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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zum Umgang mit Faschismus und Antisemitismus

Rolf Richter, Eberswalde

 

Dem Andenken an Kurt Goldstein gewidmet

 

[Überarbeiteter und ergänzter Text eines Briefes an Matthias Gärtner als Antwort auf den Artikel „So mustergültig war die Aufarbeitung nicht“ (ND, 29. 6. 2007, S. 14). Hinzugefügte Noten sind mit Stern * gekennzeichnet.]

Sehr geehrter Herr Gärtner, Ihren Artikel habe ich erst nachträglich entdeckt und gelesen. Daher meine etwas späte Reaktion. Ich schreibe Ihnen, weil der Aufsatz einige Fragen aufwirft und einige Formulierungen enthält, über die zu reden lohnt.

1. Zu meinen eigenen Erfahrungen. Von den Judenverfolgungen habe ich schon durch meine Eltern erfahren. Mein Vater berichtete mir von einem seiner Schüler und späteren Freund, der die Tochter eines Hannoverschen Arztes geheiratet hatte. Ihre Mutter war Jüdin. Die beiden sind – noch rechtzeitig – in die USA emigriert. Meine Mutter erzählte von der Drangsalierung und Vertreibung jüdischer Händler in Stendal. Dazu kamen Berichte in den von meiner Familie gehaltenen Zeitungen, Kinofilme und vieles mehr. Die frühen DEFA-Filme mit dieser Thematik (Ehe im Schatten, Affäre Blum) habe ich als Student im Filmklub der Universität gesehen, meine Eltern allerdings schon in den Jahren ab 1946, in denen diese Filme bereits liefen. Dazu der KZ-Film „Die letzte Etappe“.

Also das, was Sie als Informationsdefizit beklagen, war für mich keines, sondern lange bekannt. An antisemitische Äußerungen in der Schule erinnere ich mich nicht, wohl aber an rassistische Lieder über Afrikaner. Filme zum Thema Juden habe ich auch später gesehen, so „Sterne“ von Konrad Wolf. Das Rostocker Volkstheater (wir hatten ein Studentenanrecht) zeigte die Dramatisierung des Tagebuchs der Anne Frank, auch „Der Stellvertreter“ (R. Hochhuth) und „Die Ermittlung“ (P. Weiss) liefen dort. Dazu muß man sagen, Kinos und Theater waren damals (bis Ende der sechziger Jahre) meist gut gefüllt, und nicht etwa zwangsweise.

Einer speziellen Auseinandersetzung über Antisemitismus bedurfte es aber für meine Al-tersgenossen kaum. Die DDR, die natürlich mit dem Erbe des Faschismus in der Erwachsenengeneration konfrontiert war, setzte vor allem auf die Heranwachsenden. Die Schule pflegte den Geist der Völkerverständigung. Dazu gehörte die Erziehung bei den Jungen Pionieren. Der Grundsatz der Völkerfreundschaft gehörte zu den „Pioniergesetzen“. Auch das Lied des Weltjugendverbandes lernte man dort: „Jugend aller Nationen, uns vereint gleicher Sinn, gleicher Mut. Wo auch immer wir wohnen ...“ Der Geist dieser Erziehung ließ keinen Raum für Antisemitismus, weil er generell gegen jede Form des Rassismus gerichtet war (siehe dazu das Emblem des WBDJ, das die Gemeinschaft der Rassen verkörpert). Das Erlebnis der Weltjugendfestspiele in Berlin 1951, an denen Zehntausende teilnahmen, vertiefte diese Einstellung. Ich habe damals schon begriffen, daß es durchaus nicht selbstverständlich war, wenn sechs Jahre nach dem Krieg mir eine junge Französin die Worte „Freundschaft mit dem deutschen Volk“ auf ein Souvenir schrieb. Die zwanglosen persönlichen Begegnungen mit Gästen aus aller Welt, die wunderbaren Auftritte von Ensembles aus vielen Ländern waren das beste Mittel, Ressentiments abzubauen. Ich habe noch mehrere Jahre mit Festivalteilnehmern (aus Österreich, Indonesien) Briefe gewechselt. Als ich später auf wissenschaftlichen Konferenzen Fachkollegen traf, mußte mir niemand mehr erklären, daß es einzig auf den Wert ihrer wissenschaftlichen Leistungen und nicht auf ihre ethnische Herkunft ankam. Soviel zu meinen eigenen Erlebnissen, die ich natürlich nicht verallgemeinern kann. Auch das Bemühen von Schule und Öffentlichkeit hatte nicht bei jedem Erfolg, denn es gab auch die Familie und den „Westen“, etwa den RIAS und die „Landserhefte“.

