Zum Arbeitspapier der »Amazonien-Synode« in Rom (Teil 1)
Prof. Dr. Gerhard Oberkofler, Innsbruck
»Zur Wahrheit gehört nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muß selber wahr sein ...« – Karl Marx (1818-1883)
Vom 6. bis 27. Oktober 2019 findet in Rom die von Papst Franziskus einberufene »Amazonien-Synode« statt. Es sollen Antworten der römisch-katholischen Kirche auf die riesigen sozialen und ökologischen Probleme von Amazonien gefunden werden. Diskussionsgrundlage ist das von ausgewählten Theologen erarbeitete Arbeitspapier »Amazonien. Neue Wege für die Kirche und für eine ganzheitliche Ökologie. Instrumentum Laboris«. (Instrumentum Laboris, 2019).
Amazonien umfasst etwa 7,5 Millionen Quadratkilometer der nördlichen Hälfte von Südamerika. Von den etwa 22 Millionen Menschen in der Region Amazonien, das sich über neun Länder (Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Guayana, Peru, Surinam, Venezuela und Französisch Guayana) erstreckt, gehören annähernd drei Millionen indigene Menschen. Allein im brasilianischen Teil von Amazonien leben etwa 150 verschiedene indigene Völker, von denen einige mit unserer Zivilisation noch gar nicht in Berührung gekommen. Amazonien ist heute nicht mehr von einer »Chinesischen Mauer« umgeben. Bereits 1946 schreibt Max Frisch (1911-1991), der Globus sei »ausgemessen ein für alle Mal, eine Kugel, die handlich auf dem Schreibtisch steht: ohne die Räume der Hoffnung«. (Frisch, 1946). Amazonien ist »ausgemessen«, die riesigen Waldgebiete sind zu einer »Maschine zum Geldschlagen« (Marx, 1847) geworden und werden mit ihren Ureinwohnern durch Gier und Gewalt geschändet.
Mörderische Vergangenheiten
Die Vergangenheiten der römisch katholischen Kirche sind mit ihrer insbesondere in Wendezeiten der Geschichte praktizierten »Theologie der Unterdrückung« reale Ketten, in die sie gefangen gehalten werden kann. In Lateinamerika war die Kirche Komplize der Kolonisatoren und »diese Komplizenschaft hat die prophetische Stimme des Evangeliums erstickt« (Instrumentum Laboris). Es gab in der lateinamerikanischen Kirche Ausnahmen von christlich denkende Erneuerer und Nonkonformisten, viel zu wenige, aber es gab sie. Als Prophet und Befreiungstheologe hat sich der Dominikaner und Bischof Bartolomé de las Casas (1474-1566) für die Indianer eingesetzt. (Grigulewitsch, 1976). Die Schriften von Las Casas waren im Spanien des mörderischen Francoregimes, das Papst Benedikt XVI. durch Seligsprechung von Faschistenpriestern noch im Nachhinein hofiert hat, verboten. Las Casas hat drei Jahrhunderte vor Marx die Dialektik von Herren und Sklaven begriffen! Er berichtet authentisch, wie 1512 der Kazike Hatuey vor seiner Verbrennung von einem Franziskanermönch gefragt wurde, ob er sich taufen lassen wolle, um in den »Himmel« zu kommen. Hatuey fragte zurück, ob denn dort Christen seien. Der Franziskaner bejahte, worauf Hatuey erwiderte, er wolle lieber in die »Hölle«, weil er im »Himmel« nicht derart grausame Menschen wie die eben von den Spaniern repräsentierten Christen sehen wolle. In seinem Testament schreibt Las Casas: »Gott hat mich ohne meine Verdienste als seinen Diener auserwählen wollen, um einzutreten für diese vielen Völker und Menschen, die wir Indios nennen [...], um sie zu befreien vom grausamen Morden, das ihnen angetan wird«. (Enrique Dussel, 1979). Geistliche wie Alonso de Sandoval SJ (1576-1652) oder der als »Apostel der Sklaven« geltenden Petrus Claver SJ (1580-1654), die sich an die Seite der Sklaven und Indigenen stellten, waren viel zu wenige und mussten immer mit dem Märtyrertod rechnen. Die Spanier, seit Jahrhunderten kriegserfahren und mit ihren Waffen den Eingeborenen weit überlegen, verübten einen an Grausamkeiten nicht zu übertreffenden Völkermord.
