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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zur Aktualität der Nürnberger Prozesse nach fünfundsiebzig Jahren

Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg

 

In Eric Hobsbawms Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts »Das Zeitalter der Extreme« aus dem Jahr 1994 hatten die Nürnberger Prozesse noch keinen Platz. Zwischen dem »Ende der Imperien« und dem »Kalten Krieg«, wo diese Prozesse ihren Ort haben müssten, tauchen sie nicht auf. »Das Zeitalter der Extreme« scheint dieses erste Weltgericht der Menschheitsgeschichte in den Augen des Historikers ohne nennenswerte Markierung verschluckt zu haben. Er war damit nicht allein. In einer Entscheidung vom 9. Januar 1959 sprach der Bundesgerichtshof schon vor Jahrzehnten das aus, was die Mehrzahl der Juristen und wahrscheinlich ein großer Teil der Bevölkerung über den Wert der Urteile damals dachte. Der Gerichtshof wollte die Urteile wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wegen Kriegsverbrechen nicht anerkennen, weil er rechtliche Bedenken wegen der Art hatte, in der ein Teil der Urteile zustande gekommen war und wegen des sachlichen Rechts, auf dem sie beruhten.

1. Die Gerechtigkeit der zivilisierten Welt

Verfolgen wir daher kurz die Entstehungsgeschichte des Militärtribunals. Es waren nicht die Alliierten, die als erste von einer gerichtlichen Ahndung der Kriegsverbrechen sprachen, sondern die Vertreter der Exilregierungen von neun besetzten Ländern. Sie bildeten am 13. Januar 1942 im St. James Palace in London die Inter-Alliierte Kommission zur Bestrafung von Kriegsverbrechen und traten mit der sogenannten Erklärung von St. James an die Öffentlichkeit. Sie warnten vor Vergeltung durch Racheakte und meinten, »der Gerechtigkeitssinn der zivilisierten Welt [...] verlange, dass die Signatarmächte es zu einem ihrer Hauptkriegsziele erklärten, jene, die sich dieser Verbrechen schuldig gemacht hätten oder die dafür verantwortlich seien, sei es dass sie sie befohlen, begangen oder gemeinschaftlich mit anderen ausgeführt haben, in einem Gerichtsverfahren abzuurteilen und zu bestrafen.« [1]

Churchill und Roosevelt griffen die Idee erst später auf, und auch Stalin war für einen Internationalen Gerichtshof. Allerdings blieben die Russen der noch im selben Jahr in London gegründeten United Nations War Crimes Commission (UNWCC) fern. Sie sollte Beweismaterial über die Kriegsverbrechen sammeln und sichten. Auf der Moskauer Konferenz Anfang November 1943 wurden der Kommission dann die Hauptkriegsverbrecher entzogen, um ihre Bestrafung den Alliierten selbst vorzubehalten –  »sie werden durch gemeinsamen Beschluss der Regierungen der Verbündeten bestraft werden«, hieß es im letzten Absatz der Moskauer Erklärung.

Hannah Arendt und Karl Jaspers waren sich allerdings einig, dass der Völkermord der Nazis juristisch überhaupt nicht fassbar sei. »Das Böse hat sich als radikaler erwiesen als vorgesehen. Äußerlich gesprochen: Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgeschrieben«. »Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und bricht alle Rechtsordnungen«, schrieb H. Arendt. Und Jaspers antwortete ihr anlässlich des Eichmann-Prozesses: »Das Politische hat einen mit Rechtsbegriffen nicht einzufangenden Rang (der Versuch, dies zu tun, ist angelsächsisch und eine Selbsttäuschung zur Verschleierung einer Grundtatsache der Wirkungen politischen Daseins).« [2]

Obwohl die UNWCC eher ein Schattendasein bei der Beweissammlung für Kriegsverbrechen führte, entsprach sie doch ganz wesentlich, was sich mit der Zeit als ein zentraler Aspekt von Sinn und Zweck der Strafverfolgung herausstellte und der US-amerikanische Chefankläger Justice Robert H. Jackson folgendermaßen formulierte:

»Eine gut dokumentierte historische Darstellung dessen, was nach unserer Überzeugung ein großangelegter, konzertierter Plan war, die Aggressionen und Barbareien anzuzetteln und zu verüben, die die Welt schockiert haben … Wenn wir diese (Nazi-)Bewegung nicht klar und präzise dokumentieren, dann können wir künftigen Generationen keinen Vorwurf daraus machen, wenn sie die im Krieg geäußerten allgemeinen Beschuldigungen in Friedenszeiten für unglaublich halten. Wir müssen unglaubliche Ereignisse durch glaubwürdige Beweise festhalten.« [3]