Die Entwicklung einer Neonaziszene – auch mit antisemitischen Aspekten – in den letzten DDR-Jahren kann ich teilweise bestätigen. Das gab es auch bei uns in Eberswalde. Abgesehen von Einflüssen aus der Bundesrepublik spielte dabei Tradierung in manchen Familien (das, was Sie „alltagskulturell“ nennen) eine Rolle. Wie solche Traditionen im Unterbewußtsein weiterleben, hat Christa Wolf in „Kindheitsmuster“ eindrucksvoll geschildert. Die Mühe dieser Lektüre kann ich empfehlen, falls Sie das Buch nicht kennen. Mir ist daran klar geworden, daß wir uns die Formen des Fortlebens von Ressentiments und Elementen faschistischen Denkens oft zu einfach gedacht haben. Das gehört also zu der – wie der Marxismus sich ausdrückt – relativen Selbständigkeit des (ideologischen) Überbaus gegenüber der (ökonomischen) Basis. Darauf werde ich noch zurückkommen. Am ersten Teil Ihres Textes habe ich, wie Sie sehen, wenig auszusetzen. Nur sollten Sie ebenfalls vorsichtig sein und Ihre Sicht der Dinge („Untätigkeit der Polizei“) nicht ohne nähere Untersuchung als allgemeingültig ansehen.

2. Ich komme nun zu einzelnen Formulierungen in Ihrem Artikel. [* Mit dem Begriff „mustergültige Aufarbeitung“ in der Überschrift und im Text des Artikels kann ich wenig anfangen. Er setzt nämlich ein virtuelles oder reales Vorbild bzw. „Muster“ voraus. Das kann die subjektive Vorstellung vorbildlichen Vorgehens sein, dann aber ohne Erprobung in der Realität. Oder man müßte reale Verhältnisse in anderen Ländern zum Vergleich heranziehen, vor allem also in der alten BRD. Auf solche Vergleiche komme ich noch zurück.]

a) „Wie stark nichtkommunistische Opfergruppen ... ausgegrenzt wurden.“ – „Wer den Begriff des Antifaschismus verteidigen will, muß ihn radikal als Würdigung aller Opfer des Nationalsozialismus interpretieren.

Wenn es um den Begriff Antifaschismus geht, der ja zumindest eine passive, besser noch aktive Ablehnung des Faschismus meint, dann muß man schon zwischen „Widerständlern“ und „Opfern“ unterscheiden. Ohne auf- oder abzuwerten: es handelt sich um unterschiedliche Erscheinungen. Widerständler hatten beste Aussicht, Opfer zu werden. Opfer konnten, aber mußten nicht Widerständler sein. Opfer konnten sogar selbst Faschisten oder Mitläufer des Faschismus sein. Schließlich waren (vielleicht im weiteren Sinne) auch Millionen deutscher Kriegstoter „Opfer“ des Angriffskriegs der Faschisten. Aber wie viele von ihnen waren selbst Faschisten oder deren willige Unterstützer? In der Tat: Faschisten waren Opfer des Faschismus, wenn man an die Röhm-Affäre 1934 denkt. [Siehe K. Gossweiler, Die Strasser-Legende, edition ost 1994.] Antifaschismus „radikal als Würdigung aller Opfer des Nationalsozialismus“? Da wäre ich also vorsichtig. Etwas besser steht es mit dem Begriff „Verfolgte“. Er meint die Kriegstoten nicht. Aber verfolgt wurden eben auch „oppositionelle“ Nazis. Ich habe allerdings nicht vor, sie zu „würdigen“. Bei vorsichtigerer Definition des Begriffs „Opfer“ kann ich Ihnen zustimmen, daß einzelne Gruppen nicht ausgegrenzt oder abgewertet werden dürfen. Doch würde ich den Begriff Antifaschismus prinzipiell nicht über die Opfer, sondern über den Widerstand definieren (was Respekt vor den Opfern ja nicht ausschließt).

