Zum Wohnungsbauprogramm der DDR
Egon Krenz, Siegfried Lorenz, Helmut Müller, Gerhard Poser [1]
Vom Datum her ist es wahrscheinlich ein Zufall: Der Beschluss des SED-Zentralkomitees vom 2. Oktober 1973 über das Wohnungsprogramm der DDR fällt mit dem 100. Jahrestag der Schrift von Friedrich Engels »Zur Wohnungsfrage« [2] zusammen. Inhaltlich dagegen gibt es einen Zusammenhang. Die Wohnungsfrage spielte in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung eine zentrale Rolle. In der DDR gehörte ihre Lösung als soziales Problem zu den Grundwerten des Sozialismus. Sie galt als Kernstück des sozialpolitischen Programms, das vom VIII. SED-Parteitag beschlossen worden war, der vor 45 Jahren, vom 15. bis 19. Juni 1971, stattfand.
Das Erbe, das Ostdeutschland 1945 und die DDR 1949 übernommen hatten, war katastrophal. Fast 30 Prozent des städtischen Wohnraums, in großen Städten über 50 Prozent, waren zertrümmert. Der Wohnungsbestand in Ostdeutschland hatte sich von 5.100.000 Wohnungen im Jahre 1939 auf 4.800.000 Wohnungen im Jahre 1946 verringert, während die Einwohnerzahl durch Umsiedlungen im gleichen Zeitraum von 16,8 Millionen auf 18,5 Millionen anstieg. Wenn bestimmte Politiker und Medien heute behaupten, die SED habe die ostdeutsche Wirtschaft ruiniert, wird absichtlich vergessen, dass nichts zum Herunterwirtschaften da war. Die DDR ist im wahrsten Sinne des Wortes aus Ruinen auferstanden.
Den Grundstein für Neues legten die legendären Trümmerfrauen. In den Dörfern entstanden infolge der Bodenreform Neubauernhäuser, die auch dazu beitrugen, Umsiedlern eine neue Heimat zu geben. Unvergessen für die erste DDR-Generation ist das »Nationale Aufbauwerk«. Kaum ein freiwilliger Einsatz ohne das Lied: »Aufbausonntag ist heute wieder, die Trümmer schmelzen wie Schnee geschwind. … Weit wie der Himmel, hell wie die Sonne und schön bauen wir die Häuser ... Wir rufen: Hau ruck, hau ruck! Wir packen zu, und die Häuser erblühen! Hau ruck, hau ruck! Für unser junges Berlin« [3].
Zu 100 Prozent erfüllt
Das Wohnungsbauprogramm der siebziger und achtziger Jahre steht in dieser Tradition und hatte zugleich eine neue Qualität. Das Ziel sah vor, durch Neubau bzw. Modernisierung im Zeitraum von 1971 bis 1990 2,8 bis 3 Millionen Wohnungen zu schaffen. Alle, die sich mit der Materie auskennen, bestätigen: Diese anspruchsvolle Aufgabe wurde zu 100 Prozent erfüllt. Einige Historiker oder Ökonomen, die dem aktuellen Trend folgen, alles schlecht zu reden, was in der DDR geschaffen wurde, misstrauen dieser Tatsache. Der 1990 durch die Bundesrepublik übernommene Wohnungsbestand der DDR jedoch straft sie Lügen. Zudem: Die Gesamtkosten der DDR für das Wohnungsbauprogramm betrugen mehr als 300 Milliarden Mark. Dazu kamen jährlich bis zu 8 Milliarden Mark für die Subvention der niedrigen Mieten. Konkret: Pro eine Mark Miete kamen zwei Mark aus dem Staatshaushalt dazu, Bestandteil – wie es damals hieß – der zweiten Lohntüte.
Teil des Wohnungsbaus und der Modernisierung war ein einzigartiger Plan für den Ausbau der städtischen Infrastruktur. Dazu zählten der Neubau von Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten, von Kultur-, Jugend- und Gesundheitseinrichtungen, von Handels- und Dienstleistungseinrichtungen sowie der Ausbau der Verkehrsverbindungen, der Wasser- und Abwasserentsorgung, der Post- und Fernmeldeverbindungen. Beispielsweise standen 1988 für 3- bis 6-jährige Kinder zu 100 Prozent Kindergärtenplätze zur Verfügung. Wenn heute die Bedingungen für die Unterbringung in den Kindereinrichtungen Ostdeutschlands wesentlich besser als in Westdeutschland sind, dann hängt das auch mit dem Wohnungsbauprogramm der DDR zusammen.