2. Ein neues Völkerrecht

Es ging also um mehr als um Strafe, Vergeltung und Sühne, die sich in Urteil und Vollstreckung erfüllen. Es ging auch um mehr als die Rechtfertigung der eigenen Opfer oder um die Begründung der Besetzung Deutschlands und harter Sanktionen. Spätestens seit Pearl Harbour (7. Dezember 1941) und Stalingrad (1942/43) hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der NS-Staat nicht lediglich ein besonders aggressiver und expansiver Vertreter blanker Machtpolitik, sondern ein durch und durch verbrecherischer und totalitärer Staat war. Am 17. Dezember 1942 hatten die USA und die europäischen Mitglieder der Vereinten Nationen die deutsche Regierung gemeinsam in einer öffentlichen Erklärung beschuldigt, »eine bestialische Politik der Auslöschung des jüdischen Volkes in Europa« gemäß »Hitlers oft wiederholter Intention« zu betreiben. Wenn auch die Judenverfolgung weitgehend als innere Angelegenheit des Deutschen Reiches angesehen wurde, in Verbindung mit den Überfällen auf Polen und Frankreich formten sich jedoch die beängstigenden Umrisse eines Verbrecherstaates von bisher unbekannter Skrupellosigkeit. Es ging also um die Dokumentation der Barbarei, um die Prävention des Vergessens, um Fußangeln auszulegen auf dem Weg der Verdrängung. Dieses Ziel sollte nicht auf das deutsche Volk beschränkt bleiben: Die Regierungen der Welt sollten abgeschreckt werden, in Zukunft zum Mittel des Krieges zu greifen – ein legitimer Präventionsgedanke, der allerdings den Beweis seiner Tauglichkeit immer noch schuldig ist. Was speziell die Zukunft Deutschlands betraf, so sollten die Militärgerichtsverfahren der deutschen Justiz als Pilotprozesse dienen, nach denen sie die Masse der kleineren Kriegsverbrecher aburteilen sollte – ein Ziel, an dem die deutsche Nachkriegsjustiz die Nürnberger Prozesse später definitiv scheitern ließ.

Doch es ging um noch mehr. Es ging um die Fortentwicklung des Völkerrechts. Dazu war entsprechend der Dogmatik und Geschichte des angelsächsischen Common Law die richterliche Entscheidung besonders geeignet, die von Zeit zu Zeit die Anpassung überkommener Rechtsprinzipien an neue Situationen vornahm. Das Common Law hatte sich nicht auf Grund von Parlamentsgesetzen fortentwickelt und ebenso hatte es keine Rechtsentwicklung durch die Völkerbundversammlung gegeben und sollte es auch keine durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen geben. Sie war also den Verträgen der Staaten überlassen und die Stunde der Neukonstruktion der Völkergemeinschaft nach dem Krieg musste genutzt werden, um auch in Ächtung des Krieges voranzukommen. In den Worten Jacksons: »In friedlichen Zeiten wird man in der Tat nur langsam zu einem wirksamen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in der internationalen Völkergemeinschaft gelangen. Auf der Gemeinschaft der Nationen lastet die Trägheit schwerer als auf irgendeiner anderen Gemeinschaft. Doch heute befinden wir uns in einem jener seltenen Augenblicke, in denen das Denken, die Institutionen und Gewohnheiten der Welt von den Auswirkungen des Weltkriegs auf das Leben unzähliger Millionen Menschen nachhaltig erschüttert worden sind. Solche Gelegenheiten ergeben sich nur selten, und sie vergehen rasch. Wir haben eine schwere Verantwortung zu tragen: Wir müssen danach trachten, dass unser Vorgehen in dieser unsicheren Zeit dazu beiträgt, auf der ganzen Welt das Interesse an einer strafferen Durchsetzung international geltender Rechte und Verhaltensregelungen zu wecken, um jenen den Krieg zu vergällen, in deren Händen sich die Macht und das Schicksal ganzer Völker befindet.« [4]

Nicht ohne Hintersinn wird immer wieder Stalins Trinkspruch auf der Teheraner Konferenz der Großen Drei Ende November 1943 zitiert, in dem er die Erschießung von etlichen 50.000 Stabsoffizieren und Sachverständigen empfahl, um die militärische Schlagkraft für immer zu brechen. Obwohl ganz offensichtlich im Scherz und als Stichelei gegen Churchill gemeint, gilt sie bis heute als Beweis sowjetischer Exekutionsgelüste. Übergangen wird dabei zumeist, dass ein Jahr zuvor im November 1942 der sowjetische Botschafter in London, Iwan Maiski, dem englischen Außenminister Eden in einer Note die Errichtung eines Internationalen Gerichtshofes zur Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher vorgeschlagen hatte. Dieser Vorschlag traf jedoch auf die scharfe Ablehnung Edens und Churchills, die zu jener Zeit noch nichts von einem Internationalen Gerichtshof wissen wollten, sondern der Idee einer Aburteilung, sprich Hinrichtung, auf der Grundlage eines nationalen politischen Schnellverfahrens anhingen. »Napoleonischer Präzedenzfall« wurde dieser Vorschlag von Lord Simon genannt, da Napoleon seinerzeit auch ohne Prozess auf die Insel St. Helena verbannt worden war. Roosevelt, auf hartem Kurs gegen Deutschland, stimmte dem Plan gemeinsam mit dem Morgenthau-Plan im Herbst 1944 zu. Doch es war Stalin, der im Oktober 1944 gegenüber Churchill in Moskau einen »unerwartet überkorrekten Standpunkt«, wie es Churchill berichtete, einnahm. Er beharrte darauf, dass es kein Todesurteil ohne Gerichtsprozess geben könne, allenfalls lebenslänglich. Diese Linie verfocht er auch im Februar 1945 gegenüber Churchill und Roosevelt in Jalta, während letzterer bis zu seinem Tode am 12. April 1945 daran festhielt, dass für die Hauptnaziführer ein vollständiges Gerichtsverfahren nicht in Frage komme. Erst Truman änderte die amerikanische Position und übernahm die sowjetische Forderung nach Errichtung eines Internationalen Gerichtshofes, der sich dann auch Eden Anfang Mai 1945 anschloss. Truman bat Robert H. Jackson, als Chefankläger nach Europa zu gehen und die Prozesse vorzubereiten, womit die Amerikaner die Führung bei der Planung und Errichtung des internationalen Gerichtshofes übernahmen.