Sprechen wir also von den Widerstandskämpfern und der Erinnerungspraxis im Osten Deutschlands. Sie haben recht, wenn Sie einseitige Würdigung kommunistischen Widerstandes in den späteren Tagen der DDR kritisieren. Sie hätten Unrecht, wenn Sie glaubten, daß das überall und immer so war, und wenn Sie dabei die Situation des kalten Krieges vernachlässigten. Das ist nicht als Entschuldigung gemeint. Ich will es nicht entschuldigen: es wäre anders gegangen. Welche Ansätze es ursprünglich gab und wie sich die Schwerpunkte des Erinnerns in den Folgejahren gestaltet haben, belegt – an offiziellen staatlichen Äußerungen bitte – eine Durchsicht der Gedenkbriefmarken in Deutschland-Ost und -West. Dabei zeigt sich, daß im Westen zwanzig Jahre lang überhaupt kein Gedenken an Verfolgung und Widerstand im Faschismus stattfand. Erst 1964 erschien ein Gedenkblock für den 20. Juli. Der kommunistische Widerstand wurde ignoriert. An die Pogromnacht 1938 wurde erstmals 1988 erinnert, während dazu in der DDR 1963 und 1988 Gedenkmarken erschienen und auch an die Vernichtungslager Birkenau, Majdanek und Treblinka sowie an die Verbrechen in Oradour und Lidice erinnert wurde. Schließlich hatte nur die DDR-Post ein erkennbares Programm antifaschistischen Gedenkens: zweimal – 1945 und 1957/58 – erschienen hier Ausgaben mit Exponenten christlichen, sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandes (Breitscheid, Thälmann und Klausener oder Pfarrer Schneider). Nur die DDR würdigte ermordete Sozialdemokraten –, selbst die sozialliberalen Regierungen der BRD unterließen das! Ich will das nicht überbewerten, weil es vielfältige Formen staatlichen und nichtstaatlichen Gedenkens gibt. Aber eine Warnung vor allzu schnellen Urteilen auf Grund subjektiver Wahrnehmung ist dieses Ergebnis schon. Wir sollten uns die Zeit nehmen und sorgfältiger nachsehen.

Die Durchsicht des VVN-Kalenders für 1949 [VVN-Kalender 1949, Berlin-Potsdam: VVN-Verlag 1948.] bestätigt diese ursprüngliche Erinnerungskonzeption der damaligen Zeit, die im wesentlichen pluralistisch war. Unter den Porträts zahlreiche Kommunisten, aber auch Graf v. Moltke, die Geschwister Scholl, Ossietzky, Bonhoeffer, Mühsam, Pfarrer Schneider, Reichwein, Leuschner ... Ferner sieht man ein Foto aus dem Steinbruch von Flossenbürg, ein Foto mit den hingebreiteten Mordopfern von Lidice, das Foto eines knieenden Juden vor Wehrmachtssoldaten mit Schlagstock, eine Lithografie der jüdischen Künstlerin Lea Grundig „Nach Lublin“. Die erste Tageseintragung (3. Januar) betrifft die Schließung der Reichszentrale der Katholischen Aktion in Düsseldorf durch die Gestapo (1938).

Wenn man (in aller Vorsicht) die Frage nach der „Quantität“ und „Qualität“ (im Sinne von Organisiertheit des Widerstandes und der Zahl der Opfer bei den verschiedenen politischen Richtungen) stellt, dann stehen Kommunisten nach jedem dieser Gesichtspunkte an vorderer Stelle. Die DDR hatte also allen Grund, kommunistischen Widerstand zu würdigen, zumal er im Westen totgeschwiegen oder diffamiert wurde („Rote Kapelle“). Der Versuchung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, also nun hier den bürgerlichen Widerstand zu vernachlässigen, hätte man aber stärker widerstehen können. Aber:

  • Man konnte sich durch Film und Literatur über den ganzen Umfang der politischen Verfolgungen und Morde informieren;

  • während des ganzen Zeitraums 1945–1989 waren vielfältige Informationen über Judenverfolgung und den Massenmord in den Vernichtungslagern zugänglich.

Einige Filme habe ich genannt, andere werden Sie kennen. Belletristik und Sachbücher zu verschiedenen Aspekten von Faschismus und Widerstand, von Judenverfolgung und -vernichtung wurden während der gesamten Zeit nach 1945 immer wieder angeboten. Eine Auswahl von Titeln aus meinem Bestand, nach Erscheinungsjahren geordnet, zeigt das bereits (siehe Anhang).

Was Ihre Schule Ihnen dazu vermittelt oder nicht vermittelt hat, weiß ich natürlich nicht. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Sie gar nichts darüber gehört haben (das ist übrigens die ewige Ausrede der schwachen Schüler – Sie haben sicher nicht dazu gezählt). Klar ist ferner, daß auch im DDR-Bildungswesen nicht alles mundgerecht mit dem Löffel gereicht wurde (tatsächliche Tabus sind hier nicht gemeint – die Judenmorde gehörten nicht dazu). Stets muß Interesse entwickelt und durch eigene Weiterarbeit befriedigt werden.

