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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zum Gedenken an den Revolutionär Deng Xiaoping (1904-1997)

Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam

 

Vor fünfundzwanzig Jahren, am 19. Februar 1997, starb 92-jährig der chinesische Revolutionär und Staatsmann Deng Xiaoping. Wie kein anderer nach Mao Zedong (1893-1976) hat er der Entwicklung der VR China seinen Stempel aufgedrückt und damit die Welt in Atem gehalten. Begonnen hat das im Dezember 1978 mit dem 3. Plenum des 11. Zentralkomitees der KP Chinas – der Gongchandang –, auf dem das Programm der »Vier Modernisierungen« zur alles übergreifenden Hauptaufgabe erklärt wurde. Von dieser Zeit an bis zu seinem Tode war er – obwohl er nie das Amt des Parteivorsitzenden, des Staatspräsidenten oder des Premierministers bekleidete – die entscheidende Führungspersönlichkeit der Volksrepublik. Seine große, im Grunde nie mehr bestrittene Autorität erwuchs – mit historischem Abstand wird das immer klarer – daraus, dass er in unvergleichlicher Weise die ganze widerspruchsvolle Geschichte der Gongchandang in sich trug und es vermochte, das darin enthaltene scheinbar Unvereinbare doch miteinander zu vereinbaren, und zwar unter dem alles überwölbenden Dach der noch immer nicht abgeschlossenen nationalen Befreiungsrevolution. Damit gab er vielen Millionen Parteimitgliedern die Kraft, den Weg einer grundlegenden Partei- und Staatsreform zu gehen, ohne ihre Ideale gänzlich über Bord werfen oder sich selbst verraten zu müssen, und daraus erwuchs – die ganze Weltöffentlichkeit ist Zeuge – die Kraft zu jenem großen gesellschaftlichen Aufbruch und ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung, mit dem China innerhalb von nur vierzig Jahren zur Weltmacht aufstieg.

Politisches Hauptziel: Wirtschaftsaufschwung

Die »Vier Modernisierungen« – das meinte die Modernisierung der Landwirtschaft, der Industrie, der Verteidigung und der Wissenschaft und Technik. Also die Modernisierung der ganzen Gesellschaft, aber auf eine für die chinesische Denkweise typische, für den Westen oft ungewohnte – und darum häufig, aber völlig zu Unrecht belächelte – Formel gebracht. »Sige xiandaihua« hieß die im Original, und was sie versprach, war nichts Geringeres als die radikale Abkehr vom »Großen Sprung« der Jahre 1958-1961 und von der »Großen proletarischen Kulturrevolution« 1966-1976 als Voraussetzung für einen Kurs der ökonomischen Entwicklung, der dem Hunger endgültig ein Ende bereitete, der Bevölkerung zu einem bis dahin nicht gekannten Wohlstand verhalf und das Land aus der internationalen Isolation herausführte.

Deng war sich der Gewaltigkeit dieses Vorhabens sehr bewusst. Viel zu eng war er mit der Geschichte der Partei verwoben, viel zu oft hatte er Erfolg und Misserfolg, Würdigung und Zurückstoßung erfahren, um nicht zu wissen, wie viel Kampf es kosten würde, die neue Linie durchzusetzen. In den 1920er Jahren hatte er gemeinsam mit den späteren Parteiführern Zhou Enlai und Zhu De zu jenen chinesischen Arbeiterstudenten gehört, die in Frankreich – und auch in Deutschland – Bekanntschaft mit modernen Industriegesellschaften machten. Diese internationale Erfahrung kam ihm lebenslang zugute, war aber für Mao, der solche Auslandsaufenthalte nicht erlebt hatte und all seine Kraft aus der inneren chinesischen Entwicklung zog, zugleich auch ein Grund für Misstrauen und Ablehnung.

Dennoch verbanden sich ihre Wege schnell. Von 1931 bis 1934 arbeiteten Mao und Deng im »Sowjetgebiet« in der Grenzregion der Provinzen Jiangxi und Fujian in Südostchina zusammen, 1934/35 waren sie gemeinsam auf dem »Langen Marsch«, mit dem sich die Gongchandang und die von ihr geführte Armee dem Zugriff durch die von Jiang Jieshi (Tschiang Kaischek) geführten Truppen der Guomindang entzogen und von Jiangxi bis nach Yan’an im mittleren Nordchina marschierten, und im antijapanischen Widerstandskrieg 1937-1945 und im darauffolgenden Bürgerkrieg mit der Guomindang (bis 1949) erwarb sich Deng als Politischer Kommissar in der 8. Marscharmee an der Seite des legendären Generals Liu Bocheng nachhaltige Anerkennung. Nach der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 war er zunächst Parteisekretär Südwestchinas, dann in Beijing Finanzminister, stellvertretender Premierminister und Generalsekretär des ZK.