Jackson hatte das Projekt Nürnberg in einen Rahmen gestellt, der mehr umfassen sollte, als lediglich ein Strafgericht gegen die Hauptverantwortlichen des Krieges. Seine Hoffnungen in die präventiven Wirkungen eines solchen Prozesses waren gering, er setzte auf die Kodifizierung eines Strafrechts, welches den politisch Verantwortlichen die Konsequenzen zukünftiger Kriegstreiberei und skrupelloser Kriegführung drastisch vor Augen führen sollte, um die Chancen des Friedens zu erhöhen. »Denn wir dürfen niemals vergessen,« betonte Jackson in seiner Anklageschrift, »dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Den Angeklagten einen Giftbecher reichen, heißt, ihn auch an unsere eigenen Lippen setzen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit soviel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.« [5]

Er traf damit auf breite Zustimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit. Die Zähmung des Krieges und die Schaffung einer Friedensordnung nach dem Krieg bauten auf die Organisation der Vereinten Nationen und die Bindung aller Mitglieder durch die gemeinsam geschaffene Völkerrechtsordnung. Dies war das Vermächtnis, welches US-Präsident Wilson in seinen berühmten 14 Punkten in die Idee eines kollektiven Sicherheitssystems auf der Basis einer für alle Staaten verbindlichen Rechtsordnung gefasst und es der bis dahin gültigen Großmachtpolitik des »Gleichgewichts der Kräfte« entgegenstellt hatte. Es erlebte mit dem Völkerbund seinen ersten Versuch, der jedoch schon vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges gescheitert war. Nichtsdestotrotz wurde die Idee einer Friedensordnung auf der Basis des Rechts noch während des Krieges mit den Vereinten Nationen wiederbelebt. 

3. Die Strafbarkeit des Angriffskrieges

Einer der Hauptstreitpunkte der spannungsreichen Londoner Verhandlungen im Juli 1945 zwischen den vier Delegationen – die Franzosen waren anders als bei den parallelen Verhandlungen der Regierungschefs in Potsdam hinzugekommen – bestand in der Frage, ob die Strafbarkeit eines Angriffskrieges in den Katalog der Völkerrechtsverbrechen aufgenommen werden sollte. Dies hatte Jackson zum obersten Ziel des Prozesses erklärt, um nicht nur für diesen Fall, sondern ein für allemal den Angriffskrieg aus dem Arsenal der Nationen zu bannen und strafrechtlich zu sanktionieren. Diese Frage hatte schon die Pariser Kommission von 1919 beschäftigt, denn dass Deutschland den Krieg gewollt und begonnen hatte, war nicht zweifelhaft gewesen. Doch zur Bestrafung der Auslösung eines Krieges fehlte es damals ganz offensichtlich an einer völkerrechtlichen Grundlage: »Die vorsätzliche Eröffnung eines Angriffskrieges [...] ist ein Verhalten, das die Weltmeinung verwirft und das die Geschichte verdammen wird; aber wegen des rein freiwilligen Charakters der Haager Institutionen zur Erhaltung des Friedens [...] kann ein Aggressionskrieg nicht als Verstoß gegen geltendes Recht angesehen werden.« [6]

Jackson wollte diese Rechtsgrundlage nun für alle Nationen und alle Zukunft schaffen. Er berief sich dabei auf den Briand-Kellogg-Pakt von 1928, in dem der Krieg erstmalig geächtet, aber noch nicht mit einer Strafsanktion belegt worden war. Mehr noch zog er die Geschichte des englischen Common Law heran, welches sich nicht durch Parlamentsgesetze, sondern durch einzelne Entscheidungen von Fall zu Fall mit der Anpassung der alten Prinzipien an neue Situationen fortentwickelt. Er sah die Zeit nach dem Weltkrieg, dessen Auswirkungen das Leben von Millionen Menschen tief erschüttert hatte, als günstigen Ausgangspunkt an, die »Trägheit der Gemeinschaft der Nationen« zu überwinden und ein neues Kapitel des Kriegsvölkerrechts aufzublättern.

Widerspruch gegen diesen Plan kam von den Russen und Franzosen. Nikitschenko wollte die Ächtung des Krieges auf die Aggression durch die Achsenmächte beschränken während der französische Sachverständige Professor André Gros grundsätzlich bestritt, dass es im damaligen Völkerrecht eine Strafbarkeit des Angriffskrieges gebe. Eine derartige Entscheidung führe zu einer unzulässigen, rückwirkenden Bestrafung: »… solche Handlungen zu strafrechtlichen Verletzungen des Völkerrechts zu erklären, ist schockierend. Das ist eine Kreation von vier Leuten, die eben nur vier Individuen sind – von diesen vier Leuten als strafrechtliche Verletzung des Völkerrechts bestimmt. Solche Handlungen sind seit Jahren bekannt, ohne dass sie zu strafrechtlichen Verletzungen des Völkerrechts erklärt worden sind. Das ist ex post facto Gesetzgebung.« [7] Und auf die politische Differenz deutend, machte er den entscheidenden Unterschied deutlich, dass »die Amerikaner den Prozess mit der Begründung gewinnen wollen, dass der Nazikrieg unrechtmäßig war; während das französische Volk und die anderen Völker der besetzten Länder einfach zeigen wollen, dass die Nazis Banditen waren.« [8]