Ich will Ihnen noch einräumen, daß es seit etwa 1972 ein staatliches Kontaktverbot gegenüber Israel, Taiwan und Südafrika gab. Ich weiß das, weil auf meinem damaligen Arbeitsgebiet wichtige Arbeitsgruppen an den Universitäten Rehovot und Stellenbosch bestanden. Wenn ich wissenschaftliche Sonderdrucke von dort erbat, kamen meine Karten leider immer als unzustellbar zurück. Ursache der Kontaktsperre waren UNO-Sanktionen gegen Südafrika, die von Israel ebenso wie die UNO-Resolutionen über Palästina mißachtet wurden. Die gespannten Beziehungen zu Israel haben vielleicht manche Lehrer nicht gerade beflügelt, das heiße Eisen Israel und Holocaust zu erörtern. Sie sehen aber, daß es weiterhin möglich war, sich über Bibliotheken und Buchhandel, Filme usw. zu informieren.

b) „Daß die antisemitische Politik der zentrale Bezugspunkt des NS-Staates war, wurde bis zum Ende der DDR von ihrer ökonomischen Deutung des deutschen Faschismus überlagert.“ – „In diesem Konzept wurde die ideologiegeschichtliche Eigendynamik des rassistischen Antisemitismus völlig ausgeblendet.“ – „... ideologisch bedingte Einäugigkeit des Antifaschismus.“

Hier geht es also um das Faschismusverständnis, nicht „der DDR“, aber der SED und des Marxismus (-Leninismus) überhaupt. Der erste Satz ist eine verzweifelt ungenaue Formulierung. Mit „überlagert“ ist wohl „verschleiert, verdeckt“ gemeint.

Sie können sich übrigens auf eine berühmte Autorität berufen. In dem Kapitel „Die deutsche Wurzel“ von „LTI“ schreibt Klemperer:

... es liegt jetzt ganz klar am Tage, daß er [der Antisemitismus] das Zentrum und in jeder Hinsicht das entscheidende Moment des gesamten Nazismus gebildet hat ... Antisemitismus ist vom Anfang bis zum Ende das wirksamste Propagandamittel der Partei ... Seit ich von Auschwitz und seinen Gaskammern wußte ... zweifelte ich nicht mehr an der zentralen und entscheidenden Bedeutung des Antisemitismus und der Rassenlehre für den Nationalsozialismus. [Victor Klemperer, LTI, Leipzig: Reclam 1966.]

Das Neue an diesem sei die Kombination von Anachronismus, „höchster Modernität“ und Transformation des Antisemitismus in den Rassegedanken. Klemperer hatte sicher recht, wenn er meinte, „auf der zum Antisemitismus verengten und zugespitzten Rassenidee beruht die Eigenart des Nationalsozialismus den anderen Faschismen gegenüber.

Aber daß er dessen „zentrales und entscheidendes Moment“ sei, darüber kann man streiten. Klemperer, bei all seiner Klugheit und seinem großen Wissen, war Philologe, nicht Historiker, Soziologe, Ökonom. Ökonomie kommt bei ihm kaum vor.

Zentrale ideologische und politische Kategorien des deutschen Faschismus waren

  • extremer Nationalismus/Chauvinismus/Imperialismus,

  • extremer Antisemitismus (als Zuspitzung eines allgemeinen Rassismus) und

  • Antibolschewismus (Antikommunismus/Antimarxismus) als Gipfel einer allgemeinen Feindschaft gegenüber der geistigen Tradition der Aufklärung. [* Zu den präfaschistischen Organisationen und ihrer Ideologie siehe J. Kuczynski, Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus, Bd. II, Berlin: Dietz Verlag 1950. Ernst Niekisch hebt in seiner immer noch lesenswerten Schrift „Deutsche Daseinsverfehlung“ (Aktuelle Kulturreihe, Berlin: Aufbau-Verlag 1946) den Kampf gegen Versailles als wirksamstes Thema des Nationalismus hervor. Den antisemitischen Rassismus kennzeichnet er als Raubideologie: er gewöhnt daran, „diejenigen, die man bestehlen will, kurzerhand aus der Welt zu schaffen, er betäubt das Rechtsgefühl ...“ Für Niekisch ist aber der Antikommunismus das zentrale Moment des Faschismus: „So sicher vollzog sich schließlich der nationalsozialistische Aufmarsch auf deutschem Boden im Zeichen des Antibolschewismus, daß das Dritte Reich am Ende als antisowjetische Gründung, Hitler selbst als der plagiatorische Anti-Lenin erschien.“ Ebenda S. 79 ff.]