Die historische Periode der Conquista, des Kolonialismus und des Feudalismus wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts abgelöst von der Periode der formal unabhängigen lateinamerikanischen Nationen. Noch Papst Pius VII. (1742/1800-1823) hat in einer Enzyklika (1816) die Unabhängigkeitsbestrebungen der Völker Lateinamerikas verurteilt. Die Entwicklung des einheimischen Kapitalismus in Lateinamerika ist seither von den Interessen der offensiv imperialistischen Staaten, insbesondere der USA, geprägt. Der landwirtschaftliche Boden der Entwicklungsländer ist in Lateinamerika und Afrika auf Kosten der kleinbäuerlichen Bevölkerung überhaupt zu einem Investmentprojekt der Reichen geworden. Die Dimensionen sind riesig und dennoch vergleichbar mit jenen vergleichbar, die sich aus der Industrialisierung des verhältnismäßig großen Ruhrgebietes ergeben haben. Dort haben dank der großen Steinkohlevorkommen die Thyssen & Krupp & etc. seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Reichtum ohne jede Rücksicht auf Generationen der einheimischen Bevölkerung des Ruhrgebietes angehäuft. Jura Soyfer hat in der österreichischen Arbeiter-Zeitung (2. September 1932) vom »Reich der Deutschen Schlotbarone« geschrieben: »Nur hundertfünfzig Kilometer von hier entfernt rauscht der Atlantische Ozean. Das zeigt die Landkarte; aber man ist wenig geneigt, der Landkarte Glauben zu schenken. Hundert Kilometer nördlich erstrecken sich die Weideflächen Oldenburgs. Aber das satte Grün der Wiesen scheint hier ebenso um Welten entrückt zu sein wie die salzige Luft der Nordsee. Im Ruhrgebiet, vom deutschen Volk ›Kohlenpott‹ genannt, sind Rasenflächen Überbleibsel einer Natur, die längst nichts mehr zu suchen hat unter Fördertürmen und Werkwohnungen, unter Schutthalden, Kohlenseilbahnen und Kokereien. … Der ›Verein für Bergbauliche Interessen‹, die großmächtige Arbeitergeberorganisation, sitzt in dieser Stadt [Essen]. Auf den Schreibtischen ihrer superklugen und hochbezahlten Syndici werden die Schlachtpläne für die Generalangriffe gegen die Rechte der Arbeiter ausgearbeitet. […] Sie sind sehr lebendig im Ruhrgebiet, die toten Zehntausenderzahlen der Statistiken! Sie stehen nicht nur auf dem Papier, sie stehen in den endlosen Straßen der grenzenlosen Städte, an den Stempelstellen, sie schreiben das Menetekel dieser Gesellschaftsordnung mit grellweißen Lettern an die Wand«.
Theologie der Befreiung
Der Sieg der kubanischen Revolution mit Fidel Castro (1926-2016) bedeutete seit 1959 für die reiche katholische Kirche in ganz Lateinamerika eine riesige, aber fruchtbare Herausforderung. Kuba war Agrarland mit überwiegend bäuerlicher Bevölkerung, nach dem Sieg der Revolution wurde schon im Mai 1959 die erste Agrarreform durchgesetzt. Ausländischer und kubanischer Großgrundbesitz über 400 ha wurde enteignet, die Entschädigung der Besitzer erfolgte mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren gemäß der Steuererklärung. Rund 100.000 Landarbeiter bekamen ein Stück Land, von dem sie leben konnten. So konnte sich die kubanische Revolution auf die Kleinbauern stützen mit allen Problemen, die damit verbunden waren und auf die schon Friedrich Engels (1820-1895) (Engels, 1894), aber auch der große revolutionäre Stratege Mao Tse-tung (1893-1976) (Mao, 1968), aufmerksam gemacht hat. Castro hat als Marxist, wie in seinen Gesprächen mit Frei Betto deutlich wird, große Achtung vor Gläubigen gehabt, insgesamt kannte der revolutionäre Marxismus in Lateinamerika keine Christenfeindlichkeit (Frei Betto / Fidel Castro 1986). Die alte Kolonialkirche Kubas begann »in einer neuen Epoche des christlichen Glaubens« zu leben (Casaldáliga, 1989).