Dies ist in der Tat ein fundamentaler Unterschied, der – gleichgültig, ob er wirklich die Völker trennte – auf das Wilsonsche Erbe in der amerikanischen Außenpolitik zurückging. Das Projekt des Völkerbundes, dessen Idee zwar aus dem britischen Foreign Office stammte, die sich Wilson aber zu eigen gemacht hatte und fortan als sein Projekt vorantrieb, beruhte auf der Vision, das kriegsanfällige System des Gleichgewichts der Kräfte auf eine neue Basis zu stellen. Mit der Wiener Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons galt das Prinzip des Gleichgewichts der Großmächte als die dauerhafteste Grundlage zur Sicherung des Friedens. Dieses Prinzip war mit einem anderen überkommenen Prinzip eng verbunden, dem der Legitimität. Das erklärte zwar die Souveränität der Großmächte für unantastbar, nicht jedoch die der schwächeren Staaten, die vor revolutionären Entwicklungen auch durch Eingriffe von außen geschützt werden sollten. Spätestens mit der russischen Revolution und dem ersten Weltkrieg hatte sich jedoch dieses Ordnungsmodell als unfähig erwiesen, seine raison d’être zu erfüllen, wenigstens die Großmächte vor Krieg zu schützen. Wilson wollte ein anderes Paradigma an seine Stelle setzen und das Gleichgewicht der Kräfte durch ein System kollektiver Sicherheit, die Legitimität durch die Legalität ersetzen. Das grundsätzlich Neue dieses Konzepts war die Gründung der internationalen Ordnung auf eine juristische Charta, die Gültigkeit für alle Staaten beanspruchte. Das Prinzip der Legitimität, welches allein die Großmächte privilegierte, sollte durch eine alle Staaten gleich behandelnde Legalordnung abgelöst werden, die auch die Großmächte rechtlich verpflichtet. Das ganze System des Völkerbundes mit Charta, Versammlung und Ständigem Internationalem Gerichtshof sollte diese neue Ordnung etablieren.

Jackson stand unzweifelhaft in dieser Tradition und wollte mit den Londoner Statuten einen Beitrag zur Kodifizierung der internationalen Beziehungen leisten, der sich nicht nur auf die Abrechnung mit den Nazis bezog, sondern Gültigkeit für die Zukunft beanspruchte. Er trieb die Auseinandersetzung um den späteren Artikel 6 (Definition der Verbrechenstatbestände) bis zur Einkalkulierung eines Bruches, der die Prozesse in nationale Verantwortung gelegt hätte. Der Kompromiss, dem die vier Parteien dann am 2. August 1945 zustimmten, war in der strittigsten Frage des »Verbrechens gegen den Frieden« schließlich zu Jacksons Gunsten ausgegangen. Er hatte die russische Beschränkung auf die Achsenmächte in die Präambel gesetzt und damit eine allgemeine Strafbarkeit des Angriffskrieges durchgesetzt. Dafür hatte er jedoch an einem anderen Punkt eingelenkt, der den Russen wichtig war.

Ursprünglich enthielt der amerikanische Entwurf eine von Oberst Murray Bernay, einem New Yorker Rechtsanwalt, ersonnene Anklage wegen krimineller Verschwörung, mit der auch die Verbrechen an den deutschen Juden vor dem Krieg abgeurteilt werden konnten. Sie müssten als gezielte Vorbereitung späterer Kriegsverbrechen gefasst werden, die von den Naziorganisationen untereinander vor dem Krieg vereinbart worden waren. So glaubte Bernay den Forderungen der American Jewish Conference und des War Refugee Board nach einer Bestrafung der Judenverfolgung vor dem Krieg nachkommen zu können. Er hatte dazu auch noch die Zustimmung Roosevelts erhalten. Dafür musste rechtstechnisch die Verschwörung nur auf alle Verbrechenstatbestände des Artikel 6 bezogen werden, um den im anglo-amerikanischen Recht bekannten Tatbestand der Verabredung zu einer strafbaren Handlung (conspiracy) auf die Gräueltaten der SS an den Juden vor dem Krieg anwenden zu können. Das missfiel den Russen ebenso wie den Franzosen, die darin ebenfalls die Schaffung neuen Rechts sahen. In den Schlussverhandlungen legten die Engländer einen Entwurf vor, der die Verschwörung nur noch in Zusammenhang mit dem Angriffskrieg brachte, was eine plausible Anklage der Judenverfolgung als Vorbereitung zum Angriffskrieg kaum mehr erlaubte. Jackson erhob keinen Einspruch, hatte er doch »seinen« Angriffskrieg als Verbrechenstatbestand gerettet. Auch hatten die anderen Delegationen den zweiten Vorschlag Bernays akzeptiert, die Naziorganisationen selbst unter Anklage zu stellen, um damit alle ihre Mitglieder allein aufgrund des Nachweises ihrer Mitgliedschaft und der Kenntnis von Organisationsverbrechen bestrafen zu können.  