Mit dem komplexen Wohnungsbau verbesserten sich für über 10 Millionen Bürger, weit mehr als die Hälfte der DDR-Bevölkerung, die Wohn- und Lebensverhältnisse. Die Ausstattung der Wohnungen mit Innen-WC, mit Bad bzw. Dusche und moderner Heizung erhöhten ihre Lebensqualität erheblich. Gemessen an diesem Resultat und an den ökonomischen Möglichkeiten der DDR ist das eine bemerkenswerte Leistung, die nicht hoch genug bewertet werden kann. Hinzu kommt, dass der Preis für einen Quadratmeter Wohnraum über die Jahre hinweg stabil zwischen 0,80 und 1,20 Mark der DDR lag. Die Mieten betrugen im Durchschnitt weniger als 3% des Haushaltseinkommens eines Arbeiter- und Angestelltenhaushaltes. Bedenkt man, dass heutzutage die Kosten fürs Wohnen oft bei 40 bis 50 Prozent des Einkommens liegen, erkennt man den hohen sozialen Standard des DDR-Mietniveaus. Gleichwohl hatte dieser einmalige soziale Aspekt auch negative volkswirtschaftliche Wirkungen. Zum sozialen Aspekt gehört auch die Tatsache, dass Wohnungen vorrangig für Arbeiterfamilien und für junge Eheleute nach der Devise gebaut wurden: Nicht Luxuswohnungen für wenige, sondern gute Wohnungen für alle.
Niedrige Mieten, Sanierung von Altbauten
Obwohl das mengenmäßige Ziel des Wohnungsbauprogramms erreicht wurde, gab es Ende 1989 noch 770.000 registrierte Wohnungsanträge. Das nährte auch bei den Betroffenen Zweifel ob der Realität der Aufgabe, die Wohnungsfrage als soziales Problem lösen zu können. Geschichtsverdreher ziehen daraus den irrigen Schluss, das Wohnungsbauprogramm sei nicht erfüllt worden. Sie übersehen absichtlich, dass es 1989 gegenüber der Zahl privater Haushalte rechnerisch sogar einen Überschuss an Wohnungen gab.
Was die Staatsführung allerdings unterschätzt hatte, war die Tatsache, dass die soziale Errungenschaft »Niedrige Miete« Bewohnern großer Wohnungen keinen Anreiz bot, vorhandenen Wohnraum rationell zu nutzen. Einzelpersonen blieben oft in ihren großen Wohnungen, auch wenn Kinder oder Ehepartner schon lange nicht mehr zum Haushalt gehörten. Das war keine Frage des Wohnungsneubaus, sondern der Wohnungspolitik, die mit den neuen Bedürfnissen vieler Bürger nicht immer Schritt hielt.
Nicht unerwähnt kann in diesem Zusammenhang bleiben, dass die Sanierung von Altbauten nicht unbedingt mehr Wohnraum schuf. Im Gegenteil. Während es in den Altbauten sehr viel marode Ein- und Zweiraumwohnungen gab, musste familiengerechter Wohnraum mit modernem Standard geschaffen werden. Bei dem Beispielvorhaben »Modernisierungsgebiet Arnimplatz« in Berlin-Prenzlauer Berg wurde deutlich, dass nach der Modernisierung von 8.000 Wohnungen nur noch 6.500 sanierte Wohnungen zur Verfügung standen. Auch aus solchem Grund wurde dem Neubau von Wohnungen in industrieller Bauweise der Vorzug gegeben. Ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, das Wohnungsbauprogramm zu erfüllen.
Wer heute in die deutsche Hauptstadt kommt, begegnet nach einem Vierteljahrhundert noch immer auf Schritt und Tritt vielen Ergebnissen des Wohnungsbauprogramms der DDR. Es sind nicht nur die neugebauten und modernisierten Wohnungen, die drei neuen Stadtbezirke Marzahn, Hellersdorf und Neu-Hohenschönhausen, in denen 240.000 Berliner wohnen, sondern auch Kulturbauten hohen nationalen Ranges, wie das Schauspielhaus, die Friedrichwerdersche Kirche, der Französische und der Deutsche Dom, das Nikolai-Viertel mit der historischen Nikolai-Kirche und dem Ephraim-Palast, der Friedrichstadtpalast, der Pionierpalast in der Wuhlheide, das Zeiss-Planetarium und anderes, was entweder neu aufgebaut oder rekonstruiert wurde.