Seine Fähigkeiten zur Wirtschaftsführung stellte er unter Beweis, als er nach dem Scheitern des »Großen Sprungs« gemeinsam mit Liu Shaoqi – seit1959 Vorsitzender der VR China – Maßnahmen zur wirtschaftlichen Konsolidierung leitete. Das jedoch brachte ihn in der »Kulturrevolution«, in der Mao gegen Liu zu Felde zog, diesen zum »Feind« stempelte und schließlich der Verfolgung und Ermordung preisgab, in größte Gefahr. Auch er wurde – wie Liu – bezichtigt, »den kapitalistischen Weg zu beschreiten«, und aus allen Ämtern verjagt. Allerdings wurde er nicht verhaftet, sondern »nur« in die Provinz Jiangxi verbannt, wo er von Gleichgesinnten vor den aufgewiegelten Rotgardlern geschützt wurde. 1973 rehabilitiert und in die Hauptstadt zurückgeholt, verlor er 1976 unter dem Einfluss der »Viererbande« seine Ämter erneut, aber nach dem Tode Maos am 9. September 1976 kehrte er ein weiteres Mal zurück und bereitete nun – unterstützt von Vielen, die seine Ansichten und Pläne seit langem teilten – mit großer Intensität das dann berühmt werdende 3. Plenum vor.

Einen guten Einblick in sein Denken und Herangehen in dieser Zeit gibt der folgende Auszug aus einer Rede vor Armeekadern am 2. Juni 1978: »Unsere revolutionären Lehrer Marx, Lenin und Genosse Mao betonten stets die Bedeutung der konkreten historischen Bedingungen und der Notwendigkeit, diese sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart zu studieren, um auf diese Weise objektive Gesetze zu ermitteln, die uns helfen, die Revolution zu führen. Die neuen historischen Bedingungen zu ignorieren heißt, die Dinge von ihrem historischen Kontext zu lösen, sich selbst von der Realität abzuschneiden und die Dialektik zugunsten der Metaphysik aufzugeben.« Und weiter: »Wenn wir darüber diskutieren, dass wir die Wahrheit in den Tatsachen suchen sollen und in der neuen Phase der Entwicklung und den neuen historischen Bedingungen, dann sollten wir auch die Frage von Destruktion und Konstruktion diskutieren. Im Moment – und für einige Zeit in der Zukunft – bedeutet ›Destruktion‹, die Viererbande und zugleich Lin Biao in einer solchen Weise bloßzustellen und in die Tiefe gehend zu kritisieren, dass es gelingt, ihren verderblichen Einfluss zu eliminieren. ›Konstruktion‹ hingegen meint, die Mao-Zedong-Ideen genau und als ein integrales Ganzes zu verstehen und – unter den neuen historischen Bedingungen – die guten Traditionen und den Arbeitsstil unserer Partei und Armee fortzusetzen.« [1] Auf einer weiteren Vorbereitungskonferenz fordert er unter der Überschrift »Das Denken emanzipieren, die Wahrheit in den Tatsachen suchen und vereint in die Zukunft schauen«: »Wir müssen den Marxismus-Leninismus und die Mao-Zedong-Ideen studieren und versuchen, die universellen Prinzipen des Marxismus mit der konkreten Praxis unserer Modernisierung zu verbinden.«[2]

Stärkung der Partei durch Debatte um die eigene Geschichte

Mit solchen Auftritten schuf Deng die Grundlagen dafür, dass die Gongchandang eine in der Geschichte der kommunistischen Bewegung einzigartige Debatte über ihre eigene Geschichte in Gang zu setzen vermochte. »Entstalinisierung in Russland« – schreibt im Jahre 2010 Perry Anderson in einer vergleichenden Betrachtung unter der Überschrift »Zwei Revolutionen« –, »war der sensationelle, aber heimliche Akt eines einzelnen Führers, Chruschtschow«. Der habe »den 20. Kongress seiner Partei mit einer die Verbrechen Stalins anprangernden Rede überrascht«, bei deren Erarbeitung er sich »mit niemand konsultiert« habe, und sie sei dann auch in der Parteigeschichte völlig allein stehen geblieben. Es seien auf sie – bis es sich »in den Tagen der Perestroika« grundsätzlich änderte – »keinerlei substantielle Dokumentationen oder Analysen der damaligen oder späteren Parteiführungen« gefolgt. »Deng und seine Kollegen« hingegen – so Anderson weiter – »gingen ganz anders vor. Rund 4000 Parteifunktionäre und Historiker wurden in eine Rückschau auf die Kulturrevolution eingebunden, und aus den Diskussionen heraus entwickelte eine Redaktionsgruppe von 20-40 Leuten unter Dengs Leitung ein 35.000-Wörter-Dokument, das dann im Juni 1981 als Resolution des Zentralkomitees in aller Form angenommen wurde.« Anders als bei Chruschtschow habe »die Resolution die Mitverantwortung des Zentralkomitees für die Herrschaft des modernen Autokraten anerkannt« und zugleich »keinen Versuch unternommen, dessen Beitrag zur chinesischen Revolution als Ganzes kleinzureden.« [3]