4. Das Rückwirkungsverbot

Die Absicht der vier Delegationen, mit dem »Statut für den Internationalen Militärgerichtshof« eine unanfechtbare rechtliche Grundlage für die Verfahren zu schaffen und für die Zukunft geklärt zu haben, welche Tatbestände nach internationalem Recht strafbar seien, erfüllte sich nicht. Die Diskussion über den Verstoß gegen die Maxime »nullum crimen nulla poena sine lege« dauert insbesondere bei dem »Verbrechen gegen den Frieden« bis in unsere Tage an. Die Richter des Militärgerichtshofes sahen die Frage als entschieden an, da es nicht ihre Sache sein konnte, die Rechtmäßigkeit des Statuts zu überprüfen. Dennoch setzten sich die Richter auch inhaltlich mit der von der Verteidigung vorgebrachten Rüge des Verstoßes gegen das »ex-post-facto-Verbot« auseinander. Das Urteil enthielt eine Passage über »Das Recht des Statuts«, welche Richter Biddle in der Sitzung des 30. Septembers 1946 verlas. Die Rechtsetzungsbefugnis der Alliierten und der Rechtscharakter des Statuts waren von der Verteidigung insgesamt in Zweifel gezogen worden. Dieser Vorwurf musste zunächst zurückgewiesen werden: »Die Ausarbeitung des Statuts geschah in Ausübung der souveränen Macht der Gesetzgebung jener Staaten, denen sich das Deutsche Reich bedingungslos ergeben hatte; und das nicht angezweifelte Recht jener Länder, für die besetzten Gebiete Gesetze zu erlassen, ist von der zivilisierten Welt anerkannt worden. Das Statut ist keine willkürliche Ausübung der Macht seitens der siegreichen Nationen, sondern ist nach Ansicht des Gerichts, wie noch gezeigt werden wird, der Ausdruck des zur Zeit der Schaffung des Statuts bestehenden Völkerrechts; und insoweit ist das Statut selbst ein Beitrag zum Völkerrecht.« [9]

Die Sätze offenbaren die Schwierigkeiten, in denen sich die Richter dennoch befanden: Wäre es wirklich nur um die Auflistung und Zusammenfassung des bestehenden Völkerrechts gegangen, wäre die Anrufung der »Macht der Gesetzgebung« überflüssig gewesen. Richtig ist allerdings ihr Souveränitätsanspruch, der auf der bedingungslosen Kapitulation und der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 beruhte, die volle Regierungsgewalt in Deutschland zu übernehmen. Daraus folgt die uneingeschränkte Verbindlichkeit nicht nur des Londoner Viermächteabkommens mit seiner Anlage, sondern auch des Potsdamer Dreimächteabkommens vom 2. August 1945 für Deutschland.

Gegenüber dem zentralen Vorwurf des Verstoßes gegen den Grundsatz »nullum crimen nulla poena sine lege« sprach Hauptankläger Jackson zunächst der Verteidigung die moralische und rechtliche Legitimation ab: »Man möge sagen, es sei neues Recht, das hier angewendet wurde, und dass die Verkündung dieses Rechts die Angeklagten has taken by surprise. Ich kann nicht leugnen, dass diese Männer überrascht sind, dass dieses das Recht ist. Um es klar zu sagen: Sie sind überrascht, dass da überhaupt so etwas wie Recht ist. Diese Angeklagten vertrauten nicht auf irgendwelches Recht überhaupt. Ihr Programm leugnete und verhöhnte jedes Recht [...] diese Männer können nicht beanspruchen, dass solch ein Grundsatz, der in manchen Rechtssystemen Gesetze mit rückwirkender Kraft verbietet, auch für sie wirksam sein müsse. Sie können nicht beweisen, dass sie sich jemals in irgendeiner Lage auf das Völkerrecht gestützt oder im geringsten darum gekümmert hätten.« [10]

Die Richter beließen es nicht bei dieser zweifellos angemessenen Ohrfeige, sondern beriefen sich darauf, dass es sich bei der Maxime um einen allgemeinen Grundsatz der Gerechtigkeit handele, der die Souveränität der Staaten aber nicht einschränke. So sei es nur gerecht, jemand zu bestrafen, der wisse, dass er als Angreifer Unrecht tue, es sei aber ungerecht, ihn straffrei zu lassen. Dieses Unrecht ergebe sich aus der bedingungslosen Ächtung des Krieges durch den Briand-Kellogg-Pakt vom 27. August 1928, den seinerzeit auch das Deutsche Reich unterzeichnet hatte. Ein Verstoß gegen diesen Vertrag sei eindeutig ein völkerrechtliches Verbrechen, dessen Strafbarkeit sich aus den internationalen Dokumenten und Diskussionen der Zwischenkriegszeit ergebe. Ein weiteres Beispiel enthalte die Haager Konvention von 1907, die die Anwendung bestimmter Kriegsmethoden verbiete. Viele derartiger Verbote bestanden sogar schon vor der Haager Konvention. Ihr Resümee: »Aber seit 1907 stellte ihre Verletzung zweifelsohne ein Verbrechen dar, das als Verletzung des Kriegsrechts strafbar war. Dennoch stellte die Haager Konvention nirgends fest, dass solche Handlungen verbrecherisch seien, noch ist irgendwo eine Strafe vorgeschrieben, noch wurde irgendwie ein Gerichtshof erwähnt, der die Rechtsverletzer zur Verantwortung ziehen und bestrafen solle. Dennoch haben seit vielen Jahren Militärgerichtshöfe Personen, die der Verletzung der in dieser Konvention festgelegten Regeln der Landkriegführung schuldig waren, zur Verantwortung gezogen und bestraft. Dieser Gerichtshof ist der Ansicht, dass diejenigen, die einen Angriffskrieg führen, etwas tun, was ebenso rechtswidrig und von viel größerer Bedeutung ist als der Bruch einer Bestimmung der Haager Konvention.« [11]

5. Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Das Urteil [12] entsprach letztlich in dieser bis heute so strittigen Frage dem Stand der internationalen Völkerrechtswissenschaft, die auch im Falle des Angriffskrieges die Strafbarkeit legitimierte.

