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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ein lohnender Versuch, vom Kalten Krieg zur Entspannung überzugehen

Egon Krenz, Dierhagen

 

Wie eine Sensation ging am 1. August 1975 ein Foto um die Welt: Links Bundeskanzler Helmut Schmidt, rechts US-Präsident Gerald Ford und in der Mitte Erich Honecker. Als gleichberechtigte Partner unterzeichneten sie die Schlussakte der Europäischen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE). Dem Foto beigefügt war eine historische Botschaft: Sieben sozialistische Länder, dreizehn neutrale und fünfzehn NATO-Staaten, darunter die USA und Kanada, hatten sich geeinigt, den Status quo in Europa anzuerkennen. Das bedeutete, die Unverletzlichkeit der Grenzen, einschließlich der zwischen der BRD und der DDR, zu achten, die Souveränität und die territoriale Integrität der Staaten anzuerkennen, sich nicht in innere Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, die Unterschiedlichkeit der Staaten zu respektieren und die Menschenrechte zu achten.

Das Ende der Hallstein-Doktrin – die Einmischung blieb

Die Konferenz und ihre Vorbereitung waren ein lohnenswerter Versuch, in Europa vom Kalten Krieg zur Entspannung überzugehen. Rückblickend wurde die Schlussakte wohl das wichtigste Friedensdokument in Europa seit der Antihitlerkoalition. Gleichwohl wurde besonders von den NATO-Staaten kein anderes Dokument so uminterpretiert wie die Helsinkiakte. Für die NATO wurde die Vereinbarung zu einem Instrument der Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten umfunktioniert. Als Willy Brandt 1985 Erich Honecker besuchte, fasste selbst er diesen Tatbestand in die Worte: »Heute werden die Dinge oft so dargestellt, als hätte Honecker in Helsinki unterschrieben, die eigene Ordnung aufzugeben, als wäre dort nie vereinbart worden, zur politischen und militärischen Entspannung zu kommen.« [1]

Die DDR hat viel zum Entstehen der Schlussakte und zum Erhalt ihrer Substanz beigetragen. Nachdem beide deutsche Staaten mit dem Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 ihre Beziehungen geregelt hatten und im September 1973 UNO Mitglieder geworden waren, dokumentierte das Bild aus Helsinki vor aller Welt: Die Hallstein-Doktrin der Nichtanerkennung der DDR war gescheitert. Die DDR war inzwischen von knapp 130 Staaten anerkannt. Sie gehörte zu den Konferenzteilnehmern aus 33 europäischen Staaten, den USA und Kanada.

Für die UdSSR und ihre Verbündeten war 1975 ein hoffnungsvolles Jahr. Als die Helsinkikonferenz zusammentrat, war die Nachricht: »Saigon ist frei«, gerade erst drei Monate alt. Die USA hatten den verbrecherischen Krieg gegen Vietnam verloren. Der historische Optimismus, der daraus erwuchs, gab den Friedenskräften in der Welt enormen Auftrieb. Nachträglich betrachtet waren die sozialistischen Länder zu siegesgewiss in der Annahme, dass das neu entstandene Kräfteverhältnis zu Gunsten des Friedens und des Sozialismus unumkehrbar ist. In den siebziger Jahren aber gab es die begründete Hoffnung, die Konflikte der Welt friedlich lösen zu können.

Der Weg an den Konferenztisch war dennoch steinig. Europa war gespalten. Seit Jahrzehnten standen sich zwei entgegengesetzte gesellschaftliche Systeme, zwei grundverschiedene ökonomische Ordnungen und zwei feindlich eingestellte militärische Blöcke hochgerüstet gegenüber. Dafür seien hier Zahlen genannt, die noch in den achtziger Jahren galten: Auf der BRD-Seite waren 900.000 NATO-Soldaten, 194 Raketenstartrampen, 4.100 Artilleriesysteme, 7.800 Panzer und Selbstfahrlafetten sowie 1.600 Kampfflugzeuge stationiert. Auf DDR-Seite waren es zusammen mit dem sowjetischen Bündnispartner 770.000 Soldaten, 236 Raketenstartrampen, 6.300 Artilleriesysteme, 11.300 Panzer und Selbstfahrlafetten sowie 1.050 Kampfflugzeuge. [2]

