nuß, K.: Militär und Wiederaufrüstung, S. 103.

[6]  Vgl. Wimmer, Walter: Zur Frage der Provokation in den Märzkämpfen 1921. In: Die Märzkämpfe 1921. Protokoll einer wissenschaftlichen Beratung am 28. Februar 1956, Berlin 1956; K. Nuß, Militär und Wiederaufrüstung, S. 103; Karl-Heinz Leidigkeit/Jürgen Hermann: Auf leninistischem Kurs – Geschichte der KPD-Bezirksorganisation Halle-Merseburg bis 1933, Halle 1979, S. 128 u. 145; Dreetz/Gessner/Sperling: Bewaffnete Kämpfe, S. 219. – Für diese und alle im Artikel behandelten Fragen sehr aufschlussreich ist: Stefan Weber, Der Kampf des revolutionären deutschen Proletariats im März 1921 gegen die Schupoprovokation, Phil. Diss., Berlin 1969.

[7]  Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VII, 1. Halbbd. (im Folgenden: DuM VII/1), S. 368.

[8]  Vgl. ebenda, S. 387/388 u. 392/393.

[9]  Vgl. Tjaden, Karl Hermann: Struktur und Funktion der KPD-Opposition (KPO). Eine organisationssoziologische Untersuchung zur »Rechts«-Opposition im deutschen Kommunismus zur Zeit der Weimarer Republik, Meisenheim/Glan 1964, S. 90/91.

[10]  Die »Stuttgarter Forderungen« lauteten: (1) Gegen den Wucher und für die Herabsetzung der Preise der täglichen Bedarfsgegenstände. (2) Für die Aufnahme der vollen Produktion und Anpassung der Erwerbslosenunterstützung an die Verdienste der in Arbeit Stehenden auf Kosten der Arbeitgeber. (3) Für die Beseitigung des Steuerabzugs, die Einziehung der Besitzsteuern und großen Vermögen. (4) Für die Kontrolle der Rohstoffgewinnung der Betriebe, der Lebensmittelgewinnung und -verteilung durch die Betriebsräte, Gewerkschaften und Genossenschaften. (5) Entwaffnung der Orgesch und Bewaffnung der Arbeiter unter Kontrolle der Gewerkschaften. (DuM VII/1, S. 355/356)

[11]  Vgl. Reisberg, Arnold: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik. Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921-1922. Ein Beitrag zur Erforschung der Hilfe W.I. Lenins und der Komintern für die KPD, Berlin 1971 (im Folgenden: Reisberg, Einheitsfrontpolitik), S. 51-53.

[12]  Karl Radek (Karl Bernhard Sobelsohn,1885-1939), 1919-1924 Mitglied des ZK der KPR(B) und des EKKI, leitete dessen Westeuropäisches Büro, das seinen Sitz in Berlin hatte, und nahm deshalb häufig an Beratungen deutscher Parteigremien teil.

[13]  Vgl. DuM VII/1, S. 410-412.

[14]  Ebenda, S. 410.

[15]  Ebenda, S. 411.

[16]  Ebenda.

[17]  Vgl. Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 53.

[18]  Vgl. ebenda, S. 57-60.

[19]  Vorwärts (Berlin), 8. Januar 1921, Abendausgabe.

[20]  Vgl. Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 61/62.

[21]  Vgl. ebenda, S. 64.

[22]  DuM VII/1, S. 413.

[23]  Ebenda, S. 414 u. 416.

[24]  Ebenda, S. 417.

[25]  Ebenda, S. 421.

[26]  Ebenda, S. 426; vgl. auch S. 435 und 436.

[27]  Ebenda, S. 438.

[28]  Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 104, 3. März 1921.

[29]  Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 90.

[30]  Ebenda.

[31]  Dreetz/Gessner/Sperling: Bewaffnete Kämpfe, S. 220.

[32]  Vgl. ebenda, S. 222-224.

[33]  Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 95.

[34]  Ebenda.

[35]  Vgl. ebenda, S. 96/97.

[36]  Vgl. ebenda, S. 102.

[37]  Vgl. ebenda, S. 101/102.

[38]  Ebenda, S. 102.

[39]  Vgl. ebenda, S. 103.

[40]  Vgl. DuM VII/1, S. 442.

[41]  Severing, Carl: Mein Lebensweg, Bd. II, Köln 1950, S. 322.

[42]  DuM VII/1, S. 443.

[43]  Vgl. Dreetz/Gessner/Sperling: Bewaffnete Kämpfe, S. 225.

[44]  Vgl. ebenda, S. 226-229.

[45]  Vgl. ebenda, S. 234-237.

[46]  Vgl. ebenda, S. 246-248.

[47]  Vgl. ebenda, S. 249-252.

[48]  Vgl. ebenda, S. 259/260.

[49]  Vgl. Reisberg, Einheitsfrontpolitik, S. 113.

[50]  DuM VII/1, S. 445-447.

 

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