Auch bei dem Tatbestand der »crimes against humanity« sahen sich die Londoner Delegationen den gleichen Problemen des Rückwirkungsverbots gegenüber. Wie bereits erwähnt, fanden sie einen eher taktischen Ausweg aus den erheblichen juristischen Schwierigkeiten, die sich nicht nur daraus ergaben, dass der Völkermord an der jüdischen Bevölkerung bereits vor 1939 begonnen hatte, sondern dass die Opfer zu dieser Zeit überwiegend Deutsche waren. In Artikel 6c banden sie die Strafbarkeit dieser allgemeinen Menschlichkeitsverbrechen an die kriegsbezogenen Verbrechen der Absätze a und b, womit der Kriegsbeginn im Jahr 1939 als strafrechtliche Zäsur eröffnet wurde. Der Militärgerichtshof ergriff diesen Ausweg mit einer allenfalls die Formalisten befriedigenden Begründung: »Die vor dem Krieg von 1939 in Deutschland durchgeführte Politik der Verfolgung, Unterdrückung und der Ermordung von Zivilpersonen, von denen eine gegen die Regierung gerichtete Einstellung zu vermuten war, wurde auf das erbarmungsloseste durchgeführt. Die in der gleichen Zeit vor sich gehende Verfolgung der Juden ist über jeden Zweifel festgestellt. Um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begründen, müssen die vor Ausbruch des Krieges begangenen und hier herangezogenen Handlungen in Ausführung eines Angriffskrieges oder in Verbindung mit einem der Zuständigkeit dieses Gerichtshofes unterstellten Verbrechen verübt worden sein. Der Gerichtshof ist der Meinung, dass, so empörend und entsetzlich viele dieser Verbrechen waren, doch nicht hinreichend nachgewiesen wurde, dass sie in Ausführung eines Angriffskrieges oder in Verbindung mit einem derartigen Verbrechen verübt worden sind. Der Gerichtshof kann deshalb keine allgemeine Erklärung dahingehend abgeben, dass die vor 1939 ausgeführten Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Statuts waren. Aber seit Beginn des Krieges im Jahr 1939 sind Kriegsverbrechen in großem Umfang begangen worden, die auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren[...]« [13] Man wollte die Vernichtung der eigenen Bevölkerung den Strafgerichten der Deutschen selbst überlassen – eine Aufgabe, die die Gerichte nur selten angenommen haben und schließlich zu dem führte, was Ralph Giordano die »Zweite Schuld« nannte. Erst Ende 1995 hat der Bundesgerichtshof die Auseinandersetzung der bundesdeutschen Justiz mit der NS-Vergangenheit kritisiert. [14]

Es folgten ab 1947 noch zwölf weitere Prozesse, die die USA nunmehr allein gegen die Führungsgruppen der Nazi-Diktatur in der Bürokratie, in der Justiz, in der Wehrmacht, in der Wirtschaft, in der Ärzteschaft und in der SS, wegen der Planung und Durchführung staatlicher Großverbrechen führten. Auch diese Prozesse sind in der Bundesrepublik lange Zeit fast vollständig verdrängt worden. Die ausgewählten Prozessmaterialien, die die USA zu jedem Prozess in den berühmten grünen Bänden publiziert und an alle Gerichte und Justizbehörden als Anschauungsmaterial für künftige Prozesse in der Bundesrepublik verteilt hatten, fanden sich alsbald in den Buchantiquariaten wieder.

6. Das Vermächtnis von Nürnberg

Die UNO-Generalversammlung hatte noch prompt nach dem Urteil am 11. Dezember 1946 mit ihrer Resolution 95 (I) die dem Statut und dem Urteil zugrunde liegenden Rechtsprinzipien als geltendes Völkerrecht anerkannt und die Völkerrechtskommission beauftragt, ein internationales Strafrecht zu entwickeln. Bereits 1950 legte die Kommission zwei Berichte vor, die zum einen die Nürnberger Prinzipien in einem völkerrechtlichen Verbrechenskodex zusammenfasste und darauf aufbauend ein Völkerstrafrecht für die Zukunft versuchte zu formulieren. Sie bildeten seitdem die Grundlage für die langen, immer wieder unterbrochenen Arbeiten zur Entwicklung eines materiellen Völkerstrafrechts und des dazu gehörigen Internationalen Gerichtshofs.