Der Kalte Krieg barg immer die Möglichkeit eines heißen in sich, verbunden mit der Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR. Die NATO-Staaten zeigten lange Zeit kein Interesse, diese gefährliche Situation zu entspannen. Die Sowjetunion und ihre europäischen Verbündeten äußerten die Idee einer Europäischen Sicherheitskonferenz erstmals 1966 auf einer Tagung der Staaten des Warschauer Vertrages in Bukarest. Nach jahrelangen Verhandlungen zwischen Vertretern der Staaten trafen sich die Staats- oder Regierungshäupter Europas, der USA und Kanadas vom 30. Juli bis 1. August 1975 zur Abschlusskonferenz in Helsinki. Hier gelang, was noch wenige Jahre zuvor für unmöglich gehalten wurde: Es entstand ein kollektiv vereinbarter Kodex für die Anwendung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Einer der Initiatoren der Konferenz, der sowjetische Repräsentant L. I. Breschnew, nannte das Abschlussdokument »eine sorgfältig ausgewogene Bilanz der Interessen aller Teilnehmerstaaten.« [3] In der DDR wurde das Dokument im vollen Wortlaut veröffentlicht. In der alten Bundesrepublik nur selektiv.

Geist von Helsinki und Kapitalinteressen

Die Schlussakte, die aus mehreren sogenannten Körben bestand, war ein in sich geschlossenes einheitliches Dokument. Korb I beinhaltete vertrauensbildende Maßnahmen für die Europäische Sicherheit, im Korb II ging es um die wirtschaftliche Zusammenarbeit, und Korb III enthielt humanitäre Fragen. Ausdrücklich wurde das Recht jedes Staates betont, seine politische Ordnung frei zu wählen sowie seine Gesetze und Verordnungen, seine Politik selbst zu bestimmen. Diese Selbstverständlichkeit wurde allerdings zum wunden Punkt der Nach-Helsinki-Zeit. Die NATO-Staaten zeigten wenig Interesse, alle »Körbe« zu verwirklichen. Das betraf vor allem ihren mangelnden Willen zur militärischen Abrüstung und eine eigenwillige Auslegung der Menschenrechte. Für sie ging es nur um die politischen Rechte, während die sozialistischen Länder sich zudem auf die UNO-Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 beriefen, die die Einheit aller Menschenrechte verankert: »Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.« [4]

Der oft beschworene Geist von Helsinki wurde letztlich durch den Kampf der beiden Gesellschaftssysteme dominiert. Schon vom 15. bis 17. November 1975 trafen sich in Frankreich die Staats- und Regierungschefs der USA, Frankreichs, der BRD, Italiens, Japans und Großbritanniens. Das war die Geburtsstunde der sogenannten »Gruppe der Sechs«, die ein Jahr später durch den Beitritt von Kanada zur »G7« mutierte, wie sie noch heute existiert.

Für die sozialistischen Länder war das eine Art Gegenpol zu Helsinki. Schon 1976 mischten sich die G7 massiv in die inneren Angelegenheiten Italiens ein, wo aus ihrer Sicht eine »kommunistischen Gefahr« bestanden habe. Die italienischen Kommunisten hatten bei den Wahlen einen so großen Stimmenzuwachs erhalten, dass ihre Regierungsbeteiligung im Bereich des Möglichen lag. Allein das genügte, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt als Sprecher der Sieben erklärte, sie hätten beschlossen, »Italien im Falle einer Regierungsbeteiligung der IKP keine weitere wirtschaftliche Unterstützung zu gewähren« [5]. Die Nichtbeteiligung der Kommunisten, so Schmidt, sei die »politische Bedingung für jeglichen internationalen Kredit.« [6]

Was wir in der Gegenwart als Diktat der EU gegenüber Griechenland erleben, hat unter den kapitalistischen Ländern lange Tradition: Wo Interessen des Kapitals in Frage stehen, kennen seine Sachwalter keine Souveränität der Staaten. Auch wenn die Situation 2015 eine andere ist als sie 1976 war, so geht es letztlich auch in Griechenland darum, eine Links-Regierung zu verhindern. Dafür etikettieren die Vorherrscher Europas die griechische Regierung sogar als »kommunistisch«, obwohl ihr die Kommunistische Partei Griechenlands gar nicht angehört. Der US-amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman bringt die wahre Absicht auf den Punkt: »Eine substanzielle Kapitulation reicht Deutschland nicht aus, weil es einen Regime Change (Regimewechsel) und die totale Demütigung Griechenlands will.« [7]

Zu den Jahren nach Helsinki gehört auch: Beide Bündnisse – NATO wie Warschauer Vertrag – ließen keinen Zweifel: Eine Machtverschiebung in Europa wird nicht zugelassen. Gleich, wer sie anstrebt. Jede Seite schob der anderen die Schuld zu, wenn Vereinbarungen verletzt wurden. Diese Haltung änderte sich in dem Maße, wie die Sowjetunion in den achtziger Jahren durch politische und ökonomische Schwächung gegenüber den USA Position für Position aufgab, bis letztlich der Warschauer Vertrag aufgelöst wurde. Als Gorbatschow die Philosophie vom »Neuen Denken« in die internationalen Beziehungen einführte, verharrten die NATO-Staaten im alten Denken der Einflusssphären. Die Sowjetunion ihrerseits regierte darauf oft konfus.