Das II. Vatikanischen Konzil mit Papst Johannes XXIII. (1881/1958-1963) und Paul VI. (1897/1963-1978) hat auf diese Entwicklung fortschrittlich reagiert und die bisherige vatikanische Verurteilung von gemeinschaftlicher Volksprozessen gelockert. Der »Katakombenpakt« (1965), unterschrieben von 57 Konzilsbischöfen, will, dass die Kirche als dienende Kirche die »Option für die Armen« wahrnimmt (Arntz, 2015). Für Jon Sobrino SJ wird die sich daraus entwickelnde »Theologie der Befreiung« die historisch konkrete Verwirklichung der Nachfolge von Jesus, »weil es nicht um irgendein Folgen geht, sondern darum, das Leben Jesu zugunsten der Opfer und gegen deren Henker neu hervorzubringen«. (Sobrino SJ, 2008). Die Dokumente von Medellín (1968) mit ihrem öffentlichen Schuldbekenntnis, die Entwicklung des in seinen Anfängen konservativen Erzbischofs Óscar Romero (1917-1980) zum »Propheten einer Kirche der Armen« (Maier SJ, 2015), als welcher er ermordet wurde, und Puebla (1979) mit der »Entscheidung für die Armen« sind ohne den revolutionären Einfluss aus Kuba so nicht denkbar. 1983 eröffnete die brasilianische katholische Kirche mit Erzbischof Helder Câmara (1909-1999) eine Kampagne »Brüderlichkeit«, die sich für die Unterdrückten und Entrechteten und gegen jede Form der Rassendiskriminierung einsetzte. Papst Johannes Paul II. (1920/1978-2005) und sein deutscher Nachfolger Benedikt XVI. sahen sich dagegen bei allen Widersprüchen für die »Zivilisation des Reichtums«, von der ihre korrumpierte Kirche profitierten, verantwortlich. Beide drangsalierten im Bündnis mit dem Pentagon die sich in Lateinamerika festigende »Theologie der Befreiung« auf. Das nimmt bei Johannes Paul II. mehr Wunder als beim deutschen Papst, wenn in Erinnerung kommt, dass er sich bis zuletzt dem Irakkrieg widersetzt hat. Im Arbeitspapier gelten beide Päpste als Autoritäten, während die Theologen der Befreiung der damnatio memoriae anheimfallen. Von diesen sind vor dreißig Jahren in El Salvador Ignacio Ellacuría SJ (1930-1989), Ignacio Martín-Baró SJ (1942-1989), Segundo Montes Mozo SJ (1933-1989), Amando López Quintana SJ (1936-1989), Juan Ramón Moreno Pardo SJ (1933-1989) und Joaquín López y López SJ (1918-1989) von US-Henkersknechten als »Kommunisten« ermordet worden (16. November 1989).
Theologie der Erde
Als ein Zweig der kaum noch existenten und von der europäischen Theologie des Opportunismus randständig behandelten »Theologie der Befreiung« ist die »Theologie der Erde« einzuschätzen. Sie ist in Lateinamerika seit den 1980er Jahre auf der Suche nach Alternativen im Umfeld des damaligen Jesuitenprovinzials Jorge Mario Bergoglio SJ, seit 2013 Papst Franziskus, entwickelt worden. Der brasilianische Benediktiner Marcelo de Barros Souza und der argentinische, seinen Provinzial herausfordernde Jesuit José Luis Caravias SJ, der im Chacogebiet eine Gewerkschaft der Holzfäller gegründet hat, haben diese »Theologie der Erde« im deutschen Sprachraum bekannt zu machen versucht (de Barros Souza / Caravias 1990). Der für Christen verständliche Wunsch nach Spiritualität und innerlicher Brüderlichkeit wird verbunden mit der zum Handeln antreibenden Einsicht, dass Reichtum und Armut in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Für Barros OSB und Caravias SJ ist der Glaube eine konkrete Sache und sie erinnern an Che Guevara (1928-1967), der die Tapferkeit der Revolutionäre mit ihrer Zärtlichkeit verbindet, mit Liebe zu kämpfen aufrief. Sie beschreiben die Konzentration von Agrarflächen durch riesige Monopole auf Kosten der mit Hilfe von Paramilitärs vertriebenen kleinbäuerlichen Landfamilien, die an den Randzonen der Großstädte ums nackte Überleben kämpfen. Ihre »Theologie der Erde« inspiriert Papst Franziskus bei seiner Forderung nach einer »ganzheitlichen Umkehr« hin zum Menschen als Teil der Natur. Es gelte »die persönliche und gesellschaftliche Komplizenschaft mit den Strukturen der Sünde zu erkennen«, Informationen zu demaskieren, »die eine despotische Herrschaft über die Ortsansässigen ausüben und den Schmerzensschrei der Erde und der Armen ignorieren« (Instrumentum und Laudato Si).
Die Fortsetzung mit Teil 2, einschließlich der Liste der zitierten und verwendeten Literatur, folgt.
Siehe zum Thema auch Gerhard Oberkoflers Beitrag in jW vom 30. August 2019, Seite 10: Wenn kein anderer Ausweg bleibt. Von der befreienden Gewalt der Volksmassen: Zur bevorstehenden »Amazonien-Synode« im Vatikan.
Mehr von Gerhard Oberkofler in den »Mitteilungen«:
2019-06: Kosovojesuiten
2017-12: Eine Erinnerung an Camilo Torres Restrepo aus Anlass der Reise von Papst Franziskus nach Kolumbien
2015-02: Nach Zerstörung folgt Missionierung