Meiner Meinung nach ist es unzulässig, weil verfälschend, diese drei Figuren zu trennen oder gar die eine zugunsten der anderen zu vernachlässigen. Dagegen spricht nicht nur die Programmatik, sondern auch die politische Praxis der Faschisten. Diese Mixtur machte die besondere Aggressivität und Inhumanität der deutschen Faschismusvariante aus. Die drei Kategorien stehen in enger Beziehung zueinander. Rassismus folgt logisch aus extremem Nationalismus und bedeutet Aufgabe des Humanitätsbegriffs der Aufklärung, wie auch Klemperer betonte. Daher ist die Gegnerschaft zur Aufklärung und deren marxistischer Folgeideologie in sich schlüssig. Die Synthese der drei Komponenten ist ansatzweise schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten und führte zu einem griffigen Instrument im politischen Kampf. Als 4. Element trat dann ab etwa 1900 schrittweise ein sozialdemagogisches Wirtschaftsprogramm mit scheinsozialistischen Forderungen hinzu, das Arbeiter und Mittelstand ansprechen sollte. [Dazu J. Petzold, Die Entstehung der Naziideologie, in: Faschismusforschung. Hrsg. von D. Eichholtz und K. Gossweiler, Berlin 1980. A. Schweitzer, Die Faschisierung des Mittelstandes, Stuttgart 1970.]

Der rassistische Antisemitismus hat sich im 19. Jahrhundert aus dem religiösen entwickelt. Aber beide Formen waren immer auch ökonomisch grundiert, zumindest was die gesellschaftliche Resonanz angeht. Die Umformung des „traditionellen“ Antisemitismus wurde durch mindestens zwei Entwicklungen bewirkt: einerseits durch die Rassen„theorie“, die sich auf mißverstandene neue biologische Erkenntnisse berief (Darwinismus, Genetik), andererseits durch die scharfen Klassenwidersprüche der neuen kapitalistischen Gesellschaft. Eine Idee kann nach Marx zur materiellen Gewalt werden, „wenn sie die Massen ergreift“. Aber was ist dazu nötig? Ich denke, zweierlei: a) ein Bedürfnis relevanter sozialer Gruppen nach einem solchen geeigneten Instrument; b) ein Resonanzboden in der Gesellschaft. Ohne diese Prämissen verbleibt eine ideologische Strömung – gesellschaftlich folgenlos – im Bereich engerer Zirkel zum Beispiel der Universitäten.

Im Fall des Rassismus war beides bereits nach 1850 vorbereitet, ja, der Rassismus exi-stierte schon in der Praxis, ehe er theoretisch ausformuliert war. Gobineaus Schrift er-schien (französisch) 1853–1855, Darwins „Origin of Species“ 1859. Aber was die Briten vor dem Sepoy-Aufstand (1857–1859) in Indien, die Holländer in Indonesien (später die Franzosen bei der Eroberung Westafrikas) an brutalster, unmenschlicher Unterdrückung veranstaltet haben, war angewandter Rassismus. Das Bedürfnis nach einer rechtfertigenden Ideologie war also da. Überall kroch der Rassismus aus dem Brutkasten des Kolonialismus und der Kolonialpraxis, denn den „Zivilisierten“ zu Hause mußte die Barbarei in den Kolonien plausibel gemacht werden. Nur dann war Kapital für Kolonien flüssig zu machen. (Eine alternative, „modernere“, noch heute sehr wirksame Rechtfertigungsideologie war die der Menschenrechtsintervention. Briten, Belgier und Deutsche mißbrauchten den „Kampf gegen Sklaverei und Sklavenhandel“ zum Kolonialerwerb in Afrika). Der Rassismus hatte nicht nur die öffentliche Meinung zu formen, sondern auch das Herrenbewußtsein der Eroberer zu stärken. Beides war auch höchst wichtig, als der Faschismus statt der überseeischen zunächst die kontinentale Expansion betrieb und dabei außer den „Ostjuden“ mit den slawischen Völkern konfrontiert war.

Den „Resonanzboden“ lieferte die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft in Deutschland nach 1850: Hochindustrialisierung, Gründerkrise 1873/74, Verschärfung des Gegensatzes Arbeit-Kapital und Aufstieg der Sozialdemokratie, Agrarkrise und steigende Verschuldung der Landwirte – der Groll der verunsicherten Bauern und Mittelständler war leicht gegen das jüdische Kapital lenkbar, das ihnen beispielsweise im Immobilienhandel entgegentrat. [* Bemerkenswert ist, daß der Historiker Ludwig Quidde schon 1881 als Student den Zusammenhang zwischen Gründerkrise, aufkommender antisemitischer Welle und Hetze gegen die Sozialdemokratie erkannte, den zu verstehen offenbar heute auch linken Politikstudenten schwer fällt: Rosemarie Schumann, Ludwig Quidde, in: Alternativen. Schicksale deutscher Bürger (Hrsg. Olaf Groehler), VdN, Berlin 1987).] Ebenso machten die ruinösen Auswirkungen der Inflation 1923 und der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 diese Kreise für den Antisemitismus empfänglich. Andererseits haben weder Thyssen noch Krupp und das Finanzkapital die Nazis aus persönlicher Freundlichkeit unterstützt, sondern weil sie die Nazi-Bewegung als geeignet ansahen, die Arbeiterbewegung ihrer Kampfkraft zu berauben und die gewünschte politische und ökonomische Expansion – „Neuordnung Europas“ – zu realisieren. Angesichts der vorliegenden Quellenbelege können das nur Ignoranten bestreiten.