Zwielichtig

Das wurde besonders im Zusammenhang mit der Nachfolgekonferenz der KSZE 1989 in Wien deutlich. Außenminister Schewardnadse zum Beispiel antwortete vor laufenden Kameras auf die Frage eines Reporters, was nach der Wiener Konferenz aus der Berliner Mauer würde: »Da müssen Sie Fischer [8] fragen.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Und natürlich Genscher [9].« Hatte sich Chrustschow in seinen Erinnerungen noch dazu bekannt, selbst den Befehl zum Mauerbau gegeben zu haben, schob Schewardnadse – nach der Methode haltet den Dieb – die Verantwortung für den Status quo in Europa allein der DDR zu, obwohl die Anerkennung der europäischen Grenzen in Helsinki klar geregelt worden war.

Zwielichtig war auch die Haltung Gorbatschows zu einer wichtigen Frage im Abschlussdokument des Wiener Treffens 1989. Die DDR stand bekanntlich viele Jahre auch unter Druck ihrer Bevölkerung, eine befriedigende Regelung für Reisen ins kapitalistische Ausland zu finden. Aus Moskau kam zudem der Gegendruck. Jede unserer Erleichterungen im Reiseverkehr mit der BRD wurde stets als unzulässiges Zugeständnis an die BRD kritisiert. Dass wir nicht in der Lage waren, eine befriedigende Lösung für das Reisen zu finden, spricht gegen uns. Die BRD-Regierungen kannten unsere Achillesferse. Sie nutzten sie erbarmungslos aus. Sie wussten, dass wir in dieser Frage nur vorankämen, wenn die Bundesrepublik die Staatsbürgerschaft der DDR respektieren würde. Dazu aber war sie nie bereit. Ihr waren politische Glaubenssätze wichtiger als realistische Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger. Als im Januar 1989 die Unterzeichnung des Abschlussdokuments der Helsinki-Nachfolgekonferenz in Wien bevorstand, forderte die Bundesrepublik als Vorbedingung für ihre Zustimmung, die DDR müsse den Mindestumtausch für BRD-Bürger bei Einreisen in die DDR abschaffen. Der Mindestumtausch wurde einst auf sowjetische Empfehlung eingeführt, um die Anzahl der Reisen aus der BRD und Westberlin in die DDR zu begrenzen. Noch 1984 wurde Honecker von Gorbatschow gerügt, weil durch die vermeintlich niedrigen Umtauschsätze zu viele Westdeutsche und Westberliner in die DDR einreisten. [10] Für die DDR hatte der Umtausch auch eine ökonomische Bedeutung. Unser Preisgefüge war mit dem im Westen nicht vergleichbar. Die Subventionen für Grundnahrungsmittel, für Tarife, Kultur, Sport usw. waren ausschließlich für Bürger der DDR gedacht, nicht für Westdeutsche oder Westberliner, die die DDR besuchen. Bundesdeutsche Forderungen nach Abschaffung des Mindestumtausches, der den Westdeutschen und Westberlinern ökonomische Vorteile auf Kosten der DDR gebracht hätte, verbanden wir mit der Forderung, in Westberlin die Wechselstuben zu schließen. Das lehnte man dort ab. Zu Beginn des Jahres 1989 wurde in Westberlin die Mark der DDR zu einem Schwindelkurs von 1:5 bis 1:12 gehandelt. Wer dort eine DM eintauschte, bekam unter Umständen 12 Mark der DDR, für die er in einem Nobelrestaurant in der DDR-Hauptstadt schon ein Mittagsmenü erhalten konnte. Und das für eine DM!