Die Resolution von 1981 ist bis heute als Leitfaden der Politik und des Selbstverständnisses der Gongchandang klar erkennbar. »Die mit dem Marxismus-Leninismus und den Mao-Zedong-Ideen herangebildeten Parteiführer und zahlreichen Kader« – so heißt es da – »bildeten das Rückgrat unserer Erfolge in der Vergangenheit« und »bleiben unsere wertvolle Stütze bei der sozialistischen Modernisierung« [4]; »alle Parteimitglieder, insbesondere die Offiziellen auf allen Ebenen, müssen sich« – so betont Partei- und Staatschef Xi Jinping etwa am 4. Mai 2018 aus Anlass des einen Tag später begangenen 200. Geburtstages von Karl Marx – »gründlicher mit dem Studium des Marxismus-Leninismus, der Mao-Zedong-Ideen, der Theorie von Deng Xiaoping, der Theorie der Drei Vertretungen, der wissenschaftlichen Auffassung von der Entwicklung und der Idee vom Sozialismus chinesischer Prägung für die neue Epoche befassen.« [5]

Zum Abschluss sei unser mit China bestens vertraut gewesener Genosse Theo Bergmann (1916-2017) zitiert: Dengs Schriften und Reden, schreibt er 1996, zeigten »ein uneingeschränktes Bekenntnis zum Marxismus und zur Fortsetzung und Sicherung der kommunistischen Regierung.« Dabei verstehe Deng »marxistische Praxis ganz anders als Stalin und Mao« und meine, »der Sozialismus müsse seine Überlegenheit so beweisen, dass er die Menschen überzeugt.« [6] Wirtschaftliche und politische Reformen habe er immer als zusammengehörig betrachtet, aber dennoch einen »Vorrang« der ersteren betont in dem Sinne, »dass man nach der Revolution vor allem die Produktivkräfte befreien muss«, womit er eine entschiedene Abkehr von »Stalins und Maos Diktum von der Verschärfung des Klassenkampfes« vollzogen habe. [7]

Wer Chinas Weg verstehen will, kommt an Deng Xiaoping – dem nur 1,50 m großen Revolutionär aus der Gemeinde Xiexing in der südwestchinesischen Provinz Sichuan – nicht vorbei.

 

Anmerkungen:

[1]  Deng Xiaoping, Selected Works (1975-1982), Beijing 1984, S. 135. – Als »Viererbande« wurde eine Gruppe von Spitzenfunktionären der Gongchandang bezeichnet, die – aus Jiang Qing (Maos Ehefrau), Zhang Chunqiao, Yao Wenyuan und Wang Hongwen bestehend – 1975/76 versuchte, die Macht an sich zu reißen und die Politik der »Kulturrevolution« fortzusetzen. Sie stand – darin lange von Mao unterstützt – entschieden gegen Reformanstrengungen, wie sie Liu Shaoqi, Zhou Enlai und Deng Xiaoping unternommen hatten. Lin Biao (1907-1971) war im antijapanischen Befreiungskrieg 1937-1945 und im Bürgerkrieg 1946-1949 einer der erfolgreichsten Armeebefehlshaber und engsten Vertrauten Maos, wurde von ihm 1969 zu seinem Nachfolger ernannt und kam am 13.9.1971 bei einem bis heute nicht vollständig aufgeklärten Flugzeugabsturz in der mongolischen Wüste ums Leben. Die Benennung dieser Personen als Ziel der von ihm gemeinten »Destruktion« verdeutlicht Dengs Bestreben, Mao selbst in der Kritik an der »Kulturrevolution« einen Sonderplatz zuzuweisen und ihn so für die Gesamtgeschichte der Partei als »zu 70 Prozent positiv« zu bewahren.

[2]  Ebd., S. 165.

[3]  Perry Anderson, Two Revolutions. Rough Notes, in: New Left Review, London, Nr. 61 (Jan/Feb 2010), S. 59-98, hier: S. 82f. – Zur Einschränkung dieser Einschätzung siehe Fußnote 1.

[4]  Resolution über einige Fragen in unserer Parteigeschichte seit Gründung der Volksrepublik China (angenommen von der 6. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas am 27. Juni 1981), in: Resolution über einige Fragen zur Geschichte der KP Chinas seit 1949, Beijing 1981, S. 1-98, hier: S. 81.

[5]  Xi Jinping, The Governance of China, Bd. III, Beijing 2020, S. 96.

[6]  Theo Bergmann, Auf dem langen Marsch. Chinas Weg in die sozialistische Marktwirtschaft, Hamburg 1996, S. 84.

[7]  Ebenda, S. 85. – Weiteres zu Deng Xiaoping siehe auch in: Wolfram Adolphi, Deng Xiaoping: Reformer? Revolutionär!, in: Wladislaw Hedeler, Mario Keßler (Hrsg.), Reformen und Reformer im Kommunismus. Für Theo Bergmann. Eine Würdigung, Hamburg 2015, S. 410-426.

 

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