Im Kontext dieser Erörterung sollte man auch registrieren, daß es Erscheinungen chau-vinistischer oder rassistischer Massenmorde gegeben hat, deren ökonomischer und ideo-logischer Hintergrund etwa dem des deutschen Faschismus entsprach, die aber statt der Juden andere Ethnien betrafen: die Armeniergreuel im Osmanischen Reich unter Abdul Hamid II., das Vorgehen gegen die Inder und Araber in Ostafrika, die Pogrome gegen die Chinesen in Indonesien (1965). In jedem Fall waren Minderheiten betroffen, die über-durchschnittlichen Anteil am Handels- und Finanzsektor hatten, in Indonesien kam anti-kommunistische Hetze hinzu, überall hatten herrschende politische Gruppen recht deutlich die Fäden für die „spontanen“ Aufwallungen gezogen. Es erweist sich dabei, daß die Ausgebeuteten das Ausbeutungsverhältnis nicht abstrakt verstehen konnten, sondern sich nur gegen einen hervorstechenden Teil ihrer unmittelbaren Ausbeuter (und nicht einmal nur gegen diese) wandten. Der Antisemitismus als Mobilisierungselement ist ergo auswechselbar. Klemperer hat die globale Bedeutung des Antisemitismus also „eurozentristisch“ überschätzt, wenn er fragte, ob „die Rassendoktrin etwas sonderlich anderes bedeute als Vorwand und Verschleierung des antisemitischen Grundgefühls.“

Auch für die Nazis war der „ganze“ Rassismus wichtig. Die Herrenideologie richtete sich – abgestuft – gegen viele Völker und hatte nicht nur gegen die Juden mörderische Auswirkungen. Der Rassismus in den deutschen Kolonien – man vergleiche koloniales Straf- und Arbeitsrecht mit dem im Reich – lieferte den Nazis übrigens auch Kader. Etliche „arbeitslose“ Kolonialoffiziere landeten in den Freikorps und dann bei den Faschisten. Ich möchte festhalten: Ihre Formulierungen unter b) sind durchaus korrekturbedürftig, wenn nicht gar „einäugig“.

c) „... die DDR als der sogenannte gute Teil Deutschlands ..., in dem der „Faschismus mit all seinen Wurzeln“ nach dem Krieg angeblich „ausgerottet“ war.

Zitat aus einem Lehrbuch für Oberschulen (1955):

Den Faschismus in der Wurzel beseitigen heißt ihm seine Grundlagen entziehen. Die Grundlagen sind der Monopolbesitz an Grund und Boden, an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln, das Monopol über die Kapitalien und über den Großhandel. ... In der D...D...R... hat deshalb die barbarische Ideologie des Faschismus keinerlei Möglichkeit, die Volksmassen zu vergiften. Ihre Träger wurden aus den Schulen, wissenschaftlichen Lehranstalten, Redaktionen, gesellschaftlichen und politischen Organisationen entfernt.“ [Deutschland in der Zeit der faschistischen Diktatur (1933–1945), Material für den Geschichtsunterricht der 12. Klasse, bearbeitet von der Abt. Fernstudium des DPZI nach dem Manuskript von Walter Bartel, Berlin: Volk und Wissen Verlag 1955, S. 214.]

Das Zitat zeigt, was darunter verstanden wurde, wenn man sagte, der Faschismus sei mit der Wurzel ausgerottet. Die ökonomische Basis, der Staatsapparat, die Massenmedien waren denen entzogen, die sie aus Profitinteresse zu imperialistischer Expansion benutzen konnten und dafür Chauvinismus und Rassismus brauchten. Das heißt, beseitigt wurde das Bedürfnis für faschistische Ideologie und Praxis. Bei allem leider übertriebenen Optimismus in dem Zitat – es wurde nicht behauptet, faschistisches Denken sei aus den Köpfen verschwunden und existiere nicht mehr in der DDR, sondern, es könne nicht mehr virulent werden. Man zielte auf die politökonomischen (gesellschaftlichen) Wirkungsbedingungen der Ideologie, die real veränderbar waren. Das Denken in den Köpfen war es zumindest nicht so leicht. Informierten Marxisten war diese dialektische Beziehung zwischen Ideologie und Basis klar. Wenn Sie anderes in die Formel von der Wurzel hineinlegen, mißverstehen Sie sie (von anderer Seite wird sie auch bewußt verfälscht). Klar ist allerdings heute auch, daß man sich über die Möglichkeiten, das Fortleben faschistischer Ideologie „in den Köpfen“ zu verhindern, Illusionen gemacht hat, weil psychologische Fragen zu wenig beachtet wurden (ich erwähnte ja Christa Wolfs Buch bereits).