Die Völkerrechtskommission war sich schon frühzeitig einig, das strafrechtliche Verfahren auf Individuen zu beschränken und nicht auf den Staat als abstrakte Rechtsperson auszudehnen. Den einzelnen Tätern sollte dabei weder das Handeln in amtlicher Eigenschaft noch auf Befehl Immunität verschaffen – an der staatlichen Souveränität sollte kein Strafverfahren scheitern. Einigkeit wurde auch darüber erzielt, dass kein umfassendes internationales Strafgesetzbuch geschaffen werden sollte, sondern sich der Katalog auf zentrale Verbrechen mit einem politischen Gehalt beschränken sollte. Damit schieden z.B. Piraterie, Geldfälscherei, Terrorismus, Menschen- und Drogenhandel aus und die Strafbarkeit konzentrierte sich auf die Nürnberger Trias: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Der Grund für diesen Rückzug ist der gleiche, der die gesamten Verhandlungen so in die Länge gezogen hat und die Errichtung eines ständigen Strafgerichtshofes so kompliziert erscheinen lässt: der Widerstand gegen die Durchbrechung der nationalen Souveränität. Hier geht es um mehr als um die Grenzziehung zwischen nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit, sondern um die Angst vor der Einmischung in die internen Angelegenheiten, vor allem, wenn der Gerichtshof evtl. ohne Zustimmung und gegen den Willen eines Staates anklagen und gegen ihn verhandeln kann. Die Bedeutung und Notwendigkeit eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs leuchtet aber schließlich nur ein, wenn er auch gegen den Willen des betroffenen Staates das Verfahren aufnehmen kann, weil die nationale Strafgerichtsbarkeit keine ausreichende Strafverfolgung garantiert.

Auf diesem Weg spielen die beiden Tribunale für Jugoslawien (JT) und Ruanda (RT), die 1993 und 1994 vom UN-Sicherheitsrat eingerichtet wurden, zweifellos eine hervorragende Rolle. Bemerkenswert ist zunächst, dass nicht die UNO-Generalversammlung oder ein völkerrechtlicher Vertrag ähnlich dem Londoner Statut die Tribunale errichtet haben, sondern der UN-Sicherheitsrat. Dieser sah in der Einrichtung der Tribunale eine Maßnahme der Friedenssicherung im Rahmen des Kapitel VII der UN-Charta, die daher für alle Staaten verbindlich ist. Damit war von Anfang an klar, dass die Tribunale nicht als Modell für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof konzipiert wurden. Denn der Draft Code der Völkerrechtskommission ging von einem völkerrechtlichen Vertrag aus, der allein der souveränen Gleichheit und dem Prinzip der Freiwilligkeit entspricht. Die Tribunale wurden ad hoc für eine begrenzte Aufgabe und für einen begrenzten Zeitraum geschaffen. Die Tatbestände wurden auf Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschränkt, auf Verbrechen gegen den Frieden wurde verzichtet. Allerdings wurden die Tatbestände konkretisiert, so dass z.B. »schwere Verletzungen der Genfer Konventionen von 1949 (Art. 2 JT) sowie Folter, Vergewaltigung und Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen (Art. 5 JT) bestraft werden können. Zudem stattete der Sicherheitsrat die Tribunale mit viel weitergehenden Untersuchungskompetenzen aus, als sie das Nürnberger Tribunal hatte. Sie können in jedem Staat Ermittlungen durchführen, ihre Haftbefehle müssen überall befolgt werden und ihre Auslieferungsersuchen gehen jedem Auslieferungsvertrag vor, dies gilt auch für eigene Staatsangehörige (Art. 29 JT). Das Tribunal hat Vorrang vor jeder nationalen Gerichtsbarkeit und kann jedes beliebige Verfahren vor einem nationalen Gericht an sich ziehen (Art. 9 Abs. II JT, Art. 8 Abs. II RT). Das Tribunal kann also in jede nationale Gerichtshoheit eingreifen, eine außergewöhnliche Kompetenz, die die Völkerrechtskommission für den ständigen Strafgerichtshof abgelehnt hat. Auch vom Verbot der Doppelbestrafung, welches in den meisten nationalen Strafordnungen besteht, dispensiert das Statut das Tribunal, wenn es zu der Auffassung kommt, dass das nationale Gerichtsverfahren nicht in Ordnung gewesen ist (Art. 10 Abs. II JT).

Wie auch immer die Arbeit der beiden ad hoc Tribunale bewertet wird, sie haben die Debatte um die Notwendigkeit eines ständigen internationalen Gerichtshofes und seine Verfassung außerordentlich angeregt. Überhaupt hat erst die eingestandene Unfähigkeit, mit politischen und militärischen Mitteln derartigen sozialen Katastrophen wie den Gräueltaten beim Auseinanderfall Jugoslawiens und dem Völkermord in Ruanda beizukommen, den Gedanken an eine justizförmige »Bearbeitung« der Konflikte wieder aufleben lassen. Dass sich dabei der UN-Sicherheitsrat der Tribunale als Hilfsorgane und Instrumente der Friedenssicherung nach Art. 39 ff. UN-Charta bediente, hatte ihm diese nicht in die Wiege gelegt. Die Staaten haben diesem Schritt nicht nur zugestimmt, sondern zugleich um die Forderung nach einem ständigen internationalen Strafgerichtshof erweitert.

Es hat gut 50 Jahre gedauert, bis die Pläne der UNO, aus den Nürnberger Kriegstribunalen eine internationale Strafgerichtsbarkeit zu entwickeln, verwirklicht wurden. Im Juli 1998 verabschiedeten 120 Staaten in Rom das Statut zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs. [15] Vier Jahre später, am 1. Juli 2002, trat es in Kraft, nachdem die 60. Ratifikationsurkunde hinterlegt worden war. Es umfasst vier Straftatbestände: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Letzteres – im Nürnberger Statut Verbrechen gegen den Frieden – wurde allerdings erst 2010 in Art. 8bis im Römischen Statut geregelt und im Dezember 2017 zum 17. Juli 2018 als Straftatbestand aktiviert. Der Internationale Strafgerichtshof wurde in Den Haag eingerichtet und nahm 2003 seine Arbeit auf.