Ohne sich mit der DDR zu beraten, hatte die sowjetische Delegation in Wien der Abschaffung des Mindestumtausches zugestimmt, obwohl diese Frage eigentlich zur Souveränität der DDR gehörte. Erst als dies öffentlich wurde, schickte Gorbatschow einen Sonderbotschafter zu Honecker. Der teilte mit: Nehmt doch die Sache nicht so ernst! Ihr müsst ja den Umtausch nicht wirklich abschaffen. Es genügt doch, ihn »nur in Aussicht zu stellen« [11]. So sah aus Gorbatschows Sicht die »Arbeitsteilung« zwischen ihm und Honecker aus: Der eine der »Reformer«, der öffentlich die Entspannung fördert, der andere, der »Reformunwillige«, der »Dogmatiker«, der »Bremser«. In der Praxis – vor allem, wenn es internationale Fragen betraf – war es manchmal durchaus umgekehrt.

Kein Ende des Kalten Krieges

Am 21. November 1990, ein Vierteljahrhundert nach der Helsinki-Konferenz, unterzeichneten 32 europäische Länder (die DDR gab es nicht mehr!), die USA und Kanada die »Charta von Paris«. Sie soll – so sagt es der politische Mainstream – den Kalten Krieg beendet haben. Ich halte das für eine Propagandaformel. Mit der Kapitulation der UdSSR hörte in Europa zwar die Systemauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf. Nicht aber der Kalte Krieg. Ganz im Gegenteil: Es begann ein Kampf um die Neuordnung der Welt, der bis heute anhält.

Die USA wollen das Kernland der Sowjetunion, die Russische Föderation »zurückrollen«, »eindämmen«, als »Regionalmacht« demütigen. Verhandlungen mit Russland werden wie früher mit der Sowjetunion als »political warfare weapon” (»Waffe politischer Kriegsführung«) benutzt. So steht es in einem Memorandum des Nationalen Sicherheitsrates der USA, das 1951 formuliert, seit dem mehrmals modifiziert wurde und bis heute gilt. [12]

Was wir in der Gegenwart erleben, ist kein neuer Kalter Krieg, sondern die Fortführung eines alten Interessenkonflikts der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft mit Russland. Die deutsche Einheit war für die USA nur insofern wichtig, dass dadurch die sowjetischen Truppen aus Mitteleuropa verdrängt wurden und die amerikanischen – sogar mit Atomwaffen ausgestattet – sich festsetzten konnten.

Frau Merkel meint, Putins Politik sei »verbrecherisch« [13]. Ein solch taktloses und vor allem unrichtiges Urteil anlässlich des 70. Jahrestages des Sieges der UdSSR über den deutschen Faschismus werden ihr die meisten Russen nicht verzeihen. Sie unterstellt, Russland habe die Nachkriegsordnung zerstört. Ja, hat sie denn wirklich alles vergessen, was sie in der DDR-Schule und bei ihrer marxistischen Ausbildung an der Universität im Original über die Nachkriegsordnung lesen konnte? Als die »Großen Drei« in Jalta auf der russischen Krim verhandelten, hatten sie nie ein Europa mit Militärblöcken vor Augen. Wäre das Potsdamer Abkommen verwirklicht worden, hätte es keine Teilung Europas gegeben. Und die Nachkriegsordnung, die 1975 in Helsinki erörtert wurde, sah bekanntlich keine NATO-Truppen an der Grenze zur Sowjetunion vor. Das Einflussgebiet der NATO endete damals an Elbe und Werra.

Gab es Zusicherungen der NATO?

Und 1990? Schon Anfang Dezember 1989 hatte Gorbatschow gegenüber dem amerikanischen Präsidenten auf Malta den Kalten Krieg voreilig und einseitig für beendet erklärt. Er wunderte sich darüber, dass Bush sen. es ihm nicht gleichtat, sondern die USA zum Sieger im Kalten Krieg erklärte, während er, Gorbatschow, illusionär dafür warb, dass es keine Sieger und Besiegte des Kalten Krieges, sondern nur Gewinner geben sollte. Er gestand der NATO ihre weitere Existenz trotz Auflösung des Warschauer Vertrages zu. Das europäische Territorium bis zur Elbe, das einst die Sowjetarmee vom Faschismus befreit hatte, wurde seit 1990 schrittweise dem Militärbündnis des politischen Gegners zugeschlagen. Das widerspricht Zusicherungen der NATO, sich nicht nach Osten auszudehnen. Jene, die bestreiten, dieses Versprechen gegeben zu haben, seien an die Ausführungen von NATO-Generalsekretär Wörner erinnert: »Schon der Fakt«, sagte er am 17. Mai 1990, »dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.« [14]