Ich möchte diesen Punkt damit schließen, daß sich Ideologie und ihre materiellen und strukturellen Wirkungsbedingungen in der Gesellschaft wie ein Paar Schuhe verhalten – beide sind nicht identisch, gehören aber zusammen, denn nur mit beiden kann man laufen. Daher ist es einfach unberechtigt und unsachlich, zu behaupten, der NS-Antisemitismus sei von der „ökonomischen Deutung des deutschen Faschismus überlagert“ worden. Faschismus ist eben beides – Ideologie und ihre praktische Umsetzung in der Gesellschaft. Bei der Bekämpfung des Faschismus muß man das beachten. In der DDR wurde das getan.

d) „Somit war es ein leichtes, die Globkes und Filbingers nur im Westen zu verorten, ohne über die eigene Integration von NS-Tätern zu sprechen.

Die Globkes und Filbingers waren nun einmal im Westen. Scharenweise sind die aktiven Nazis in den Westen gegangen [* Von 57 Angeklagten im Fall der Köpenicker Blutwoche waren 1950 24 in der BRD (G. Wieland, Der Jahrhundertprozeß von Nürnberg, Berlin 1986, S. 99).] (und von dort, wenn nötig und möglich, über Italien nach Südamerika). Mir scheint, Ihnen ist das ganze Ausmaß der Wiedereingliederung faschistischer Funktionsträger in der Adenauer-Zeit nicht klar. Ich verweise auf das entsprechende Braunbuch der DDR, von dem ein westdeutscher Autor kürzlich meinte, es sei sauber recherchiert gewesen, habe aber zwei Fehler gehabt: es war bei weitem nicht vollständig und sei von der DDR, also der falschen Seite gekommen und deshalb leichthin als Propaganda abgetan worden.

In der Publikation des Ausschusses für deutsche Einheit „Wir klagen an. 800 Nazi-Blutrichter – Stützen des Adenauer-Regimes“ (1959) wurden für die aufgelisteten ehemals an faschistischen Sonder- und Kriegsgerichten tätigen Richter und Staatsanwälte die von ihnen erwirkten Todesurteile, oft mit Urteilsgründen, und ihre Wiederverwendung im höheren westdeutschen Justizdienst belegt. Kommentar wohl unnötig.

Zur DDR: Wer ist mit den „eigenen Tätern“ gemeint? Was wird als Integration verstanden? Zunächst wurden alle staatlichen Verwaltungen von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und SA-Chargen gesäubert (für die Stendaler Stadtverwaltung zum Beispiel kann ich das im einzelnen belegen). Diesen Menschen, sofern sie keine Verbrechen begangen hatten, mußte in der Gesellschaft eine Überlebens- und Bewährungsmöglichkeit geschaffen werden. Das geschah stufenweise 1947/48 im Westen wie im Osten im Rahmen der Kontrollratsbeschlüsse und SMA-Befehle.

Beispiel 1: „Als wegen meiner Zugehörigkeit zur NSDAP aus dem Schuldienst entlassener akademischer Mittelschullehrer, Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft und ost-preußischer Umsiedler sammelte ich zum obigen Thema [die Überschrift des Leserbriefs lautet ‚Deklassierte’] während meiner über ein Jahr dauernden Tätigkeit als Arbeiter im Braunkohlenbergwerk reichliche Erfahrungen in Theorie und Praxis ... Während dem Kriegsverbrecher vom Gericht gesagt wird, wie lange er seine Schuld zu büßen hat, wird der kleine Pg. auf unbestimmte Zeit deklassiert. Daß dieser Zustand denkenden Menschen kaum erträglich ist, liegt auf der Hand.“ (Aus dem Leserbrief von Rudolf Rohrmoser, Borna, in: Aufbau 1/1948, S. 89 f. Der Schreiber distanziert sich im Brief vom Faschismus und bekundet seinen Willen, beim demokratischen Aufbau mitzuwirken).

Beispiel 2: Mein Onkel, Fleischermeister und Viehhändler, SA- (und wohl auch NSDAP-) Mitglied seit mindestens Anfang 1933, doch ohne justiziable Schuld). Er verlor seinen Betrieb, bekam aber die Möglichkeit, seine Fachkenntnisse im Viehhandel bei der Aufkauforganisation VEAB einzusetzen.