Das Echo der Welt war überaus positiv, der Gerichtshof wurde als bedeutender Erfolg des Völkerrechts gefeiert, 84 Staaten (heute 122) traten dem Statut bei. Doch die Vorbehalte der Staaten, die schon das Römische Statut abgelehnt hatten und unter ihnen insbesondere die USA, konnten nicht überhört werden. Obwohl sie in der Rhetorik der US- Administration einen deutlichen Wandel erfahren haben – von der schroffen Bekämpfung zu Zeiten von Präsident Bush bis zu Anzeichen der Unterstützung unter Präsident Obama –, bestehen sie im Kern weiter und stehen einem vertraglichen Beitritt der USA nach wie vor entgegen. Denn letztlich lehnt die politische Klasse der USA, gleichgültig, ob durch Republikaner oder Demokraten repräsentiert, eine verpflichtende internationale Strafgerichtsbarkeit für sich und ihre Bürgerinnen und Bürger ab.

Was sie für Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner begrüßt, lehnt sie für sich ab. Sie hat bis heute nicht das emphatische Bekenntnis ihres Chefanklägers Jackson in dem Nürnberger Prozess, welches gerade seine Legitimierung in den Augen der Weltöffentlichkeit begründen sollte, akzeptiert: »Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu setzen.«

Für US-Präsident Trump und seine Administration eine selbstmörderische Provokation. Sie drehen den Spieß um und bedrohen denjenigen, der die Kriegsverbrechen von US-amerikanischen GI in Afghanistan an die Öffentlichkeit gebracht hat, Julian Assange, mit faktisch lebenslanger Isolierhaft. Der Generalanwältin des IStGH Fatou Bensouda und ihren Mitarbeitern verweigern sie die Einreise in die USA, um mögliche Täter zu befragen, und bedrohen sie bei ihrer Untersuchung dieser Verbrechen mit Repressalien.

In dem Moment, in dem sich der Gerichtshof von dem Druck zu befreien beginnt, seine Strafverfolgungen nur auf Afrika und Asien auszurichten und die manifesten Verbrechen von NATO-Staaten in den Blick zu nehmen, fallen die USA zurück in die imperiale Arroganz des 19. Jahrhunderts, die das Recht der Macht ohne Zögern unterordnet. Das Vermächtnis von Nürnberg, die Nürnberger Prinzipien, werden auch diese Rückschläge überwinden und sich letztlich durchsetzen. Das bedarf jedoch selbstbewusster Staaten, die sich diesem Missbrauch entschlossen entgegenstellen.              

Norman Paech, Jahrgang 1938, Jurist und ab 1975 Professor für Politische Wissenschaft in Hamburg, war für DIE LINKE von 2005 bis 2009 Mitglied des Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion.

 

Anmerkungen:

[1]  Zitiert nach T. Taylor, Die Nürnberger Prozesse, München 1992, S. 41.

[2]  H. Arendt, K. Jaspers, Briefwechsel 1926 – 1969, München, Zürich 1993, S. 202, 90, 450.

[3]  Zitiert nach T. Taylor (Anm.1), S. 74.

[4]  Bericht vom 7. Juni 1945, zitiert nach T. Taylor (Anm.1), S. 75.

[5]  Anklagerede vom 21. November 1945, in: Der Prozess der Hauptkriegsverbrecher vor dem IMT Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Amtliche Sammlung, Bd. 1, Nürnberg 1947, S. 118.

[6]  Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, Report presented to the Preliminary Peace Conference, in: American Journal of International Law (14) 1920, S. 118.

[7]  Verbot rückwirkender Gesetze, Verstoß gegen den Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege (kein Verbrechen, keine Strafe ohne vorheriges Gesetz).

[8]  Zitiert nach Taylor (Anm. 1), S. 90.

[9]  Amtliche Sammlung, (Anm. 5), Bd. 22, S. 523 ff.

[10]  Zitiert nach S. Jung, Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse, Tübingen 1992, S. 149 unter Berufung auf die Amtliche Ausgabe, Bd. 2, S. 170. Dort allerdings ein inhaltlich zwar gleicher, wörtlich anderer Text.

[11]  Amtliche Sammlung, (Anm. 5), Bd. 22, S. 526.

[12]  Nur Heß wurde allein wegen »Verbrechens gegen den Frieden« zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, was Wilhelm Grewe noch 1989 als Justizirrtum bezeichnete, W. Grewe: Rückblick auf Nürnberg, in: Kai Heilbronner u.a.: Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für Karl Doehring. Heidelberg 1989, S. 229 ff, 249. Dönitz, Frick, Funk, Göring, Jodl, Keitel, Ribbentrop, Rosenberg und Seyß-Inquart wurden u.a. wegen »Verschwörung bzw. Verbrechens gegen den Frieden« verurteilt.

[13]  Amtliche Sammlung (Anm. 5), Bd. 1, S. 285 f.

[14]  BGH v. 16. November 1995, Neue Justiz 1996, S.156. Der Verdacht liegt nahe, dass dies nur deshalb geschah, um eine justizielle Auseinandersetzung mit der untergegangenen DDR auf der Basis von Grundsätzen zu ermöglichen, die man auf NS-Verbrechen nicht anwenden wollte.

[15]  Sieben Staaten, VR China, Irak, Israel, Jemen, Katar, Libyen und USA stimmten dagegen, 21 Staaten enthielten sich der Stimme.

 

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