Das bedeutet doch: Die Sicherheitsgarantie der NATO lautete sogar: Östlich von Elbe und Werra, also der damaligen Ostgrenze der BRD und der Westgrenze der DDR, sollten keine NATO-Truppen stationiert werden. Nicht Russland hat sich ausgedehnt, sondern die NATO. Frau Merkel übersieht, dass das Sicherheitsbedürfnis der Russen tief verwurzelt ist in einem Datum der deutschen Geschichte. Es ist der 22. Juni 1941. Jener Tag, an dem Hitlerdeutschland wortbrüchig die Sowjetunion überfiel. Damals schworen sich die Völker der UdSSR: Nie wieder sollen ausländische Truppen der Heimaterde so nahe stehen. Das war auch einer der Gründe, weshalb die sowjetische Armee schon 1945 ihre strategische Verteidigungslinie an die Oder und Neiße verlegte. Als der Westen 1952 die Vorschläge der UdSSR zur deutschen Einheit, die sogenannte Stalin-Note, abgelehnt hatte, wurde diese strategische Verteidigungslinie an die Elbe und Werra vorverlegt. Die Grenze quer durch Deutschland wurde damit eine Sicherheitsgarantie für das im Zweiten Weltkrieg so geschundene Land. Gerade Deutsche sollten Verständnis dafür haben, dass die Russen an ihren Grenzen keine NATO wollen und sich mit Gegenmaßnahmen wehren.

Auf dem jüngsten Doppelgipfel der BRICS-Staaten (43% der Weltbevölkerung und fast 30% der Bruttoweltproduktion) und der Shanghaier Kooperationsorganisation in Ufa hat Russland deutlich gemacht, dass es seine Schlussfolgerungen aus der Politik des Westens gezogen hat. Es lässt sich nicht erpressen. Mit seinen Partnern strebt es eine multipolare Welt – ohne Vorherrschaft der USA, ohne Druck der G7, ohne Diktat der EU und ohne Auflagen des IWF – an. Nach den Worten Putins soll dies »ein handlungsfähiges Instrument der Weltpolitik« [15] werden. Chinas Staatspräsident Xi Jinping sprach von einem »Anker der wirtschaftlichen Stabilität und Schild der menschlichen Welt« [16].

Die Konferenz von Helsinki war ein konstruktiver Versuch, ein friedliches europäisches Haus aufzubauen. Die Erfahrung zeigt, die USA und ihre Verbündeten waren zu keinem Zeitpunkt für eine gemeinsames Haus von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Es ging ihnen nur darum, Hausherr zu sein und diese Rolle mit niemandem zu teilen. Ohne Berücksichtigung russischer Interessen (wie einst in Helsinki der sowjetischen) durch die USA, Deutschland und die anderen EU-Staaten wird es keine wirkliche Entspannung auf der Welt geben. Auch das ist eine wichtige Lehre der Konferenz von vor 40 Jahren.

 

Anmerkungen:

[1]  Willy Brandt zu Erich Honecker während des Treffens am 18. September 1985 in Berlin im Amtssitz des Staatsrates der DDR, zitiert nach der Gesprächsniederschrift.

[2]  Archiv des Autors.

[3]  Archiv des Autors.

[4]  Artikel 22 der UN-Menschenrechtskonvention vom 10. Dezember 1948.

[5]  Aus einer streng vertraulichen Information der sowjetischen Führung an Erich Honecker, zitiert nach Aufzeichnungen des Autors.

[6]  Ebenda.

[7]  Paul Krugman: Desaster In Europe. krugman.blogs.nytimes.com, 12. Juli 2015.

[8]  Gemeint war Oskar Fischer, der Außenminister der DDR.

[9]  Bundesaußenminister Genscher.

[10]  Beratung zwischen Delegationen der Zentralkomitees der KPdSU und der SED. Protokoll vom August 1984 im Archiv des Autors.

[11]  Gespräch Erich Honeckers mit dem Sonderbotschafter Gorbatschows Juri Kaschlew am 5. Januar 1989. Archiv des Autors.

[12]  Vergleiche: Politik am Rande des Abgrunds? Distel-Verlag, Heilbronn 1986, ISBN 3-923208-12-X.

[13]  Pressekonferenz am 10. Mai 2015 mit Putin im Anschluss an die Kranzniederlegung für die im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen Sowjetsoldaten.

[14]  Rede des Generalsekretärs der NATO Wörner, zitiert nach: Internetseite der NATO.

[15]  Zitiert nach DPA-Berichten am 9. Juli 2015 aus dem Tagungsort Ufa.

[16]  Zitiert aus einem Kommentar der amtlichen chinesische Agentur Xinhua vom 8. Juli 2015. de.sputniknews.com/wirtschaft/20150708/303140194.html#ixzz3fPavGSE8.

 

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