Aber die Integration dieser „kleinen Pg“ – immerhin Millionen, die ohne Perspektive in Krisenmomenten eine gefährliche Opposition gebildet hätten – werden Sie nicht gemeint haben? Dann die Fälle, wo es belasteten Nazis („Tätern“) wirklich gelang, ihre Identität zu verschleiern und die nach ihrer Entdeckung vor Gericht kamen. Die meinen Sie wohl auch nicht. Es bleiben also Fälle von Menschen, die wirklich oder angeblich sich von ihrer Vergangenheit im Dienst des Faschismus distanziert und sich verantwortlich am Neuaufbau nach 1945 beteiligt haben. Hier muß wirklich jeder Einzelfall gesondert betrachtet werden. Von denen, die mir bekannt wurden, sind wohl nur sehr wenige Fälle mit einigem Grund umstritten. Wenn Sie meinen, es handle sich um zahlreiche Fälle und um eine für die DDR typische Erscheinung, dann sollten Sie das belegen. Denn nach Quantität und inhaltlicher Gestaltung sind die Integrationsvorgänge von ehemals aktiven Nazis in BRD und DDR für mich nicht vergleichbar. In der DDR hatten diese keinerlei Möglichkeit – wenn sie es denn gewollt hätten – im Sinne ihrer Vergangenheit tätig zu werden. Man könnte fragen, ob die am Aufbau der bewaffneten Organe der DDR beteiligten höheren Offiziere, deren Namen ja bekannt sind, etwas vom militaristischen Geist der alten Armee in die neue hineingetragen haben. Das kann ich nicht beurteilen. Beantworten läßt sich diese Frage nur auf Grund spezieller Studien.

 

Literaturauswahl

1945–1960:

Günther Weisenborn, Die Illegalen (Schauspiel mit der Widmung „Niedergeschrieben als Denkmal der Schaffottfront“), Berlin: Aufbau Verlag 1946; Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein, 1947; Ernst Wiechert, Der Dichter und die Zeit. Rede in der Münchener Universität 1935, Weimar 1948 („Ja, es kann wohl sein, daß ein Volk aufhört, Recht und Unrecht zu unterscheiden, und daß jeder Kampf ihm ‚recht’ ist, aber dieses Volk steht schon auf einer jäh sich neigenden Ebene, und das Gesetz seines Unterganges ist ihm schon geschrieben.“).

Geheime Kommandosache. Aus den Dokumenten des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, Berlin: Kongreß-Verlag 1956 (die enthaltenen Dokumente belegen in aller Ausführlichkeit die Massenmorde an der Bevölkerung Polens und der UdSSR und die systematische Vernichtung der europäischen Juden im Rahmen der „Endlösung“).

1960–1980:

Jozef Lánik, Was Dante nicht sah, VdN, Berlin 1964 (über die Judenvernichtung in Auschwitz; Vf. gehörte zu den wenigen, die aus dem KZ fliehen konnten und noch vor 1945 darüber berichteten); F. K. Kaul/ J. Noack (Hrsg.), Angeklagter Nr. 6. Eine Auschwitz-Dokumentation, Berlin: Akademie-Verlag 1966; Günter Weisenborn, Memorial, Leipzig: Reclam 1966;

Wir schweigen nicht! Dokumentation über den antifaschistischen Kampf Münchner Studenten 1942/43, Berlin: Union Verlag 1967 od. 1968;

Kurt Finker, Stauffenberg und der 20. Juli 1944, Berlin: Union Verlag, 1972 od. 1973.

1980-1990:

Heinz Bergschicker, Deutsche Chronik 1933–1945. Bilder, Daten, Dokumente, Berlin: Verlag der Nation 1981. Unter anderem umfangreiche Dokumentation zu Verfolgung und Widerstand verschiedener Richtung, Judenverfolgung u. -vernichtung (Abschnitte „Endlösung der Judenfrage“, „Der KZ-Staat“, „Stärker als die Nacht“. Zahlreiche Dokumente u. über 1000 Dokumentarfotos (5 Auflagen).

Kurt Pätzold (Hrsg.), Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, Leipzig: Reclam 1984.

Günther Wieland, Der Jahrhundertprozeß von Nürnberg (Reihe Recht in unserer Zeit, H. 70), Berlin: Staatsverlag 1986. Darin außer konzentrierter Darstellung der Nürnberger Prozesse viele Angaben zur Verfolgung faschistischer Verbrechen in der DDR.

Siehe ferner die bereits im Text und den Fußnoten zitierte Literatur.

 

Mehr von Rolf Richter in den »Mitteilungen«: 

2007-06: Antisemitismus in der DDR – Eine Ausstellung und ihre Zwecke