Diese von der DDR aufgebauten oder neu errichteten Bauwerke wie auch das Leipziger Gewandhaus oder die Semperoper in Dresden werden von den heute Regierenden gern für nationale und internationale Veranstaltungen genutzt. Der DDR bösartig nachzusagen, sie sei pleite gewesen, sie habe nur Marodes hinterlassen, aber ungeniert den Eindruck zu erwecken, diese einmaligen Bauwerke gäbe es nur, weil sie angeblich durch selbsternannte Befürworter gegen den Willen der DDR-Führung entstanden seien, ist mehr als dreist. In diesen und anderen Kleinoden, die im Zusammenhang mit dem Wohnungsbauprogramm entstanden waren, steckt der Fleiß von Millionen DDR-Bürgern und die Überlegung der Staatsführung, dass das materielle und kulturelle Lebensniveau des Volkes eine Einheit bilden sollten.
Negative Folgen und abwertende Urteile
Selbstredend hatte ein so großes Vorhaben wie das Wohnungsbauprogramm auch negative Folgen. Dazu gehört, dass die vorrangige Orientierung auf den Neubau von Wohnungen dazu beitrug, die Rekonstruktion der Altbausubstanz in größeren Städten zu vernachlässigen. Der Zerfall nicht weniger altstädtische Wohngebiete rief den Unmut von Bürgern hervor und gehört heute zum Negativerbe der DDR. Durch alle Bezirke der Republik wurden in der DDR-Hauptstadt, auch und besonders durch die »FDJ-Initiative Berlin«, einzigartige Leistungen vollbracht. Das Berlinprogramm fand aber häufig nicht die Zustimmung der Bevölkerung außerhalb Berlins, weil aus den Bezirken bedeutende Baukapazitäten und dringend benötigte Arbeitskräfte abgezogen wurden, die dort dringend gebraucht wurden.
Über Geschmack, auch bei Architektur und Städtebau, lässt sich bekanntlich streiten. So gibt es unter der Bevölkerung bis in die Gegenwart hinein unterschiedliche Meinungen über Vor- und Nachteile der sogenannte »Platte« und der Großsiedlungen. Bemerkenswert ist allerdings, dass ausgerechnet aus westlicher Richtung gegen DDR-Plattenbauten ziemlich abwertende Urteile kommen. Das ist insofern Teil einer ideologisch ausgerichteten Debatte, weil Plattenbauten auch in der alten Bundesrepublik keine Seltenheit waren. Auch im Westteil Berlins und in Großstädten der alten Bundesrepublik gibt es Wohngebiete in analoger Bauweise. Das Beispiel zeigt erneut, dass es in der Beurteilung der DDR durch die Bundesrepublik keine Gleichheit vor der deutschen Geschichte gibt.
Eine kulturpolitische Untat war der Umgang der Regierenden mit dem »Palast der Republik«, der inzwischen abgerissen wurde. Da das Gutachten über die Asbestbelastung des Palastes öffentlich nicht bekannt ist, bleibt offen, ob nicht eine Sanierung mit vertretbarem Aufwand möglich gewesen wäre. Öffentliche Gebäude im Westen, die in dieser Zeit mit gleichem Baustoff entstanden, überlebten. Das lässt nur den Schluss zu, dass der Palast sterben musste, weil er ein »Haus des Volkes« war, das symbolisch für die DDR stand. Von Unvernunft und Dummheit zeugt auch die Tatsache, dass in den vergangenen 25 Jahren wertvoller Wohnungsbestand, Schulen, Kindergärten und Jugendclubs vernichtet wurden. In den ostdeutschen Ländern wurden 130.000 Wohnungen abgebrochen. Die dafür Verantwortlichen lamentieren inzwischen über mangelnden bezahlbaren Wohnraum.
Es heißt: Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers. Nicht um ein Feindbild geht es. Aber um die Wahrheit. Manche Historiker oder selbsternannte Hobbyhistoriker fühlen sich von Zeitzeugen in ihrem vorgefassten Bild über die DDR gestört. Für Menschen, die das Wohnungsbauprogramm und seine Auswirkungen erlebt haben, also Zeitzeugen sind, sollte es zum aktuellen Lebensinhalt gehören, an Kinder und Kindeskinder weiterzugeben, wie ihr Leben in der DDR wirklich war.
Anmerkungen:
[1] Egon Krenz, letzter Generalsekretär des ZK der SED. Siegfried Lorenz, Mitglied des Politbüros und Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung von Karl-Marx-Stadt. Helmut Müller, Mitglied des ZK der SED und langjähriger Zweiter Sekretär der SED-Bezirksleitung von Berlin. Gerhard Poser, Stellvertreter des Ministers für Bauwesen und anschließend Sekretär für Bauwesen der SED-Bezirksleitung von Berlin.
[2] Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, Marx-Engels-Ausgabe, Dietz-Verlag Berlin 1962, Bd. 18, S. 209-287.
[3] Liederbuch der FDJ, Verlag Neues Leben, Berlin 1954.
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